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Katastrophe

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Die Lage in Österreich war das Ergebnis komplexer Zusammenhänge und politischer Ereignisse, die bis in die Zeit vor dem Krieg zurückreichten. Langsam erholte sich Österreich von der katastrophalen finanziellen Lage, in der sich das Land seit dem Jahr 1918 befunden hatte. Die Rückzahlung des Völkerbundkredits und die von Deutschland verhängte Tausend-Mark-Sperre bereiteten große Schwierigkeiten, doch die Inflationsplage war zurückgegangen, und die wirtschaftliche Situation verbesserte sich langsam.

Das Jahr 1935 fing mit großen Fanfarenklängen an: Der Kanzler gab bekannt, daß der Wiener Opernball vom Staat gefördert werden würde. Dies hob nicht nur den unschätzbaren Beitrag österreichischer Musiker und Komponisten für die Musikwelt hervor, sondern sollte auch dem Tourismus, von dem das Land so abhängig war, zu einem Aufschwung verhelfen. Wenig, was das Regieren des Landes anbelangte, war so unkompliziert wie der Opernball.

Reifen quietschen. Metall verbiegt sich. Körper fliegen durch die Luft. Rauch. Ein Albtraum.

»Wach auf, Kurti!«

Rufe und Weinen. Alles ist durcheinander.

Mein Gesicht fühlt sich im Wind feucht an. Wahrscheinlich versucht Purzel, mich zu wecken. »Runter mit dir, geh weg!«, höre ich mich sagen. Dann: »Kurti, Kurti!« Fräulein Alices Stimme ruft mich leise. Gott sei Dank! Ich öffne die Augen, schaue in den blitzblauen Himmel, aus dem die Sonne herunterbrennt. Ich blinzle. Mein Kopf liegt auf Fräulein Alices Schoß. Aber wo ist das Auto? Was tun wir da im Gras und was redet sie mit mir? Natürlich geht’s mir gut. Ach, da ist ja auch Vater. Doch er ist sehr blaß, düster. »Papa, was fehlt dir? Bist du krank?« Er wischt mein Gesicht ab. Blöder Purzel. Doch das Taschentuch ist rot. Der Himmel dreht sich. Nein, vielleicht bin ich das. Und da ist Liesl. »Laß ihn sich nicht bewegen, Alice.« Aber genau das will ich. Ich fühle mich nicht wohl. Liesl dreht sich um und stöhnt auf. Auch ich drehe mich um und sehe, daß zwei Männer etwas tragen.

Nein, nicht etwas, jemanden.

Zwei Beine unter einem weißen Leinenrock. Ich halte den Atem an, mein Herz setzt kurz aus. Mutter!! Doch ihre Augen sind geschlossen. Sie bewegt sich nicht. Genauso blaß wie Vater. In den Armen der Männer schaut sie wie eine kleine Puppe aus. Er sollte bei ihr sein. Wo ist er? Die Männer legen sie vorsichtig in den Rettungswagen. Ich sehe Fräulein Alice an. Auch sie kann sich nicht von der Szene losreißen. Sie weint. Ich habe Fräulein Alice noch nie weinen sehen. Ich drehe mich zu Liesl. Auch sie weint. Jetzt schauen mich beide an.

Voll Angst drehe ich mich noch einmal zum Rettungsauto.

Und dann weiß ich es.

Ich schließe die Augen und gebe dem Schwindelgefühl nach. Starke Arme heben mich auf. Als ich meine Augen wieder öffne, liege ich in einem anderen Auto. Fräulein Alice legt einen Arm um mich und hält mir ein Taschentuch gegen eine Gesichtshälfte. Dem Vater helfen sein Adjutant, Major Bartl, und ein Staatspolizist ins Auto. Er greift nach mir und streicht meine Haare zurück. Sein Gesichtsausdruck ist grauenvoll und seine Augen … seine Augen sind tot. Er nimmt meine Hand und hält sie mit beiden Händen. Dann fühle ich nichts mehr.

Viel später wachte ich im Linzer Krankenhaus der Barmherzigen Brüder wieder auf. »Du warst so ein tapferer Bub«, sagte Fräulein Alice, die zum hundertsten Mal in zwei Wochen mein Bettzeug richtete. »Bald fahren wir nach St. Gilgen. Liesl sagt, daß es dort einen See voller Fische gibt, die nur darauf warten, von dir herausgeholt zu werden, damit sie sie zum Abendessen kochen kann. Du kannst deinen eigenen Fisch essen.« Endlich ein glücklicherer Gedanke als die meisten anderen, seit ich mich wieder konzentrieren konnte. Die Schnittwunden auf meiner Stirn und meiner Wange sahen schon ein bißchen besser aus. Mein Gesicht war zwar unbeweglich, tat aber nicht sehr weh. Der Primarius stand an meinem Bett. Nachdem er wieder einmal sein eiskaltes Stethoskop an meine widerstrebende Haut gedrückt hatte, erklärte er sich mit meinen Fortschritten zufrieden. »Ich bin sehr erleichtert, daß keine wichtigen Muskeln durchtrennt wurden. Dir ist klar, daß du ein kleiner Bub mit großem Glück bist. Diese Glastrennwand, die auf dich draufgefallen ist, hätte viel mehr Schaden anrichten können. Dein Schutzengel muß auf deiner Schulter gesessen sein, junger Mann.« Er war ein netter Arzt, und er wollte mich aufmuntern. »Herr Doktor«, sagte ich, »mir wäre lieber gewesen, er wäre auf der Schulter meiner Mutter gesessen.«

Von uns sechs, die wir an dem Morgen im Auto gesessen hatten, waren nur Vater und Fräulein Alice relativ unverletzt geblieben. Ihre Engel hatten anscheinend Überstunden gemacht. Fräulein Alice hatte nur Genickschmerzen und zerrissene Kleider. Vater war aus dem Wrack hinausgeschleudert worden. Außer ein paar Prellungen hatte er keine Verletzungen davongetragen. Seine Wunden waren in seinem Inneren. Der Schmerz um Mutter überwältigte ihn. Der Verlust des Glanzes, den sie ausgestrahlt hatte, setzte ihm mehr als alles andere zu. Nach außenhin ließ er sich nichts anmerken und ging weiter seinen Regierungsgeschäften nach. Die schwarze Armbinde, die er trug, war das einzige öffentliche Zugeständnis an seine privaten Gefühle. An den Wochenenden brachte er seine unermeßliche Trauer mit nach St. Gilgen. Nur selten schluchzte er auf, wenn er nachts allein in seinem abgedunkelten Zimmer saß. Über den Unfall sprach er nicht, aber aus den schwarzen Ringen um seine Augen kam immer dieselbe, unausgesprochene und unmöglich zu beantwortende Frage, die auch ich mir stellte: »Warum sie?«

Von Fräulein Alice hörte ich, daß die Polizei bei der Untersuchung des Unfalls mit dem Fahrer begonnen hatte, mit Tichy, der wie der Staatspolizist, der neben ihm im Auto gesessen hatte, noch im Krankenhaus lag. Man wußte, daß Tichy einen tadellosen Lebenswandel führte. Er war ein Gewohnheitstier, sein Tagesablauf änderte sich nie, außer wenn er krank war. War Tichy je krank gewesen? In den beiden Jahren, seit er bei uns war, hatte er keinen einzigen Arbeitstag ausgelassen. Er schien bei bester Gesundheit. Am Nachmittag vor dem Unfall, auf dem Heimweg vom Kriegsministerium, war er im selben Gasthaus wie an jedem anderen Tag eingekehrt und hatte sich laut dem Wirt das übliche eine Glas Bier genehmigt. Der freundliche, verläßliche, besonnene und höfliche, einfach gute Mensch war auch in dem Gasthaus beliebt. Tichy kam also am späten Nachmittag des 12. Juli in die Wirtschaft, trank ein Bier, verließ sie aber erst um drei Uhr in der Nacht. Der Wirt sagte aus, das Bier wäre ihm von einem Fremden spendiert worden. Nachdem er bemerkt hatte, daß Tichy wie bewußtlos auf dem Tisch lag, habe der Wirt wiederholt aber erfolglos versucht, ihn zu wecken. Schließlich ließ man ihn ungestört bis zur Sperrstunde schlafen. Und dann noch mußte das Personal zu harten Mitteln greifen: Man begoß ihn mit kaltem Wasser, Tichy kam endlich zu sich und ging nach Hause, wo er gerade noch genug Zeit hatte, sich zu duschen und umzuziehen. Um fünf Uhr war er beim Kriegsministerium gestellt und half beim Beladen des Autos für die Ferien in St. Gilgen.

Tichy war überaus stolz auf seine Stellung als Fahrer des Bundeskanzlers und grenzenlos loyal. Denkbar ist, daß sein bis ins Detail geregelter Tagesablauf ihn zu einem bequemen Ziel für einen Anschlag machte. Der Polizeipräsident wollte nicht ausschließen, daß Tichy schon seit einiger Zeit beschattet worden war. Hatte er die bevorstehende Reise irgend jemandem gegenüber erwähnt? In seinem Stammlokal? Ein paar Tage vorher? Sowohl Marxisten als auch Nazis standen der Regierung, also auch Papa, in erbitterter Feindschaft gegenüber. Die Annahme lag nahe, daß sich jemand am bewußten Nachmittag an Tichys Bier zu schaffen gemacht hatte. Es gab keine andere Erklärung für den Zwischenfall im Gasthaus, als dessen Folge der Chauffeur, der aus Pflichtgefühl nicht zugeben mochte, völlig übermüdet zu sein, am hellichten Tag mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abkam und in einen Baum fuhr. Nach der Ermordung von Dollfuß und dem Angriff auf das Augarten-Palais fiel der Verdacht unweigerlich auf die Nazis. Das aber zu beweisen, war eine andere Sache.

Fräulein Alice tat alles, um meine körperliche und seelische Heilung zu beschleunigen. In einer nahegelegenen Pension nahm sie ein Zimmer, um den ganzen Tag bei mir im Krankenhaus sein zu können. Auch Vater und Großvater Schuschnigg haben mich wiederholt besucht. Während Vater unfähig war, über den Hergang der Tragödie zu sprechen, hatte Fräulein Alice einen ganz anderen Ansatz: Sie drang sofort zum Kern des Problems vor. »Kurti«, sagte sie, »es ist wichtig, daß du weißt, daß deine Mutter nicht gelitten hat. Als das Auto in den Baum krachte, prallte ihr Nacken auf den Rand des offenen Daches. Das brach ihr sofort das Genick. Der Arzt sagt, daß sie keine Schmerzen gefühlt haben kann. Es war für sie wie ein schnelles Einschlafen. Und als sie aufwachte, war sie im Himmel. Ich weiß, das ist schwer, aber du mußt immer versuchen, es dir so vorzustellen.«

Ich hoffte, daß das mit den Schmerzen stimmte. Nur den Vergleich zwischen ihrem Tod und dem Einschlafen konnte ich kaum ertragen. Meine Traumbilder, der verbogene Metallhaufen, der einmal unser schwarzer Landauer gewesen war, das weiße Leinenkleid, das sich in der leichten Morgenbrise bewegte, die beiden Polizisten, die meine schöne, zerbrechliche, tote Mutter in den Armen hielten – wie lange würde ich das noch sehen müssen?

Vater, Großvater und Fräulein Alice waren bei Mutters Begräbnis in Wien. Großmutter Schuschnigg war schon krank und konnte nicht teilnehmen. Sie starb kaum sechs Wochen später. Mir wurde versprochen, daß Vater und Großvater mich zu Mutters Grab begleiteten, sobald ich wieder ganz gesund war. Bis dahin versuchte Fräulein Alice, meine Stimmung zu heben. Es war manchmal sehr deprimierend. Sie beschrieb mir die Trauerfeier in allen Einzelheiten, und pflichtbewußt schaute ich die mir ins Krankenhaus gebrachten Fotos an. Ein Besuch am Friedhof hätte mich nicht trauriger stimmen können als diese schwarz-weißen Bilder und lange konnte ich den Gedanken nicht ertragen, daß Mutter dort in der dunklen, kalten Erde lag.

Großvater holte Fräulein Alice und mich ab. Die netten Leute im Krankenhaus wünschten mir alles Gute. Die Ärzte tätschelten meinen Kopf und die Schwestern murmelten tröstende Worte. Und da hatte ich plötzlich den ersten fröhlichen Gedanken seit meiner Ankunft im Krankenhaus: Wenigstens eine Zeitlang würde mich jetzt niemand mehr mit Schokolade, Grießbrei und derlei Scheußlichkeiten vollstopfen. Zumindest momentan war ich unangreifbar. Der Primar hatte mir zum Abschied gesagt, meine Gesichtsnarben würden mich einmal vornehm aussehen lassen. Ich bezweifelte das.

Mehr noch als meine Verletzungen hatten die Fürsorglichkeit, das dauernde, nicht nachlassende Mitleid mir das Leben im Krankenhaus unerträglich gemacht. Der anschließende Ferienaufenthalt in St. Gilgen war eine große Erleichterung. Dort hatte ich Purzel. Er war fröhlich, unkompliziert, leicht zu durchschauen, entweder glücklich oder hungrig. Und es gab da den Rest der Familie: Vater, Fräulein Alice, Liesl und sogar die Staatspolizisten, die über das Grundstück verteilt waren. Sie gehörten ebenso zum ganz normalen Alltag wie Liesl oder Major Bartl.

Unsere Zuflucht am Wolfgangsee, Mutters Entdeckung, war eine massige, schöne und erstaunlich große Villa am Seeufer. Wie in anderen dieser um die Wende zum 20. Jahrhundert errichteten Häuser gab es mehrere Stockwerke, die Fassaden waren in heller Cremefarbe mit zimtbraunen Fensterläden gehalten. An zwei Stockwerken gab es Balkone. Die Sicherheitsbeamten schätzten es, daß die einzige Straße hinter dem Haus vorbeiführte. Von dort aus wirkte die in den Hang gebaute Villa bloß einstöckig mit verkürztem Oberstock unter niedrigem Dach. Ganz anders von der Seeseite, da hatte der zweite Stock eine offene, auf eine hohe Steinmauer gestützte Veranda. Auf dem Holzbalkon im Stockwerk darüber saß ich oft am Abend, manchmal mit Vater, meistens aber mit Fräulein Alice in der leichten Abendbrise, wenn die untergehende Sonne die Wolken in Schattierungen von rosa bis orange färbte und Schwalben in der anbrechenden Dämmerung jagten, bis schließlich der Mond hinter den Bergen aufstieg. Manchmal waren die Gipfel von Schafberg und Zwölferhorn wolkenverhangen. Es war friedlich und ruhig. Nur die Enten, die Grillen und das Plätschern der Wellen am Bootssteg waren zu hören und von hinten die aus den Bergen stürzenden Wildbäche.

Kam Vater am Wochenende aus Wien, war sein Gemütszustand das große Thema für die beiden Menschen, die uns am nächsten standen. Von meinem Balkon aus konnte ich zuhören, wie Liesl weiter unten mit Fräulein Alice sprach: »Alice, das ist schrecklich. Wie lange, glaubst du, geht das noch so weiter? Ich hoffe nur für den Buben, daß sich da etwas ändert.« Fräulein Alice seufzte. »Weißt du, Liesl, er hat sie angebetet. Und zusätzlich zu ihrem Tod war noch Kurtis Verletzung ein schwerer Schlag. Wenn der Kanzler in der Öffentlichkeit ist oder mit seinen Mitarbeitern, geht es ihm besser. Na ja, du weißt, was ich meine. Hier, wenn er abends in sein Zimmer geht, sitzt er nur da im Dunkeln. Ich mache mir Sorgen.«

Auch ich machte mir diese Sorgen, sehnte mich danach, wieder ein wenig Glück, etwas Licht in seinen Augen zu sehen. Fast wäre er mir wütend lieber gewesen als so. Ich kannte seine Wut, sie kam, explodierte und verging wieder. Diese Leblosigkeit dagegen war fürchterlich. Einmal traf ich ihn auf dem Balkon sitzend, kurz vor dem Abendessen. Es war einer der seltenen, wunderbaren Augenblicke, an denen er allein war. Ich ging auf seinen Sessel zu. Er bemerkte mich nicht, starrte hohläugig auf den See, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Ich bedeckte seine Augen mit meinen Händen und rief: »Papa!« Er griff hinauf, entfernte meine Hände und lächelte dieses traurige Lächeln, das ich schon zu gut kannte. Es war, als hätte ihn alles Glück verlassen.

Die Tage in unserem Haus verliefen jetzt so, als wolle man ein Auto mit einem kaputten Rad fahren. Es rührt sich zwar irgendwie, aber es war für niemanden angenehm. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus zwang man mich zur Nachmittagsruhe. Fräulein Alice öffnete die Fenster zum Balkon, drückte mir einen Kuß auf die Stirn und schloß die Tür zum Gang hinter sich. Von Zeit zu Zeit flog eine fette, faule Fliege ins Zimmer. Die Balkontür hatte eine große Glasscheibe. In einem bestimmten Winkel geöffnet, spiegelten sich in ihr die Blumenkästen vor den Fenstern. Ich lag da inmitten der Spiegelbilder roter und weißer Geranien und ihrer dunkelgrünen Blätter, und wieder einmal fiel mir ein, wie sehr das alles an mir verschwendet war. Es war Mutter gewesen, die gerne von Blumen umgeben war. Ich ertrug sie wie eine Strafe, von der ich nicht wußte, womit ich sie verdient hatte.

Nur langsam änderte sich der Lebensrhythmus an den Wochenenden. Es begann mit dem Besuch von Verwandten und Freunden. Später kamen Regierungsvertreter dazu, wenn auch nicht im selben Ausmaß und mit dem ganzen Troß an Mitarbeitern, wie ich es aus Wien kannte. Die Atmosphäre begann sich zu lockern.

»Fräulein Alice, wen hat Vater dieses Wochenende mitgebracht?«

»Na ja, schauen wir einmal: Dr. Pernter ist da. Er hat einen der früheren Posten deines Vaters, Unterrichtsminister. Weißt du noch? Den magst du. Und Dr. Buresch, der Finanzminister. Ihre Mitarbeiter sind auch da, wohnen aber im Hotel. Schließlich natürlich Major Bartl. Zwei Freunde deines Vaters mit ihren Frauen kommen heute auch noch, aber nur zum Abendessen.«

Nach dieser Aufzählung überlegte ich mir bereits einen Protest. Nur mußte man da mit Fräulein Alice vorsichtig sein. Manchmal wandte sie den »Du bist schon zu alt, um dich so zu benehmen«-Trick an. Damit wurde es immer schwieriger, sich wirkungsvoll zu beschweren. Doch an jenem Tag konnte ich mich nicht zurückhalten. »Ah so, gut …« – wenn man ihn nicht übertrieb, war Sarkasmus keine üble Lösung beim Umgang mit Erwachsenen – »… das Wochenende wird also wirklich lustig.« Ich wartete gespannt, ahnte, was jetzt kam: »Kurti, du weißt, daß dein Vater unmöglich alles erledigen kann, ohne hier an den Wochenenden zu arbeiten. Du bist ein bißchen selbstsüchtig. Das paßt nicht zu dir. Was du aber noch nicht weißt: Gleich nach dem Mittagessen soll ich dich am Bootssteg abliefern, dann möchte dein Vater mit dir rudern.« Sie verkündete diese Nachricht triumphierend, die Hände auf die Hüften gestützt und mit leicht nach vorne geneigtem Kopf. Vor lauter Aufregung warf ich meinen Sessel um. »Wirklich, Fräulein Alice?« – »Ja, wirklich«, sagte sie lachend.

»Fräulein Alice, ich werde Vater über den ganzen Wolfgangsee rudern. Ich hole die Würmer und Angelruten.«

»Keine Würmer und Angelruten, Kurti.«

»Na gut.«

Ich ruderte so kräftig, daß es mich selbst überraschte. Vater war zufrieden, und das war mir Lohn genug. Wie schön war es, ihn ganz für mich zu haben und ihn als fast wieder normal zu erleben. Fröhlich plapperte ich über nichts Bestimmtes. Vater hatte andere Gedanken. Er verwies auf Themen, über die man ernst nachdenken müsse. Wenn es auch wichtig sei, kräftig zu sein, sei es noch viel wichtiger für uns, geistig voranzukommen. Ich sei »in beidem ziemlich gut«. – »Mein Sohn, die Dinge können nicht immer so sein, wie wir sie uns wünschen, nicht einmal, wenn wir uns gute Dinge wünschen.«

Ich wußte, daß er Mutter meinte.

»Wir müssen dankbar sein für das, was Gott uns schenkt, egal, wie lang diese Geschenke uns bleiben, und wenn eine Tür zugeht, so geht doch bald eine andere auf.«

Was er als nächstes sagte, ließ mich mitten im Rudern aufhören, mit den Rudern in der Luft.

»Am Tag des Unfalls hat die Polizei einen Mann befragt, der kurz hinter der Unfallstelle an der Bundesstraße wartete. Er stellte sich als Hakenkreuzler heraus, als Nazi. Und er war mit einer Bombe bewaffnet. Ohne den Unfall wären wir jetzt vielleicht alle tot.«

Langsam und schweigend ruderte ich weiter. Für mich waren die Hakenkreuzler aus Deutschland tausendmal schlimmer als die Roten aus Rußland.

»Aber Vater, warum können wir sie nicht aufhalten?«

»Wenn das so einfach wäre, würden wir es tun. Aber das ist nicht die Art Schlacht, wie du sie mit deinen Spielzeugsoldaten führst. Es ist mehr ein Versteckspiel. Sie führen ihre Terroraktionen durch und versuchen, das Mißtrauen gegenüber der Regierung in der Bevölkerung zu schüren, vor allem unter den Arbeitern.«

»Aber warum?«

»Sie wollen, daß Österreich ein Teil von Deutschland wird, doch die Mehrheit der Österreicher will Österreicher bleiben. Deswegen können wir uns nicht leisten, in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Keinen Augenblick lang.«

Es war das erste Mal, daß Vater mit mir wie mit einem Erwachsenen geredet hatte. Während ich ihm ernst zuhörte, schwor ich mir, mich nie mehr über die Leibwächter zu beschweren, und ich hoffte inständig, daß Papas »Schatten« ihn nie aus den Augen lassen werde. Es gab jetzt nur noch uns beide.

Im Laufe des Sommers entwickelten Vater und ich einen geregelten Tagesablauf. Obwohl die Wissenschaft behauptet, daß der Körper mit dem Herzen stirbt, ging das Leben für uns weiter. Fräulein Alice wurde für mich alles, was sie sein konnte, mit dem Urteilsvermögen einer Mutter, voller Weisheit und Liebe. Mit ihr ruderte ich zu den vielen kleinen Buchten des Wolfgangsees, sie grub mit mir Würmer zum Angeln aus und zeigte mir, wie man ein Feuer macht, um Forellen und Maiskolben zu braten. Manchmal wanderten wir auch nur zu einem nahen Bach oder saßen am Ende unseres Steges. Und es waren nicht wenige Forellen, die wir gemeinsam aus dem See zogen, so daß Liesl sich über unsere Triumphe immer weniger freute. Als ich eines Nachmittags den Fang des Tages stolz in die Küche brachte – »Liesl, rate was ich habe?« – und ihr meinen Kübel voller Hauptspeisen zeigte, die noch immer mit den Flossen schlugen, da verharrte sie einen Moment zögernd, um dann zu explodieren.

»Was? Schon wieder Forellen? Ich werde ein paar Kerzen in der Kirche anzünden, damit es regnet. Für heute Abend habe ich so schöne Wildmedaillons vom Fleischhauer.«

Ich sprach mit ihr wie mit einem Kind: »Liesl, du weißt, daß Vater Forellen liebt.«

»Ja. Richtig. Manchmal. Aber nicht täglich. Und ich auch nicht.« Sie wurde immer lauter, stemmte die Fäuste in ihre fülligen Hüften, die Ellbogen spitz nach außen gekehrt. Ein gefährliches Zeichen der Unnachgiebigkeit. Ich spürte die kommende Niederlage.

»Bitte, Liesl, ich will nur, daß Vater weiß, daß ich die für ihn gefangen habe. Das ist wie ein kleines Geschenk von mir.«

Sie überlegte kurz. Meine Hoffnung stieg. »In Ordnung, Kurti. Ich sag dir etwas. Wir machen ein Abkommen. In Zukunft gibt es Fisch in keiner Form öfter als dreimal pro Woche. Das heißt nicht, daß du nicht angeln darfst. Angle, soviel du willst, aber von jetzt an gibst du allen überschüssigen Fang dem Stephan. (Das war der Fahrer, der Tichy ersetzt hatte.) Und jetzt erzählen wir deinem Vater, daß du die Fische für ihn gefangen hast, nachdem das Menü aber schon geplant war, hast du sie dem Stephan gegeben.«

Das war nicht genau das, was ich wollte. »Na jaa«, fing ich an, nur um gleich unterbrochen zu werden. »Das war keine Einleitung zu einer Diskussion, Kurti, das ist eine Feststellung. Dein Vater braucht seine Kräfte, und das bedeutet, er muß mindestens sooft Fleisch essen wie Fisch. Geh jetzt, such Fräulein Alice und sag ihr, daß ich sie kurz sehen möchte, bitte.« – Das war also geregelt.

An einem klaren, sonnigen Tag verkündete Fräulein Alice, daß wir zum Tee nach Bad Ischl fahren. Eine halbe Stunde Autofahrt, nur um eine Tasse Tee zu trinken, klang ein bißchen viel. Doch wir fuhren in die Konditorei Zauner. 1832 hatte Johann Zauner sein Fachwissen über die Wiener Backkunst in die Pfarrgasse 7 nach Bad Ischl gebracht. Die dankbaren Kurgäste erfreuten sich am schönen Jugendstil-Interieur in hohen Räumen, am Licht unzähliger Milchglasleuchten, an einer Mozartsonate oder einer Fuge von Liszt. »Der Zauner« hatte den wohlverdienten Ruf, die leichtesten Kuchen und Torten und die delikatesten Süßigkeiten zu servieren. Vor allem aber konnte er sich rühmen, daß Kaiser Franz Joseph 1849 hier zu Gast gewesen war. »Der Zauner« war zu einer Institution geworden. Obwohl das nicht so ausgedrückt wurde, sollte unser Ausflug mich empfänglicher für die Zeremonie des »Fünf-Uhr-Tees« machen.

Ich war in einem Dilemma. Tags zuvor hatte ich eine kleine Schlange im Garten gefunden und sie in mein Zimmer mitgenommen. Es war nicht auszuschließen, daß Liesl sie in meiner Abwesenheit dort entdeckte. Ich mußte also die Schlange mitnehmen, wohlweislich ohne Fräulein Alice etwas davon zu sagen. So reiste dieser dritte Teilnehmer unserer Gesellschaft gut zusammengerollt in der Tasche meiner Lederhose mit.

Frau Zauner höchstpersönlich setzte sich zu uns. Ich schaute mich um. »Fräulein Alice, hier ist es aber sehr ruhig.«

»Na ja, Kurti, das ist ein Teesalon und kein Sportstadion. Schauen wir uns einmal die Speisekarte an.«

Ich wählte meinen Lieblingskuchen, Himbeertorte mit viel Schlagobers. Fräulein Alice entschied sich für ein Stück Apfelkuchen. Es war nach vier Uhr Nachmittag, der Raum zwar ganz voll, aber kein Gespräch lauter als die gemurmelten Antworten bei der Messe in der Kirche. Mein Blick fiel auf den Tisch vor uns. Zwei Damen schienen wie gegen ihren Willen dort zu sitzen. Die elegante Ältere schaute voll Desinteresse auf ihre jüngere, nüchtern gekleidete Begleiterin. Sie schenkten einander nicht einmal den Anflug eines Lächelns. Manchmal nickte die Ältere herablassend. Ihre Begleiterin war offensichtlich aufgeregt und sprach mit großer Intensität. Was sie sagte, verstand ich nicht, doch tat sie mir leid. Jedes majestätische Nicken der Älteren schien sie noch mehr aufzuregen. Die Adern an ihrem Hals schwollen an. Sie schienen kurz davor zu sein zu platzen.

Was nun folgte, dafür gibt es keine vernünftige Erklärung. Ich griff in meinen Hosensack und nahm die Schlange heraus. Das Tischtuch verdeckte meine Hand. Ohne an die Konsequenzen zu denken, ließ ich die Schlange fallen, hielt den Atem an und steuerte sie mit meiner Willenskraft zu dem Tisch der beiden Damen. Daneben bereitete gerade ein Kellner eine vollendete Teezeremonie vor. Ich fürchtete, er könnte auf meinen kleinen Freund treten und ihn zerquetschen und beugte mich in seine Richtung, auch um zu sehen, wie weit die Schlange schon gekommen war. Die hatte blitzschnell und ohne entdeckt zu werden, den richtigen Tisch gewählt und war unter der bis zum Boden hängenden Tischdecke verschwunden. Ich wartete in Hochspannung. Dann geschah es.

Die jüngere Dame schaute plötzlich an sich hinunter. Ich hätte vorgezogen, daß die andere die Schlange bemerkte. Statt dessen kletterte diese am Bein ihrer Begleiterin hinauf. Ein markerschütternder Schrei hallte durch den Teesalon, gefolgt von überraschtem Schweigen. Nicht weniger als fünf Kellner und ein Koch samt Haube stürzten von allen Seiten herbei. Die jüngere Dame sprang auf, riß dabei nicht nur das Tischtuch mit, sondern warf auch den Tisch um. Porzellan flog durch die Luft, Besteck verteilte sich in alle Richtungen. Sie kreischte und schlug mit einer Serviette auf ihr Bein, während sie den Rock über dem Knie festhielt. Die anderen Gäste müssen sie für verrückt gehalten haben. Die Ältere hatte jede Menge Schlagobers in ihrem entsetzten Gesicht, und auf ihrem Schoß lag ein zerquetschtes Stück Kuchen. Augenblicke später ein weiterer schriller Aufschrei: »Schlange!!« Die Wirkung war die einer Fanfare auf einen Kavallerietrupp. Blitzartig leerte sich die Konditorei. Alles flüchtete auf die Straße. Ein Großteil meines Kuchens lag noch immer auf meinem Teller. Ich bereute mein Timing, wollte nicht weg, hatte aber keine Wahl. Fräulein Alice hatte meinen Arm ergriffen und so fest gezogen, daß ich praktisch von meinem Sessel flog.

Im Nu waren wir den anderen auf die Straße gefolgt, wo unsere Gruppe sofort Schaulustige anzog. Ein immer größerer Kreis neugieriger Passanten umringte die Konditorei. In den vielleicht etwas langweiligen Ischler Spätnachmittag platzte die Nachricht, im Zauner sei etwas passiert. An die Rettung meiner Schlange war nicht mehr zu denken. Auf Zehenspitzen stehend, sah ich den Küchenchef mit einem Fleischmesser vorbeisegeln, das mir doppelt so scharf wie Vaters Rasiermesser schien und jedenfalls dreimal so lang wie meine arme Schlange. Das war wohl ihr Ende. Die Menge schwieg und ich hoffte auf ein Wunder. Wann immer ein Passant stehenblieb und vorhersehbare Fragen stellte, hörte man das Wort »Schlange«, danach ein kurzes Luftholen und ein unvermeidliches »Mein Gott!«. Keiner der Neugierigen ging weiter. Würde der tapfere Ritter aus den Niederungen der Konditorei siegen oder besiegt werden? Minuten vergingen und die Menge begann unruhig zu werden. Doch dann tauchte der Koch auf und erklärte die Konditorei für »schlangenfrei«. Die kurzfristig auf die Straße geflüchteten Gäste, durchwegs Damen, standen noch unter Schock. Nur zögernd bewegten sie sich zum Ort der Katastrophe. Vordergründig war die Ordnung wieder hergestellt, wenn auch einiges noch immer durcheinander lag. Wer in den Teesalon zurückkam, tat das nur, um liegengelassene Habseligkeiten einzusammeln.

Ich machte einen Schritt in Richtung dieser unruhigen Gruppe, als Fräulein Alices Hand mich fest an der Schulter packte. Das Drama hatte mich so gefesselt, daß ich sie ganz vergessen hatte. »Kurti, du bleibst hier, genau da. Rühr dich nicht weg. Ich hole nur meine Tasche, bin gleich wieder da.« Im Weggehen murmelte sie etwas von Qualität, die heutzutage überall nachlasse. Frau Zauners Stimme verfolgte die flüchtenden Gäste. Lautstark verteidigte sie die Ehre ihres Teesalons. »Eine Schlange kommt nicht einfach so hereinspaziert in mein schönes Café, auf eine Schale Tee. Unmöglich. Das steckt eine Verschwörung dahinter.« Mir tat sie leid. Wer hätte auch eine so extreme Reaktion auf meinen gutmütigen, harmlosen kleinen Freund vorhersehen können. Mir war klar, daß ich das niemals irgendwem erzählen durfte, nicht einmal dem verschwiegenen Peter Mayer. Es war einfach zu gefährlich. Auch hatte mich Fräulein Alices Reaktion geschockt. Die Vorstellung, der Verdacht könnte auf mich fallen, und die Konsequenzen wollte ich mir nicht einmal ausmalen.

Abends wurde ich zu Vater beordert und erschien gewaschen und bereit zum Schlafengehen. Er erkundigte sich nach unserem Ausflug. Ich antwortete ausweichend, daß er mir gefallen hätte. Fräulein Alice stand mit ungewöhnlich sphingischem Gesichtsausdruck daneben. Vater fragte, ob ich gewußt hatte, daß wir an diesem Nachmittag eigentlich zu dritt gewesen waren. Und dann hörte ich Unerwartetes, ein Wort, das mit »S« anfing, aber nicht »Schlange«, sondern »Schatten«. Wie konnte ich den nur übersehen, wo ich doch so stolz war auf meine »Schatten«-Aufspürkräfte? Zu allem Überfluß hatte der »Schatten« gut aufgepaßt und bemerkt, was ich in der Konditorei aus der Hosentasche zog. Vater wußte somit alles.

Es war die Rache aller »Schatten« für unentdeckte Lausbübereien, für ihre endlosen Wartestunden in der Kammer in der Schule, für die akrobatischen Sprünge hinter Bäume, Zäune und alle möglichen Fahrzeuge. Seit jener frühen Erfahrung mit der ruinierten Spielzeugbank und der Krampusrute war mir die Prügelstrafe erspart geblieben. Jetzt ließ ich kaleidoskopartig das ganze Durcheinander dieses Nachmittags an meinem inneren Auge vorbeiziehen und erwartete das Kommende. Es geschah … nichts! Vater sah mich nur mit dem mir bekannten strengelterlichen Blick an und die Länge der folgenden Strafpredigt brach alle Rekorde. – Ganz anders, und dennoch bei aller Kürze ebenso prägnant, Fräulein Alice, als sie mich anschließend zu Bett brachte: »Dein unüberlegter Streich hätte zu noch viel ernsteren Schäden führen können.« Hätte? Hatte er ja, denn meine Schlange war tot.

Das Lebensgefühl im Kriegsministerium war ein ganz anderes geworden, als wir zu Ende der Sommerferien nach Wien zurückkehrten. Ein paar Wochen nach Mutters Begräbnis starb Großmutter Schuschnigg. Vater und ich hatten innerhalb weniger Wochen unsere Mütter verloren. Großvater, auch er nun Witwer, zog zu uns. Vaters Adjutant Georg Bartl, der zum Oberstleutnant befördert worden war, lebte schon, seit Vater Bundeskanzler geworden war, in unserer großen Wohnung. Obwohl er in Wien Frau und Kind hatte, erwies sich das für alle Beteiligten als bequemer. Wir waren also ab Herbst 1935 praktisch ein Männerclub, zu dem nur Fräulein Alice und Liesl die weibliche Note beitrugen.

Mitte September 1935 erließ Deutschland die Nürnberger Rassegesetze. Im Oktober begann Italien seinen Eroberungsfeldzug in Abessinien und näherte sich in der Folge rasch dem Deutschen Reich an. Damit geriet Österreichs einziger politischer Rückhalt ins Wanken. Der amerikanische Gesandte, George Messersmith, berichtete, daß Österreichs unmittelbare Zukunft von seiner Abhängigkeit vom Schutz und der wirtschaftlichen Hilfe Italiens beherrscht würde. Das Land würde zwar die Unterstützung Englands und Frankreichs vorziehen, doch diese Staaten beschränkten sich darauf, Italien in Österreich freie Hand zu lassen, solange der Status Quo unangetastet bleibe. »Die Österreicher werden folglich von Frankreich und England in diese weitgehende Abhängigkeit von Italien gedrängt.«

Im Bemühen um Beruhigung an der Heimatfront wurde zu Weihnachten 1935 eine großzügige Amnestie verkündet. Von 1521 Sozialdemokraten, die nach dem 12. Februar 1934 verhafteten worden waren, kamen 1505 ebenso frei wie 440 der nach dem 25. Juli 1934 eingesperrten 911 Nationalsozialisten. Wie viele von diesen würden zu Wiederholungstätern werden?

Aber auch in Vaters Privatleben kündigten sich in Gestalt zweier Damen der Wiener Gesellschaft Veränderungen an. Auf der einen Seite »Tante Zoë«, Baronin Zoë von Schildenfeld, groß, eindrucksvoll, gebieterisch – und unverheiratet, auf der anderen »Tante Vera«, Mamas Freundin und Rudi Fuggers Mutter. Sie stand kurz vor der Annullierung ihrer Ehe mit Leopold Graf Fugger-Babenhausen durch die katholische Kirche. Ich war wahrscheinlich der einzige in Wien, dem das Konkurrenzverhältnis der beiden Damen verborgen blieb, von der möglichen »Trophäe« einmal abgesehen. War Vaters Leben bisher kompliziert genug gewesen, so doch ein Spaziergang im Vergleich zum jetzt Bevorstehenden.

Ein Aspekt im Leben eines Kindes ist Größe – oder der Mangel an Größe. Stehen in einem Raum genug große Möbel herum, so kann man ihn als Kind fast unbemerkt betreten. Eines Tages gelang mir genau das. Auf der Suche nach Fräulein Alice sah ich sie in der Küche auf einem Hocker sitzen. Liesl widmete ihre Aufmerksamkeit einem Berg Teig. Keine der beiden bemerkte mein Verschwinden hinter einem großen Küchenkasten, als ihr Gespräch über Papa, Tante Zoë und Tante Vera meine Neugier weckte. Zwischen Töpfen und Pfannen lauschte ich still, ohne mich zu schämen. Fräulein Alice schwieg und notierte den Tagesablauf, Liesl redete für beide.

»Es gibt keinen Anlaß, weder einen Musikabend noch ein Abendessen, bei dem nicht eine von beiden anwesend ist. Gestern Abend« – Liesl holte tief Luft – »war ich fast sprachlos (sie war nie sprachlos!), daß sie beide da waren, die Baronin Schildenfeld an einem Ende des Tisches und die Gräfin Fugger am anderen. Das muß anstrengend gewesen sein.« Eine weitere Pause, dann, in ruhigerem Ton: »Der arme Kanzler hat keine Chance. Eine von ihnen wird es schließlich schaffen. Merk dir, was ich gesagt habe.« Sie war am Ende ihres Monologs. Neugierig schaute ich um die Ecke. Liesl sah Fräulein Alice an.

»Ja«, sagte diese endlich, ohne den Blick von ihrem Notizbuch zu heben. »So etwas ist zu erwarten.« Sie unterbrach sich und schaute Liesl scharf an. »Aber man muß es ja nicht unbedingt bemerken.«

Liesl ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Aber die Gräfin Fugger hat sicher einen Vorteil, weil die Buben so gut befreundet sind. Ich frage mich, warum die Baronin Schildenfeld nichts gegen ihre grauen Haare tut. Sie schaut älter aus als meine eigene Mutter.« Da hatte Liesl recht. »Wenn du mich fragst, ist der kleine Rudi Fugger ein perfekter Vorwand, um hier auf Besuch zu kommen.« Liesls Gedanken, vom Teigkneten abgelenkt, sprangen herum wie Frösche. »Da gibt es keinen Zweifel. Am Ende macht die Gräfin Fugger das Rennen. Merk dir das. Sie liegt ganz klar vorne.«

Fräulein Alice fühlte sich provoziert, zeigte ihren Ärger zwar noch nicht, aber ich kannte sie. Es fehlte nicht viel. Wie wir alle mochte sie Liesl. Trotzdem ließ sich am Ton ihrer Stimme ihr Unwillen erkennen, über dieses Thema zu diskutieren. Ich kannte den Ton. Sie schlug ihr Notizbuch zu und sagte nur: »Genug davon!«

Liesl verstand, das Thema war erledigt. Sie zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf ihren Teig. Lautlos, wie ich gekommen war, verschwand ich wieder. Im übrigen empfand ich es höchst ärgerlich, solche für mich immerhin lebenswichtige Informationen nur so zufällig erhascht zu haben.

Anders als in den vergangenen Jahren nahm ich Weihnachten und Neujahr nur verschwommen wahr, obwohl Vater, Großvater, Fräulein Alice und Liesl alles versuchten, um uns zu beschäftigen und von traurigem Grübeln abzuhalten. Ein Termin jagte den anderen. Tagsüber tollte ich mit meinen Freunden herum, am Abend fiel ich todmüde ins Bett. Meistens wachte ich mit einem Salamibrot in der Hand oder auf dem Nachtkastl auf. Wenn ich Vater manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekam, war dieses Brot doch der Beweis, daß er nach mir gesehen hatte, und ich betrachtete es als Gegengabe für die Fische, die ich für ihn in St. Gilgen gefangen hatte.

Der lange Weg nach Hause

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