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Die Wirklichkeit
ОглавлениеAnfang 1932 wurde Vater zum Justizminister bestellt, zum jüngsten in der Geschichte Österreichs, und wir übersiedelten nach Wien. Eine neue Stadt, eine neue Wohnung, eine neue Schule und neue Freunde, hier fing mein Leben richtig an.
Die wesentlichsten Ziele der neuen Regierung waren ein ausgeglichener Budgethaushalt, die Verringerung der Arbeitslosigkeit und der Wiederaufbau der Wirtschaft. Als Folge der Weltwirtschaftskrise war Österreichs führende Bank, die Creditanstalt, 1931 in Konkursgefahr geraten und mußte durch eine Staatshaftung aufgefangen werden. Ein für das Land überlebenswichtiger Völkerbund-Kredit wurde gegen den heftigen Widerstand der politischen Linken durchgesetzt. Die Reaktionen selbst gemäßigter deutscher Blätter wie der »Frankfurter Zeitung«, die von einem »Diktat von Lausanne« schrieben, trugen naturgemäß kaum zur Beruhigung der öffentlichen Meinung bei.
Waren organisierte Störungen des Alltagslebens schon zur Routine geworden, so steigerten sich 1932 solche Unruhen in besorgniserregendem Ausmaß. Scharmützel zwischen der rechtsgerichteten Heimwehr und dem linken Schutzbund trugen dazu ebenso bei wie das Aufkommen des österreichischen Ablegers der NSDAP. Deren Anhänger begannen um diese Zeit ihr Hauptaugenmerk auf die jüdische Bevölkerung zu richten. In der Weihnachtszeit 1932 wurden »jüdische« Kaufhäuser Opfer von Tränengasattacken. Immer öfter prangten NSDAP-Symbole als Graffiti auf Hausfassaden, Gehsteigen, Brücken und Parkbänken. Das Hakenkreuz wurde geradezu allgegenwärtig.
Unser Privatleben normalisierte sich insofern, als wir wieder zusammen waren. Die Wohnung in der Mariahilfer Straße war nicht weit von Papas Büro am Minoritenplatz entfernt, ein angenehmer, viertelstündiger Spaziergang oder bei Regen eine kurze Fahrt mit der Straßenbahn. Mutter schien glücklich in der Großstadt und lebte sich rasch ein. Meine Erziehung verlief auf zwei Schienen, in einer öffentlichen Knabenschule des Katholischen Schulvereins und in der Tanzschule Elmayer.
In der Schule, wir waren zwanzig in meiner Klasse, machte man uns deutlich, daß wir zum Lernen hierwaren. Als Neuzugang, und noch dazu eher schüchtern, zögerte ich, Fragen zu stellen. Die einheimischen Buben waren für mich erschreckend selbständig. Nachdem ich wußte, daß sie mich nicht auslachen würde, fragte ich meine Mutter um Rat.
»Ein Bub hat mich gefragt, ob ich Katholik, Protestant oder Jude bin.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich war mir nicht sicher, also hab ich nur gesagt: ›Ich bin Tiroler.‹ War das falsch?«
Ihre Antwort war netter und ausführlicher als der kurze Kommentar der Mutter des anderen Buben: »Provinzler«.
»Der Elmayer« bemühte sich zu verhindern, daß wir zu gesellschaftlichen Witzfiguren würden. Rittmeister Wilhelm Elmayer hatte die Schule für Unterweisung in Tanz und gutem Benehmen nach dem Ersten Weltkrieg gegründet. Der beeindruckende Kavallerieoffizier war von der Front mit einem steifen Bein zurückgekommen. Sein goldbesetzter Stock betonte noch, als ob es notwendig gewesen wäre, die monokel-bewehrte Autorität. Offensichtlich war mit dem Herrn Rittmeister nicht gut Kirschen essen. »Onkel Willys« Manieren und sein Auftreten zeugten von Stil in jeder Lebenslage, vom Scheitel des perfekt gekämmten, dünner werdenden braunen Haares bis zur Sohle seiner stets polierten, handgemachten Schuhe.
Elmayer-Kurse waren in Altersklassen aufgeteilt. Wir Sechsjährigen wurden einer kleinen Gruppe von Damen anvertraut, die für die Durchsetzung von Onkel Willys Lehrplan zuständig war. Manchmal unterrichtete er uns auch selbst, aber nur diejenigen, die er persönlich auswählte. Unter seiner Anleitung wurde perfektes Verhalten erwartet. Er kombinierte militärische Disziplin mit dem Blick eines Scharfschützen, dem nichts entging. Ein falscher Schritt bei einem Menuett, ein Stolpern über die eigenen Füße oder, schlimmer, über die der Partnerin, die geringste Unaufmerksamkeit, und schon mußte man in der Ecke stehen, mit Blick auf die Wand. Diese besondere Art der erhöhten Aufmerksamkeit dauerte vier bis fünf Minuten, und früher oder später besuchte jeder die Ecken des Salons in der Bräunerstraße. Aber der gestrenge Onkel Willy konnte auch nett sein. Wir fanden ihn alle großartig. Unser Erfolg als Elmayer-Schüler war die treibende Kraft in seinem Leben.
Manchmal wurden Schüler ausgewählt, um an Theater- oder karitativen Auftritten mitzuwirken. Besonders diesen schenkte Onkel Willy sein Talent und seine Zeit. Er hielt solche Aktivitäten für notwendig, um an »Präsenz« zu gewinnen. Manchmal mußten wir in Biedermeierkostümen herumstiefeln, doch meistens spielten wir einen Teil einer Schneeflocke, einen Busch oder ähnlich Harmloses. Wir nahmen das überaus ernst, alles andere wäre ein Verrat an Onkel Willys Lehren gewesen. Keiner von uns ließ zu, daß auch nur ein Blatt sich vom Kostüm löste. Während einer Aufführung versuchte ein Neuling neben mir, heldenhaft ein Niesen zu unterdrücken, hielt den Atem an, bis sein Gesicht knallrot wurde und seine Augen durch die ziegeldicke Brille zu stoßen drohten. Nach ein paar Sekunden schüttelte es ihn, und die Brille fiel von seiner Stupsnase auf die Bühne. In einer fließenden Bewegung bückte er sich nach seiner Brille, trat dabei aber darauf und zerbrach sie. Und Onkel Willy? Onkel Willy war begeistert.
Die Gespräche der Erwachsenen wurden von nur einem Thema beherrscht, dem beunruhigenden Wachstum der NSDAP in Österreich. Schon Ende 1932 waren die Auswirkungen bereits auf der Straße spürbar. Öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte oder Kinos wurden von Nazidemonstranten gestört. Gruppen von Nazis versperrten die Ein- und Ausgänge der Universität Wien, bis die Polizei die Ordnung wiederherstellte.
Im März 1932 erschreckte die Entführung des Sohnes des amerikanischen Fliegers Charles Lindbergh die gesamte zivilisierte Welt. Nicht nur amerikanische Publikationen, auch alle europäischen berichteten in allen Details über das »Lindbergh Baby«, und alle Eltern waren entsetzt. Das sollte auch für mich Konsequenzen haben. Fortan hatte ich nicht nur mein Kinderfräulein, sondern auch einen Polizeibeamten in Zivil als Dauerbegleiter. Auch wenn dieser drei Meter hinter mir ging, war er so unauffällig wie eine ganze Rinderherde. Noch peinlicher war, daß er während des Unterrichts auf dem Gang vor meiner Klasse sitzen mußte. Ich flehte wochenlang, von dieser Qual erlöst zu werden, und stellte schließlich fest, daß das nicht mehr auszuhalten war. Daß Vater in der Öffentlichkeit stand, war mir egal, und daß es Unruhen auf den Straßen Wiens gab, erst recht. Meinen Eltern erklärte ich, es lieber mit einem Kidnapper aufnehmen zu wollen, als noch einen Tag diese Peinlichkeit zu ertragen. Die Sticheleien meiner Klassenkollegen waren einfach zuviel. Ich stampfte mit dem Fuß auf, um deutlich zu machen, daß es mir ernst war. Die Reaktion meines Vaters: »Was fällt dir ein, vor deiner Mutter mit dem Fuß zu stampfen!« Nachdem ich alles aufgeboten hatte, schwieg ich. Eine Art wortloser Kommunikation schien zwischen meinen Eltern stattzufinden, und schließlich gaben sie nach.
Am nächsten Tag ging ich mit einem außergewöhnlichen Gefühl von Befreiung und Leichtigkeit in die Schule, ohne über meine Schulter schauen zu müssen. Ich grüßte meinen Freund Peter Mayer und erzählte ihm sofort die guten Neuigkeiten. Er sah mich erstaunt an. Dann hob er den Kopf und drehte die Augen seitwärts. »Wenn das so ist, dann hat der einen Zwilling.« Ich drehte mich schnell um und sah ihn keine zehn Meter weit weg. Er hatte eine Zeitung vor dem Gesicht, aber auch wenn ihn das kurzfristig verdeckte, waren der karierte Anzug, die Melone und die braunen Schuhe das untrügliche Zeichen des Staatspolizisten. Mir fiel nichts mehr ein. Hatte der Mann es vergessen? Hatte man ihm nicht gesagt, daß er mir nicht mehr folgen sollte? Mittags wieder zuhause, schmollte ich, stellte meine Mutter zur Rede und erfuhr eine häßliche Wahrheit: Ist es im Interesse ihrer Kinder, dürfen Eltern auch lügen.
Um mich zu beruhigen, gab es doch ein paar kleine Änderungen. Mein »Schatten«, wie ich ihn nannte, mußte sich nun wirklich bemühen. Blitzschnell sprang er hinter Bäume (wenn es welche gab), versteckte sich hinter Autos (sofern sich diese nicht bewegten), manchmal unternahm er sogar das abgeschmackteste aller Manöver, die plötzliche Kehrtwendung. Ihn zu überraschen, verschaffte mir einige Befriedigung. Indem ich mich grundlos umdrehte, ertappte ich ihn manchmal. Er saß nicht mehr auf dem Gang in der Schule, sondern in einer Kammer. Er war da. Ich wußte, daß er da war, und er wußte, daß ich es wußte. Vermutlich hätte er mich gern dafür erwürgt, daß ich ihm das Leben zur Hölle machte.
Meine engsten Freunde, Peter Mayer und Rudi Fugger, ignorierten den Klotz an meinem Bein. Der vernünftige und ernste Peter war die Sorte Bub, von der jede Mutter träumt: Immer gekämmt, die Socken immer oben, schien er auch nie schmutzig zu werden. Seine dunklen Augen und sein dünnes, eckiges Gesicht strahlten Ernst und Ehrlichkeit aus. Er war ein durch und durch netter und treuer Freund. Nur sechs Jahre später würde er mit seinen Eltern und seinem Bruder aus Österreich fliehen müssen, denn obwohl gläubige Katholiken, gab es einen Tropfen jüdischen Blutes in der Familie. Und dann war da Rudi: stürmisch, witzig, abenteuerlustig, wie ich dünn und drahtig. Seine elektrisierenden blauen Augen und sein Grinsen schienen immer auf der Suche nach dem nächsten Streich. Wir drei waren vollkommen verschieden und standen in dauernder, spielerischer Konkurrenz.
Rudi: »Ich hab von einem Buben gehört, der auf einer Wiese eingeschlafen ist. Ein Wurm ist in seinen Mund gekrochen, hinunter in seinen Magen und hat das Ganze aufgefressen.«
Ich: »Na, und ich hab gehört, daß eine Raupe einem Mann ins Hirn gekrochen ist, durch das Ohr. Dort ist sie gestorben und alles ist verfault.«
Der ernste Peter, mit vor lauter Konzentration gerunzelten Augenbrauen, schaute uns an und explodierte. »Ihr seid beide verrückt. Der Magen würde den Wurm verdauen, und eine Raupe ist viel zu groß, um durch den Gehörgang ins Gehirn zu kommen. Ich glaub’ euch kein Wort.« Peter war auf ruhige Art intelligent und hatte einen gesunden Menschenverstand. Unsere sehr verschiedenen Charaktere ergänzten einander. Vielleicht hatten wir deshalb eine so ausgleichende Wirkung aufeinander.
Die Freundschaft zwischen Rudi und mir führte dazu, daß auch unsere Mütter Freundinnen wurden, eine Freundschaft, die später entscheidende Auswirkungen auf Vater haben sollte. Rudis Mutter Vera war eine geborene Gräfin Czernin-Chudenitz. Sehr jung hatte sie Leopold Graf Fugger-Babenhausen geheiratet. Rudi hatte drei Schwestern, Nora, Rosemarie und Sylvia. Ihre Eltern lebten getrennt, die Mutter in Wien, der Vater in Deutschland. War dieses Arrangement außergewöhnlich, so schien es doch besser, als das ungeschriebene elfte Gebot zu brechen: »Du sollst dich nicht scheiden lassen.« Im katholischen Österreich und in Bayern sprach man dieses Wort nicht einmal leise aus. Das Thema war so tabu, daß ich Rudi niemals danach fragte.
Mutter und Vera waren ungefähr gleich alt. Beide galten als Schönheiten. Mama hatte leicht gewelltes, kurzes blondes Haar, leuchtende blaue Augen, hohe Wangenknochen und eine vollere Unterlippe, sie war schlank und mittelgroß. Vera, größer und auch blonder, dies freilich etwas weniger natürlich, schien um ihren Mund herum immer zu lachen. Beide waren sie auffallend hellhäutig. Veras hervorstechendes Merkmal aber waren ihre Augen, was weniger an deren Farbe als an der Form lag. Wie große Mandeln sahen sie aus und gaben ihr einen exotischen, fast ein bißchen asiatischen Anstrich.
Wenn Rudis Schwestern die Ferien bei ihrem Vater verbrachten, wuchs unsere Dreierfamilie durch Rudi und seine Mutter auf fünf Personen an. Im Winter fuhr man Ski, nicht im schicken Kitzbühel, sondern im ruhigeren St. Anton. Das komfortable Hotel Post lag gleich am Ende der Kandaharpiste. Rudi, mein Kinderfräulein und ich wohnten nebenan, in der bescheideneren Dependance, mit dem großen Vorteil, nicht immer unter der Kontrolle der Eltern zu sein.
Im Sommer gab es unterschiedliche Reiseziele. In der italienischen Stadt Sistiana erlebte ich zum erstenmal, was für ein Draufgänger Rudi war. In dem zutreffend »Grand Hotel« genannten Haus logierten die Eltern und Tante Vera. Rudi, mein gleichmütiges, leicht nachgiebiges Kinderfräulein und ich wurden in einer nahen Pension untergebracht. Dort machten wir uns nach kurzer Orientierung im Haus an die Erkundung der Umgebung. Rudi ließ sich bei einem Teich, in Wahrheit einem mit braunem Wasser gefüllten Loch, zu Boden fallen und erklärte Sistiana zum Altersheim. Zunächst warfen wir gelangweilt Kieselsteine ins Wasser, bis wir bemerkten, daß die Pfütze voller Kaulquappen war.
»Arme Kleine«, sagte Rudi, »die sind in diesem Dreck gefangen. Wir sollten ihnen ein besseres Zuhause verschaffen« – nämlich in den Wasserkrügen der Gästezimmer. Die Idee war gut, aber mich störte die Angst, bei solcher Untat erwischt zu werden. Die Reaktion meines Vaters war nur allzu leicht vorhersehbar. Rudi hingegen war überzeugt, daß die Sache schlimmstenfalls nicht über das Kinderfräulein hinausgehen werde. Für ihn war das Risiko Teil des Reizes, zumindest solange sich seine Mutter nicht einschaltete, vor deren Zorn er großen Respekt hatte.
Nachdem wir uns mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut gemacht hatten, arbeiteten wir einen Plan aus. Die Zimmer wurden aufgeräumt, während die Gäste beim Frühstück saßen. Das war der entscheidende Moment. Nachdem wir keine Mahlzeit versäumen wollten, kamen wir am nächsten Morgen schon so früh ins Speisezimmer, daß wir gefrühstückt hatten, als die ersten Gäste auftauchten. Ich lief in unser Zimmer und griff mir den mit Wasser und Kaulquappen gefüllten Krug und ein Zahnputzglas zwecks »Überführung« der Tierchen – und rannte mit beidem direkt in den Bauch der Putzfrau. Irgendwie drängte ich mich an ihr vorbei, traf Rudi im Stiegenhaus, und hinter einem Vorhang auf dem Gang leerte ich das Wasser und ein paar Kaulquappen in das Zahnputzglas. Während die Zimmerfrau sich an ihrem Wäschewagen zu schaffen machte, schlüpfte Rudi katzengewandt an ihr vorbei in ein offenes Zimmer und leerte die Kaulquappen in den Krug auf dem Waschtisch. Zurück hinter den Vorhängen auf dem Gang, bogen wir uns zunächst vor Lachen und warteten auf die nächste Gelegenheit – und da ist es dann schiefgelaufen. Wieder war die Zimmerfrau auf dem Gang beschäftigt, als Rudi und ich mit einem weiteren Glas voll Kaulquappen in das offenstehende Zimmer schlichen. Nur leider: Vom Gang aus bemerkte die Bedienerin in einem großen Spiegel, der gegenüber dem Waschtisch in jenem Zimmer hing, wie ich die kleinen Wesen aus meinem Glas in ihr neues Heim verfrachtete. Obwohl nicht mehr jung, bewegte sich die Frau blitzschnell, und ebenso prompt brannten unsere Hintern. Dann schleppte sie uns, mit kräftigen Händen unsere Nacken fest umschlossen haltend, zu »la Signora«, der Besitzerin der Pension, und diese ließ unsere »Signorina« holen. Auch deren Reaktion fiel höchst unangenehm aus, immerhin zeigte sie uns aber nicht bei den von uns am meisten gefürchteten Autoritäten an.
Wenn ich im großen und ganzen mit meinen Kinderfräuleins Glück hatte, gab es da doch eine Ausnahme. Frau Soundso, in dem »gewissen Alter« und absolut unerbittlich, war uns von den Nonnen des Katholischen Schulvereins empfohlen worden. Während ihrer dankenswert kurzen Herrschaft sah ich sie nie anders als in Schwarz. Nun ist an schwarzer Kleidung im Prinzip nichts auszusetzen, aber bei Frau Soundso verstärkte das noch ihre an und für sich schon unangenehme Ausstrahlung. Vom ersten Augenblick an wußte ich, dieser Mund mit den kaum sichtbaren Lippen würde nie Schlaflieder singen. Ihr Haar war so eng zusammengebunden, daß es wie aufgemalt aussah, und ihre Adlernase trug nicht dazu bei, den Eindruck von Strenge zu mildern. Als wäre das nicht genug gewesen, gab es da noch diese Augen: kleine, schwarze Knopfaugen mit schweren Lidern. Wenn Frau Soundso mit den Händen im Schoß und den Blick nach unten gerichtet dasaß, war kaum auszumachen, ob sie wach war oder schlief.
Eines Nachmittags entdeckte ich sie in genau dieser Stellung. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Teller Kekse. In der Meinung, sie sei eingenickt, näherte ich mich der regungslos Sitzenden. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Als ich aber nach den Keksen griff, schoß ihre knochige Hand schneller als ein Jagdfalke vor und packte mein Handgelenk. Ihr kalter, wimpernloser Blick wirkte auf mich wie der Schlangenbeschwörer auf die unglückselige Kobra. Sie sagte kein Wort. Da schlug die Uhr und weckte mich aus meiner kurzen Trance. Ich riß mich los und rannte so schnell aus dem Zimmer, daß hinter mir Papiere vom Tisch flogen. Sogar schon in Sicherheit glaubte ich noch immer, diese schrecklichen Augen zu spüren, die sich in meinen Rücken bohrten.
Für Liesl, unsere Köchin, war Frau Soundso zu dünn, als daß in ihrem Körper Platz für ein Herz bliebe. Selbst gut gepolstert, hielt Liesl »dünn« und »unausstehlich« für Synonyme, und mit ihr zweifelte ich nicht, daß das im Fall der Frau Soundso zutraf. Ihre ganze Art war so unangenehm, daß selbst Vater sich in ihrer Gegenwart unwohl zu fühlen schien. Für meinen Teil hatte ich nur fürchterlich Angst vor ihr. Irgendwann machte Mutter, nachdem sie wochenlang still gelitten hatte, dem allen ein Ende und kündigte Frau Soundso, obwohl es ihr an sich schwerfiel, jemanden zu entlassen.
Und dann erschien Fräulein Alice in unserem Leben, das einzige Kinderfräulein, an dessen Namen ich mich erinnere. Sie war eine von zwei Töchtern guter, hart arbeitender Eltern. Ihr Vater war ein erfolgreicher Tapezierer. Die Familie lebte in einer großen, sonnigen Wohnung in der Neubaugasse. Alice hatte das Sacré-Cœur-Gymnasium in Wien besucht, sprach außer Deutsch auch Französisch und Englisch und war schon in Belgien und England »im Dienst« gewesen. Mittelgroß und von sportlicher Figur, hatte sie kurzes, braunes Haar, das ihre großzügigen, immer leuchtenden braunen Augen betonte. Doch weder dieses ansprechende Äußere noch ihre Erfahrung, schon gar nicht die Empfehlung durch die Klosterschwestern war es, was Fräulein Alice so besonders machte. Sie hatte ein Herz aus reinem Gold. Scheinbar mühelos fügte sie sich in unser Leben ein. Niemand hätte vorhersagen können, wie sehr sie uns verbunden bleiben würde. Ihre außergewöhnlich guten Nerven wurden fast sofort nach ihrer Ankunft auf die Probe gestellt.
Das schöne Augarten-Palais, Eigentum der Republik, war in Wohnungen für Regierungsvertreter umgewandelt und eine davon meinem Vater zugeteilt worden, der seit Mai 1933 neben dem Justizressort auch noch das Unterrichtsministerium übernommen hatte. Bei soviel Arbeit kam er immer erst spät nach Hause und war dort nie lang genug, um das großzügige Palais und den umliegenden Park zu genießen. Mutter, Fräulein Alice und ich taten das um so regelmäßiger. Nicht nur war die neue Wohnung doppelt so groß wie jene auf der Mariahilfer Straße, plötzlich gab es ringsherum Bäume und Gärten. Fräulein Alice und ich kamen endlich wieder an die frische Luft, während die Parkanlagen in der Nähe unserer früheren Wohnung seit den Konflikten zwischen Heimwehr und Schutzbund für uns zu verbotenen Zonen geworden waren.
In den Gefilden der österreichischen Politik, die nicht gerade für ihre Objektivität und die Aufrichtigkeit der handelnden Personen bekannt war, hatte Vater einen unantastbaren Ruf. Sein unerschütterlicher Glaube und die Liebe zum Vaterland machten ihn immun für Einflußnahmen oder gar Korruption. Wie überall sonst, gab es auch in Österreich genügend Menschen, die einflußreiche Persönlichkeiten auf mancherlei Art in Versuchung zu bringen trachteten. Da bekannt war, daß Vater Geschenke entweder sofort zurückschickte oder gleich ablehnte, versuchte man es anders. Das Ergebnis blieb immer dasselbe. Auch Geschenke »für den kleinen Kurti« langten ein. Wäre ich nicht zufällig einmal im Büro meines Vaters aufgetaucht, hätte ich das nie erfahren: Fräulein Alice und ich kamen gerade in dem Moment herein, als der Sekretär meines Vaters höflich die Annahme eines glänzenden, mit Maschen versehenen Fahrrads verweigerte.
Den Spendern von Pralinen und Schokoladen, die anscheinend kistenweise angeliefert wurden, dankte man im Namen derer, die sie letztlich erhalten würden, nämlich der Armen und Alten von Wien. Mutter arbeitete über den »Altwienerbund« ohne Unterlaß daran, das Leben dieser Benachteiligten zu verbessern. Es war die wichtigste ihrer vielen karitativen Aktivitäten. Die Armen und Alten waren für die Schokolade wirklich dankbar. Ich mochte Schokolade ungefähr so wie Lebertran, mit dem ich ständig zwangsbeglückt wurde. Hob man mich auf die Knie irgendeines Gratulanten, mußte ich mir fast immer eine Praline in den Mund stopfen lassen. Kein Mensch hat je gefragt, ob ich Schokolade überhaupt mochte.
Vater war durch nichts zu erschüttern. Einmal kam eine Kiste Obst von seinem eigenen Schwager. Dieser Onkel war unter anderem Obstexporteur in der Südtiroler Stadt Bozen. Obwohl seit dem Ende des Ersten Weltkrieges italienisch, wurde Südtirol von Österreich noch immer mit finanziellen Unterstützungen bedacht. Subventionen gab es auch für Wirtschaftszweige in österreichischem Besitz oder unter österreichischer Leitung. Dazu gehörte der Obstanbau. Aus Sorge, die Gabe aus Südtirol könnte deshalb falsch interpretiert werden, selbst wenn sie von einem nahen Verwandten kam, ließ Papa die Kiste an seinen darüber etwas verstimmten Schwager zurückschicken. Mit der Zeit fand ich mich damit ab, daß kein Zeichen des guten Willens je bei mir ankommen würde, außer den verhaßten Pralinen.
Eines Tages wurde ich zu den Ställen im Augarten beordert. Als Fräulein Alice und ich ankamen, gab mir einer der Stallburschen eine Karte mit der Aufschrift »Für Kurti«. Die Unterschrift war mir unbekannt. Dann bat mich der Bursche, die Augen zu schließen, und führte mich um eine Ecke. »Mach die Augen auf!«, schrie er dort und zeigte mir mit theatralischer Geste ein wunderschönes Pony, das an eine glänzende Kutsche angeschirrt war. Fräulein Alice war ebenso sprachlos wie ich. Nie mit Geschenken verwöhnt, überstieg so etwas meine Vorstellungskraft. Wir gingen um die »Erscheinung« herum. Ich berührte den Wagen. Er war fest und echt, keine Spur von Erscheinung. Obwohl außer mir vor Freude, überraschte mich doch, daß Vater hier nachgegeben hatte. Wir gaben dem Pony Karotten zu fressen und zermarterten uns den Kopf nach einem passenden Namen. Auch Mutter wußte nicht, wer der Spender war. Da aber ohne Vaters Erlaubnis nichts in den Augarten geliefert wurde, stimmte sie in unseren Jubel ein.
Am nächsten Tag wurde dieses großartigste aller braun-weißen Scheckponys ausgeführt. Es stolzierte vor uns und schüttelte die Mähne. Wir saßen in der wunderschönen, buttergelben Kutsche mit der schokoladefarbenen Verkleidung. Das dazupassende braune Dach über den beigefarben gepolsterten Ledersitzen war geöffnet worden. Bewundernde Blicke flogen uns zu. Der Stallbursche an den Zügeln nahm auf dem Weg zu meiner Schule absichtlich einen langen Umweg. Als wir ankamen, läutete gerade die Schulglocke und ich entging mit knapper Not einer Eintragung wegen Zuspätkommens. Einer aber kam wirklich zu spät: der hinkende, schnaufende Sicherheitsbeamte, mein Leibwächter.
Alle meine Freunde durften auf dem Schulgelände herumkutschiert werden. Schließlich kamen wir später als üblich zuhause an. Vater traf eben vom Ministerium ein, als wir unseren auffälligen Auftritt hatten. Fräulein Alice und ich hielten seinen höchst überraschten Blick zunächst für Bewunderung. Aber das Donnergrollen folgte auf dem Fuße. Wortlos machte er kehrt und stürmte, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, in unsere Wohnung hinauf. Ich schaute Fräulein Alice an, die nichts sagte, auch wenn man ihr die Unsicherheit ansah. Ich wurde auf mein Zimmer gebracht. Obwohl Fräulein Alice die Tür hinter sich schloß, hätte man taub sein müssen, um die folgende Szene nicht zu hören.
»Was zum Teufel versucht ihr zu tun? Wollt ihr mich ruinieren? Was habt ihr euch gedacht, so ein Geschenk anzunehmen? Wo auch immer dieses Pony und die Kutsche hergekommen sind, schickt das sofort zurück!«
Dann knallte eine Tür. Vater war immer schon ein Türenknaller gewesen. Glücklicherweise hatten alle unsere Wohnungen solide Türrahmen. Fräulein Alices wußte fortan um die Besonderheiten unseres Familientemperaments.
Die strahlend gelb-braune Kutsche und das Pony mit dem glänzenden Fell verloren sich aus meinen Augen, wenn auch nicht aus dem Sinn. Die Sache wurde nie wieder erwähnt. Nur einer war erleichtert: mein beamteter Leibwächter.