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Herumgereicht

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An einem der ersten Frühlingstage des Jahres 1936 holte mich Fräulein Alice mit einer großen Überraschung von der Schule ab. Am selben Morgen, ich war schon auf dem Weg in die Schule, war ein Trupp Möbelpacker im Kriegsministerium eingefallen und hatte unseren Haushalt ins Belvedere übersiedelt, genaugenommen in das ehemalige Gärtnerhaus, nicht in das Palais. Der Eingang lag schräg gegenüber dem Südbahnhof am Landstraßer Gürtel. Dort bogen wir ein und folgten der Auffahrt bis zu einem schönen, einstöckigen Haus, dessen unauffällige Fassade in bemerkenswertem Widerspruch zum beeindruckenden Interieur stand. Zunächst kam man in ein ovales Foyer mit schwarzweißem Marmorboden. Die mit gelbem Damast bespannten Wände wurden von Pilastern unterbrochen, die den hohen Plafond trugen. Geflügelte Steinfiguren bewachten den Eingang. Fragend sah ich Fräulein Alice an. »Warte nur, bis du den Rest siehst«, sagte sie lachend und führte mich in den nächsten Raum. »Wir fangen nicht ohne Grund hier an. Ich möchte dir etwas ganz Besonderes zeigen.« Ein Flügel, der fast das ganze Parkett bedeckte, stand auf einem Perserteppich von ungeahnten Dimensionen.

Durch eine Reihe französischer Fenster hinter dem Klavier schien die Sonne herein, das Licht spiegelte sich im Luster und fiel auf eine Empire-Sitzgarnitur und Tische mit marmornen Platten. »So symmetrisch und schön das hier auch ist, was ich dir zeigen möchte, ist dort.« Sie ging zu einem stattlichen, alten Wandschrank und öffnete mit einer feierlichen Geste eine der Türen. Dahinter war … nichts. Sie stieg in den Schrank. »Kurti, jetzt mach die Tür gut zu und zähl bis zehn. Schau nicht weg, blinzle nicht einmal. Wenn du bei zehn bist, öffne die Tür wieder. Verstanden?« Es hätte ein Schlüsselloch in der Tür geben müssen, doch konnte ich keines sehen. »Da ist kein Schlüsselloch, dummer Kerl.« Schrecklich, wie genau sie oft wußte, was ich gerade dachte. »Also vergiß nicht! Zähl zuerst bis zehn. Laut.«

Ich schloß die Tür, zählte wie befohlen bis zehn und öffnete sie wieder. Der Kasten war leer. Ratlos stand ich da, stieg hinein, griff in die Luft und betastete die Innenwände, bis mir auf die Schulter geklopft wurde. Ich drehte mich um. Da stand sie, breit grinsend. Sie nahm meine Hand und legte sie auf etwas, das sich wie Metall anfühlte, einen Hebel, der aus der hinteren Ecke des Kastens hervorschaute und den ich in der Eile übersehen hatte. Ich drückte ihn hinunter, eine Wand sprang auf und dahinter lag der Garten. Jetzt war auch ich von Fräulein Alices Fröhlichkeit angesteckt, als sie mich zum angrenzenden Biedermeiersalon zog. Sofas und Sessel mit grün-weiß gestreiften Seidenüberzügen waren im Zimmer verteilt, dazwischen Kredenzen und Kommoden in satten Brauntönen. »Die Sachen deiner Mutter schauen doch wunderschön aus in diesem Zimmer. Hier kannst du soviel Zeit verbringen, wie du möchtest.« Sie fuhr mir durchs Haar und ergänzte: »Hier ist ja auch wenig Zerbrechliches, und das ist schon an dich gewöhnt.«

Als nächstes kamen wir ins Eßzimmer. Ein kurzer Griff zu einem Schalter und ein riesiger Luster mit hunderten Kristallprismen erwachte zum Leben. Direkt darunter stand ein runder, glänzend polierter Eßtisch. Weniger gut schienen mir die beleuchteten Glasvitrinen an beiden Enden des Zimmers dazuzupassen. Sie waren voll alten Porzellans, dem eine Reinigung gut getan hätte. Aber Fräulein Alice meinte, altes Porzellan solle so ausschauen. Es war wirklich unglaublich, wie sie meine Gedanken las.

In Vaters Arbeitszimmer bemerkte ich als erstes den in einem Feld reifen Getreides seine Sense schwingenden Bauern von Egger-Lienz. Das Bild war mir vertraut, dank seiner fühlte ich mich weniger als Eindringling in einem fremden Haus. Ich setzte mich an Vaters Schreibtisch. Vor mir standen die in Silber gerahmten Fotos von Mutter und mir und das von meinen Großeltern. Das waren also die ersten Dinge, die Vater sah, wenn er sich hinsetzte. Wir waren immer alle da, alle zusammen. Ich warf noch einen Blick in das angrenzende Schlafzimmer und Bad. Die Bürsten, Kämme und anderen Dinge, die Vater benützte, beruhigten mich, sie versprachen seine tägliche Anwesenheit.

Auch mein Zimmer war riesig. Es schien mir doppelt so groß wie jenes, das ich erst am Morgen verlassen hatte, und das war großzügig dimensioniert. »Fräulein Alice, ich glaub es nicht. Da ist meine ganze Modelleisenbahnanlage, mit Schienen, Tunnels, Bäumen und dem Rangierbahnhof, und das alles füllt nicht einmal diese eine Ecke aus. Hier kann ich sogar Radfahren oder Rollschuhlaufen.« Mit einem unterdrückten Lächeln runzelte sie die Stirn. »Damit eines klar ist, junger Mann, in diesem Zimmer wird weder Rad gefahren noch Rollschuh gelaufen.« Ich öffnete die Türen der Kleiderkästen und schaute aus jedem Fenster in die Gärten. Das würde alles gut klappen.

Großvaters Zimmer und Bad war gleich nebenan. So würde er leicht zu meiner Eisenbahn kommen, die er genauso mochte wie ich. Am anderen Ende des Hauses lag Oberstleutnant Bartls Quartier.

»Fräulein Alice, das muß schon ein besonderer Gärtner gewesen sein, wenn der so gelebt hat.« Das brachte sie zum Lachen. »Zur Zeit des Gärtners des Prinzen Eugen, der diese großartige Palastanlage erbauen ließ, hat das nicht so ausgeschaut, Kurti. Seither wurde in den zweihundert Jahren hier wohl einige Male umgebaut, und zuletzt haben viele Leute hart gearbeitet, damit daraus ein so schönes Zuhause für deinen Vater und dich wird. Die Räume im Kriegsministerium waren doch nur eine Übergangslösung. Das hier ist viel besser geeignet.«

»Trotzdem. Ich möchte wetten, daß der Gärtner weinen würde, wenn er sein altes Haus jetzt sehen könnte«, sagte ich und war glücklicher denn je, seit wir uns zum ersten Mal in Richtung Wolfgangsee aufgemacht hatten.

»Kurti, komm her! Es geht noch weiter.«

Wir nahmen den Weg durch das Musikzimmer. Draußen erwartete uns eine wahre Farbenpracht. Die riesigen Blumenbeete standen in voller Blüte. Rote Geranien, so groß wie kleine Bäume, Rosensträucher in verschiedenen Farben, lila Gladiolen, rosa Begonien. Der hintere Teil des Gartens wurde von einer dichten, hohen Buchsbaumhecke umrahmt. »Wer wohnt hier hinten?«, fragte ich. Sie winkte mich weiter.

»Komm!«

Die Hecke verdeckte eine Tür. Fräulein Alice schritt hindurch. Vor uns lag ein anderer Teil der Gärten des Palais Belvedere, nicht mehr streng angelegt, ein natürlich bewaldetes Areal. Im Vordergrund stand eine riesige Ulme, dahinter Eichen und Linden. Es gab Gruppen von blaßvioletten Rhododendren und Grasteppiche mit Fußwegen. An einem großen, runden Seerosenbecken vorbei gingen wir auf das eigentliche Belvedere zu. Fräulein Alices Freude an allem, was wir sahen, war entzückend kindlich. Sie platzte fast vor Aufregung.

»Kannst du dir vorstellen, daß wir das alles nur mit den Nonnen vom Kloster nebenan teilen müssen?«

»Da wohnen Nonnen nebenan?«

»Es ist das Mutterhaus der ›Töchter der Göttlichen Liebe‹, der Eingang ist ganz da drüben, an der Ecke Jacquingasse.« Und leicht sarkastisch fügte sie hinzu: »Was hast du gedacht? Daß die jeden Tag zum Tee bei dir vorbeikommen? Ihr Tagesablauf dürfte schon lange ziemlich geregelt gewesen sein, ehe wir hierher gezogen sind, Kurti. Außerdem, wenn wir nicht zu ihren üblichen Stunden in den Park gehen, werden wir sie nicht viel sehen. Ich könnte mir denken, daß sie nicht einmal so begeistert sind, den Park jetzt mit uns teilen zu sollen. Hast du dir das einmal überlegt?«

Hatte ich natürlich nicht. Auch machten mir Nonnen als Nachbarinnen nicht viel aus. Ich fragte mich nur, ob ihre Anwesenheit vielleicht hinderlich wäre.

»Und dann gibt es da noch den Botanischen Garten, zu dem wir Zutritt haben, wenn er für die Allgemeinheit geschlossen ist. Ich würde sagen, daß zwischen den Nonnen und dem ganzen Platz, den wir hier haben, ein kleines Fleckchen Himmel ist. Hab ich nicht recht?«

Ich dachte an Purzel und wie sehr es ihm hier gefallen würde. Ohne Zweifel hatten wir beide großes Glück.

Die neue Umgebung und die Zeit, die Wunden heilt, wirkten positiv auf Vater und mich, abgesehen von meiner doppelseitigen Lungenentzündung mit Scharlach als Draufgabe. Purzel war nicht der einzige gewesen, der an den kühlen Frühlingsabenden nicht ins Haus zurück gewollt hatte. Aber Glück und die Zeit retteten auch diese Situation: In Wien wirkte einer der bekanntesten Lungenspezialisten, Professor Heinrich Neumann. 1938 sollte auch dieser hervorragende Arzt gezwungen werden, sich in Amerika ein neues Zuhause zu suchen. Dort kümmerte er sich um Präsident Franklin D. Roosevelts Lungen und wurde noch später Leibarzt von König Ibn Saud, dem Herrscher Saudi-Arabiens. Jetzt aber war ich es, dem er seine Aufmerksamkeit widmete.

Die Aktivität in den Gängen des Belvederehauses nahm merklich zu. Kompressen, Wasserschüsseln, kalte und heiße Getränke wurden hin und her getragen. War es für mich deprimierend, zeigte sich doch endlich wieder Licht am Ende des Tunnels. Auch anderer Verkehr nahm zu: Lieferungen neuer Spielzeugsoldaten, neue Strecken für meine – und Großvaters – elektrische Eisenbahn, auch mancher Tunnel oder Landschaften aus Papiermaché. Nach drei Wochen im Bett war ich vollkommen überzeugt, das alles verdient zu haben. Als sich die Dinge normalisiert hatten, wurde ich auch wieder in den Salon gerufen, durfte dem Ruf aber erst nach genauer Musterung durch Fräulein Alice Folge leisten.

Eines Nachmittags kam der österreichische Rüstungsmagnat Fritz Mandl mit seiner Frau zum Tee. Ich hatte vorher noch kein Ehepaar gekannt, bei dem Mann und Frau verschiedene Familiennamen trugen. Ein weiteres Mysterium war, daß Herrn Mandls Frau »Fräulein« genannt wurde. Fräulein Alice als Quelle allen praktischen Wissens erklärte mir, daß Hedwig Kiesler, Herrn Mandls Frau, ein Filmstar war und daß Filmstars immer »Fräulein« genannt wurden, auch wenn sie verheiratet waren. Aber letztlich war es mir egal, wie sie hieß. Wäre ich ein Hund gewesen, ich hätte mich zu ihren Füßen gelegt. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Genaugenommen klebte ich an ihr wie eine Klette.

Einmal zwickte sie mich spielerisch in die Nase und zog mich an den Ohren, wie man das mit einem Hund machen würde. Ich erwiderte das mit einem freundlichen Klaps auf ihren Hintern. Dabei kam meine Hand zu meiner Überraschung in Kontakt mit etwas, das man nur als anatomisch unnatürliche Oberfläche bezeichnen kann. Fräulein Alice wurde blaß, trotz aller Selbstbeherrschung blieb ihr der Mund offen. Ich konnte nicht umhin anzunehmen, daß ich eine Grenze übertreten hatte. Glücklicherweise hatte Vater, mit Herrn Mandl im Gespräch vertieft, nichts bemerkt. Genau betrachtet wäre wohl auch Herr Mandl von meiner Geste nicht begeistert gewesen. Doch Fräulein Kiesler war keine Spielverderberin und begnügte sich damit, mir mit dem Finger zu drohen und meine Haare zu zerzausen. Nachdem ich entlassen worden war, führte Fräulein Alice mich hinaus, ihre Hand ziemlich fest an meinem Nacken. Schweigend ging es bis in mein Zimmer. Dort setzte sie mich hin.

»Kurti, was hast du getan, das du nicht hättest tun sollen?«

»Daß ich Fräulein Kiesler auf den Popo geklopft habe?«

»Genau das ist vollkommen unmöglich. Du darfst nie, nie wieder eine Dame so anrühren. Verstanden?«

Nachdem ich versichert hatte, völlig verstanden zu haben, hörte ich zweimal, was für ein Glück ich hatte, daß Vater und Herr Mandl meine grobe Unhöflichkeit nicht bemerkt hätten. Nur deshalb könne ich noch auf meinem Hintern sitzen. Warum aber war Fräulein Kieslers »derrière« so versteinert? Ich wurde aufgeklärt: »Das ist ein Kleidungsstück, das Korsett heißt. Es läßt eine Dame schlanker aussehen, indem es den Körper einschnürt.«

So wurde ich als Zehnjähriger in die bizarre Welt der weiblichen Eitelkeit eingeführt. Neugierig, aber fragen wollte ich auch nicht, ging ich um Fräulein Alices aufrechte Gestalt, um im Lichte dieser neuen Entdeckung festzustellen, ob auch sie dieser strafenden Verbesserung der Weiblichkeit erlegen war. Ihr Gesicht schien sich leicht zu verfärben und sie sagte: »Du brauchst gar nicht weiterzuschauen. Nichts liegt mir ferner, als mich selbst zu foltern. Und damit hat es sich mit diesem Thema!« Ich hätte es wissen müssen. Sie war viel zu vernünftig.

Tatsache blieb, daß Fräulein Kiesler, trotz ihrer Indifferenz der eigenen Bequemlichkeit gegenüber, die bei weitem schönste Besucherin war, die wir je hatten. Ein Jahr später verließ sie Österreich und Herrn Mandl in Richtung Amerika, wo es mit ihrer Filmkarriere steil bergauf ging, nachdem der Filmproduzent Louis B. Mayer sie in Hedy Lamarr umgetauft hatte.

Solche Ausflüge in den Salon erlaubten mir kurze Blicke auf einige der außergewöhnlichen Persönlichkeiten, denen Vater damals begegnete. Bevor sie mich in den Salon führte, drückte mir Fräulein Alice oft mein immer voller werdendes Autogrammbuch in die Hand. Das belebt meine Erinnerungen bis heute, wenn ich darin blättere. Die Bücher von Baron Hans von Hammerstein-Equord, einer der Besucher, ein begnadeter Schriftsteller und Dichter, bevor er 1936 kurzfristig Justizminister wurde, würde ich allerdings erst später lesen. Weder der lockenköpfige Arturo Toscanini noch die hübsche, blonde Lotte Lehmann machten einen anhaltenden Eindruck auf mich. Damals beschäftigte ich mich nicht mit Musik.


Lotte Lehmann und Arturo Toscanini trugen sich in mein Autogrammbuch ein.

Immer mehr hervorragende jüdische und katholische Persönlichkeiten strömten aus Deutschland nach Österreich. Wie Lotte Lehmann flohen auch Bruno Walter, Elisabeth Schumann, Carl Zuckmayer, Dietrich von Hildebrand und viele, viele andere vor Hitler. Später schrieb mein Vater, daß »… Werte der deutschen Kultur, die in ihrer früheren Heimat heimatlos geworden waren, hier ein neues Vaterland fanden … Weimar war vom Dritten Reich praktisch verbannt worden und hatte in Wien eine neue Heimat gefunden.«

Bei diesen Erinnerungen sollte ich nicht den unglücklichen Emil Fey vergessen, den ehemaligen Minister und Vizekanzler, und seine Frau Malvene, die gleich nach dem Anschluß erschossen wurden, ebenso wenig wie Umberto Herzog von Savoyen, den zukünftigen König von Italien. Den bleibendsten Eindruck aber machte der Prinz von Wales, nicht nur auf mich, sondern mehr noch auf meinen Vater und den Wiener Polizeipräsidenten. Am Tag seines Besuches spielte ich gerade mit meinen Truppen von Spielzeugsoldaten, als Fräulein Alice mit jenem, mir längst zur Genüge bekannten Ausdruck von Zielstrebigkeit hereinkam. Nachdem sie mich von oben bis unten inspiziert hatte, erklärte sie ein frisch gebügeltes Matrosenhemd und die neuen Schuhe für angezeigt. Die Schuhe machten mich stutzig. Kein normaler Gast hätte sie geprüft. Auch meine Hände wurden nach energischem Bearbeiten mit der Nagelbürste in Ordnung befunden.

»Fräulein Alice, kann Purzel mich begleiten?«

»Auf gar keinen Fall!«

Obwohl immer freundlich und nie aus der Ruhe zu bringen, klang Fräulein Alice fast barsch, ein Zustand, in dem ich sie bisher nie gesehen hatte. Das und die militärische Präzision, mit der sie mich herrichtete, waren deutliche Zeichen erhöhter Nervosität.

»Sag mir bitte, was so wichtig ist, daß ich meine neuen Schuhe anziehen soll?«

Sie drehte mich so, daß ich ihr gegenübersaß, legte ihre Hände auf meine Schultern und sagte feierlich: »Kurti, der Prinz von Wales ist da. Er wird der nächste König von England.«

»Fräulein Alice, was macht ein König?«

»Wir haben keine Zeit, um über Berufe zu diskutieren. Laß mich deine Verbeugung sehen.«

Es war nicht das erste Mal, daß ich mich verbeugte, aber es war das erste Mal, daß ich es vor Fräulein Alice proben mußte.

»In Ordnung, das geht. Du hast so höflich zu sein, wie du kannst, und du hast nicht über die Pflichten eines Königs zu reden.«

Nicht nur, daß ihr Tonfall auffallend frei von Humor war, sie hatte nie zuvor mit mir wie mit jemandem gesprochen, der nicht gleichzeitig gehen und pfeifen kann. An der Tür zum Biedermeiersalon wurde ich sanft nach vorne geschoben und Fräulein Alice verschwand.

Ich kam näher und grüßte den Prinzen mit meiner höfischsten Verbeugung, woraufhin Seine Königliche Hoheit mich aufhob und auf sein Knie setzte. Es folgten die üblichen Erwachsenenbemerkungen: »Was bist du für ein großer Bub …« und Fragen nach meiner liebsten Sportart. Ich fürchtete, daß meine Angelerfolge mit dem englischen Rugby nicht ganz mithalten konnten. Doch meine Leidenschaft für das Skifahren sprach wieder für mich. Als nächstes sollte ich über die schönsten Sehenswürdigkeiten unseres »beautiful Wien« berichten. Ich antwortete, der Prater, der berühmte Freizeitpark, sei wunderbar, warnte aber vor dem Zirkus, der stinke fürchterlich. Ob das eine befriedigende Antwort war, weiß ich nicht.

Gleich darauf wurde ich von seinem Knie gehoben und wieder auf den Boden gestellt. Ich hörte zu, als Vater und er redeten, und mir fiel ein, daß jemand einmal Vater als »auf ernste Art gutaussehend« beschrieben hatte. Das war er wohl auch. Der künftige König wiederum erschien mir weder königlich noch majestätisch. Er hatte ein nettes Gesicht, doch es war weich. Ich überlegte mir, welche Vorteile ein Hermelinumhang und eine Krone bringen würden. Würde es einen Unterschied machen?

»Kurti«, Vaters Stimme brachte mich in die Wirklichkeit zurück, ich war entlassen. Am Eingang zum Salon erschien die Geisterhand von Fräulein Alice und führte mich weg. Was für eine Aufregung wegen knapp fünf Minuten! Der Abend kam und ich zog meinen Pyjama an. Als Fräulein Alice meine Hose ausbeutelte, fiel zu unser beider Überraschung ein silbernes Mariazeller-Fünfschillingstück heraus.

»Was ist das?«, schrie ich und stürzte mich auf die Münze.

»Genau, was ist das?«, hörte ich Fräulein Alice sagen.

Ich hatte nie mehr Geld besessen als meine fünfzig Groschen Taschengeld, und die blieben mir nie lang. Auch Zugang zu Geld hatte ich nie, außer dem, was in der Küche lag, Liesls Haushaltsgeld wurde auf einem Teller in der Speisekammer aufbewahrt.

»Kurti, das ist viel Geld. Woher ist das?«

Zuerst dachte ich an einen Witz, einen von Fräulein Alices unerwarteten Tricks. Vielleicht konnte sie Münzen herbeizaubern. Daß die Hypothese falsch war, sah ich sofort an ihrem Gesichtsausdruck. Ich sagte: »Fräulein Alice, das gehört mir nicht.« Die Wortwahl war unglücklich.

»Sicher gehört dir das nicht. Versuchen wir es noch einmal. Woher hast du das Geld?«

Ich war sprachlos und schaute von der Münze auf Fräulein Alice. Jetzt kam, was in unlösbaren Situationen immer passierte: Vater. Wir marschierten zu ihm. In der Bibliothek beschrieb Fräulein Alice die Umstände. Meiner Antwort, der einzigen, die ich auf die unvermeidliche Frage geben konnte, folgte eine schallende Ohrfeige. Ich war nie zuvor ins Gesicht geschlagen worden. Die Krampusrute, das schon, manchmal auch so auf den Hintern, aber noch nie ins Gesicht. Mehr als der Schmerz und die Erniedrigung schockierte mich allerdings, daß mein Vater mich für einen Dieb hielt, für einen Dieb und Lügner. Selten genug sah ich ihn, und um so weniger hielt ich es aus, der Grund für sein Mißfallen zu sein. Schweigend verfluchte ich die Münze und das Schicksal der ungerecht Beschuldigten. Erst viele Jahre später löste sich das Rätsel: Es war wirklich ein Zaubertrick gewesen, aber Fräulein Alice war nicht dafür verantwortlich gewesen. Der Herzog von Windsor, zuvor Prinz von Wales und kurz König Edward VIII., gab zu, mir die Münze in die Tasche gesteckt zu haben, als ich an jenem Nachmittag auf seinem Schoß saß. Was als wunderbare Überraschung gedacht war, ging völlig daneben bei einem Empfänger, der nie mehr Geld als fünfzig Groschen besessen hatte.

Wäre es nur um diese für mich zwar schmerzhaft endende, sonst aber unbedeutende Episode gegangen, der »Besuch« hätte gewiß keine Wellen geschlagen. Es kam aber anders.

Auf seinem königlichen Jagdausflug in den Süden Österreichs war Wien nur Zwischenstation. Hier aber verhielten sich Königliche Hoheit jedoch – Sicherheitsrisiken hin oder her – vollkommen zwanglos und bewegten sich frei in der Stadt, immer nur momentanen Eingebungen folgend. Der arme Polizeipräsident sah alle minutiösen Vorkehrungen über den Haufen geworfen, konnte nur beten, daß nichts passierte, raufte sich seine letzten Haare aus und alterte in den paar Tagen sichtlich.

Der Höhepunkt aller Selbständigkeit des königlichen Gastes wurde jeweils gegen Abend erreicht. Betrat der Prinz von Wales das Abendlokal seiner spontanen Wahl, so traf er unweigerlich auf gut gekleidetes Publikum, das sich in festlicher Atmosphäre und bei angeregter Konversation am Angebot aus Küche und Keller delektierte. Und immer, wundersamerweise, war der beste Tisch noch frei. Dem »Wunder« wurde freilich sozusagen regierungsamtlich nachgeholfen. Vorsorglich setzte man die besten Restaurants der Stadt allabendlich in Alarmbereitschaft, eines davon würde der hohe Gast wohl mit seiner Anwesenheit auszeichnen. Hatte man »seine« Wahl in Erfahrung gebracht, mühsam genug und meist sehr kurzfristig, setzte hektische Betriebsamkeit ein. Da Königliche Hoheit unter Wienern zu speisen wünschten, wurde eine Anzahl verläßlicher, gesellschaftlich gewandter höherer Beamter samt ihren Damen dem Anlaß entsprechend ausstaffiert und zu bewußtem Restaurant in Bewegung gesetzt, um dort unverdächtig gutbürgerliches Publikum zu markieren. Die Kosten dieses »gesellschaftlichen Potemkin« müssen gigantisch gewesen sein: Ausstaffierung, vor allem der Damen, Überstunden, Restaurantrechnungen, Stornierung der Reservierungen in anderen Lokalen, die der Prinz hätte wählen können … Da fielen ein paar Straßenlaternen kaum mehr ins Gewicht, auf die der hohe Gast nach einem der abendlichen Gelage und ausgiebigem Konsum besten Cognacs Schießübungen veranstaltete. Er war selbst zu vorgerückter Stunde ein ganz hervorragender Schütze!

Als feststand, was das alles zusammen unter dem Strich gekostet hatte, raufte sich Vater die Haare. Böses Blut machte die Sache ohnehin. Aber schließlich lag Sarajewo kaum mehr als zwanzig Jahre zurück, und nur die Möglichkeit eines Attentats auf den Prinz von Wales erschien allen Verantwortlichen als wahrer Albtraum. So gesehen, und in der ohnehin angespannten Lage Österreichs, hielt die Regierung Mühen und Aufwand für ebenso notwendig wie vertretbar.

Am 11. Juli 1936 unterzeichneten Österreich und das Deutsche Reich ein Abkommen, das die Normalisierung der bilateralen Beziehungen einleiten sollte. Österreich erreichte eine Anerkennung seiner staatlichen Souveränität, das Abflauen des Nazi-Terrors und, vor allem, die Aufhebung der Tausend-Mark-Sperre und anderer wirtschaftlicher Diskriminierungen. Im Gegenzug mußte unter anderem eine politische Amnestie für inhaftierte Nationalsozialisten zugestanden werden und die Vertreter des sogenannten nationalen Lagers zu politischer Verantwortung herangezogen werden.

Nur eine Woche später brach am 18. Juli 1936 der Spanische Bürgerkrieg aus. Die Unterstützung Francos durch Italien und in der Folge das Deutsche Reich schweißte diese beiden Staaten noch enger zusammen und schwächte damit neuerlich die heikle Stellung Österreichs.

Unser Sommer 1936 in St. Gilgen konnte nur besser als der vorangegangene werden. Fräulein Alice hatte ihrem ehemaligen belgischen Arbeitgeber, Monsieur Vincent Cols, das Salzkammergut so bildhaft als ideale Ferienregion beschrieben, daß er tatsächlich mit seinen Kindern im Schlepptau anreiste. Michel war in meinem Alter, die ausnehmend hübsche Suzy drei Jahre älter. Sie schlugen ihre Zelte in St. Gilgen auf. Wir angelten gemeinsam, schwammen und grillten unsere Abendessen unter freiem Himmel, stets unter den wachsamen Augen von Fräulein Alice. Diese Wochen wurden zum Höhepunkt meines Sommers. Als die Belgier abreisten, riß das ein klaffendes Loch in meinen Tag.

Doch Zehnjährige erholen sich schnell. Ich konnte wandern, schwimmen, Pilze suchen oder nur auf dem Steg liegen, Angelrute und Köder vergessen und einfach den Vögeln nachschauen. Aber auch herannahende Sommergewitter hatten ihren Reiz, wenn ich von meinem überdachten Balkon zuschaute, wie sich zunächst in der Ferne dramatische, rabenschwarze Wolkengebirge zusammenzogen, aus denen zunächst nur tiefes Grollen kam, bis die Blitze auch in unserer Nähe über den Himmel fuhren. Meistens dauerte das aber nur kurz. Die dazu gehörenden Regengüsse ließen Blüten und Laub in der wiederkehrenden Sonne um so heller leuchten. Wenn die Nacht hereinbrach und die vollkommene Dunkelheit nur vom Mondschein und den Sternen durchbrochen wurde, lag ich mit Purzel gerne auf der oberen Veranda und lauschte auf die nächtlichen Geräusche des Sommers und den sanft flüsternden Wind. Da war das Leben für einen Augenblick vollkommen.

Mit solchen Erinnerungen trat ich nach dem Sommer im Kollegium Kalksburg ein.

Der lange Weg nach Hause

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