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Schockwellen
ОглавлениеAm 30. Jänner 1933 war in Deutschland Hitler an die Macht gelangt.
Am 4. März 1933 wurde dem österreichischen Parlament ein für die Sozialdemokraten wichtiger Gesetzesentwurf vorgelegt. Der Parlamentspräsident hat kein Stimmrecht, seine beiden Stellvertreter jedoch schon. Es gab eine Pattsituation. Auf Anraten seines Parteikollegen Otto Bauer legte der Präsident, der Sozialdemokrat Karl Renner, sein Amt nieder. So würde das Amt an den Christlichsozialen Rudolf Ramek weitergereicht werden, und die Sozialdemokraten hätten zwei Stimmen mehr gehabt. Um das zu verhindern, trat auch Ramek zurück. Um nicht zum Spielball zwischen den zwei anderen Parteien zu werden, trat nun auch Sepp Straffner, Großdeutscher und zweiter Stellvertreter Renners, zurück. Dadurch hatte sich das Parlament de facto selbst aufgelöst.
Diese Verfassungskrise wurde durch Bundeskanzler Dollfuß gelöst. Er setzte die außer Kraft gesetzten kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetze von 1917 wieder ein. Wenn man Hitlers Machtergreifung, seine öffentlich geäußerten Ansichten über Österreich, wie sie in »Mein Kampf« zu finden sind, und die fast permanente Pattsituation im Parlament, die durch die fast vollständige Unfähigkeit der Parteien, sich auch bei den einfachsten Dingen zu einigen, bedingt war, berücksichtigt, war das eine glückliche Wendung für Bundeskanzler Dollfuß. Er glaubte nun in der Lage zu sein, wenigstens einige der gravierendsten Mißstände im Parlament beseitigen zu können. Zunächst wurde Ende März 1933 der Schutzbund, die sozialdemokratische Miliz, verboten, am 6. Mai die Kommunistische Partei und schließlich am 19. Juni die NSDAP.
Am 27. Mai 1933 verfügte Nazi-Deutschland eine Sondersteuer von tausend Reichsmark für jede Ausreise nach Österreich. Da die deutschen Feriengäste immer rund sechzig Prozent aller nach Österreich reisenden Touristen gestellt hatten, konnten die augenblicklich eintretenden Folgen, vor allem in den wirtschaftlich weitgehend auf den Fremdenverkehr angewiesenen Bundesländern Tirol, Vorarlberg, Salzburg und Kärnten, nur katastrophal sein. Genau das war beabsichtigt: die Sabotage der österreichischen Wirtschaft. Gleichzeitig mit der »Tausend-Mark-Sperre« überschwemmte eine Flut von Nazi-Terror die kleine Republik. Jeder verfügbare Sprengkörper wurde verwendet. Den ganzen Sommer hindurch fand man unzählige Verstecke mit Sprengmaterial. Doch die Bomben gingen weiter hoch, mit bis zu 125 Attentaten pro Monat. Das Land wurde systematisch durch Attentate auf Kraftwerke, Umspannwerke, Bahnhöfe, Brücken, Amtsgebäude und Polizeiposten geschwächt. Es gab auch einfachere Arten der Sabotage, wie das Durchtrennen von Telefonleitungen. Züge wurden oft gestört: Ein Teil der Oberleitung wurde beschädigt oder zerstört, oder es wurden Felsbrocken auf die Gleise gelegt. Es gab mehrere Attentatsversuche auf den Bundeskanzler, den Vizekanzler und den Justizminister.
Der Vertrag von St. Germain erlaubte Österreich, ein stehendes Heer zu unterhalten, doch eines mit nicht mehr als 30 000 Soldaten. Das war vollkommen unzureichend für die Verteidigung und Sicherung eines Gebiets von 84 175 km2. Es gab unzählige Möglichkeiten, Unruhe zu stiften und die Polizei in die Irre zu führen.
Auf der Suche nach wohlgesinnten Nachbarn setzte sich Bundeskanzler Dollfuß der Augusthitze Italiens aus. Dort wurde ihm der Empfang zuteil, auf den er gehofft hatte. Mussolini hatte für Hitler wenig übrig und versicherte Österreich seiner Unterstützung. Zusätzlich war da noch Österreichs Nützlichkeit als Pufferstaat. Die Aussicht auf deutsche Truppen am Brenner konnte für den italienischen Diktator nicht erstrebenswert sein.
Anfang Februar 1934 explodierten an nur einem Tag vierzig Bomben. Auf Regierungsmitglieder und andere österreichische Patrioten wurden Anschläge auch mittels Briefbomben verübt.
Der 12. Februar 1934 begann für uns mit der Meldung einer Explosion in unserer Innsbrucker Wohnung. Durch den Briefschlitz war eine Bombe hineingeworfen worden. Aber das war die weitaus unwichtigste aller schlechten Nachrichten an diesem Schicksalstag. Als hätte das Land mit dem Naziterror nicht genug zu tun gehabt, begann der ebenso kurze wie überaus blutige Bürgerkrieg zwischen militanten Sozialdemokraten und den von der Heimwehr unterstützten Ordnungskräften der Regierung.
Emil Fey, der Vizekanzler und Sicherheitsminister, hatte eine Durchsuchung des Hauptquartiers der Sozialdemokratischen Partei in Linz nach Waffen angeordnet. Während der Durchsuchung kam es zu einer Schießerei. Später wurden in Wien Kraftwerke beschädigt und Telefonleitungen gekappt. Der verbotene Schutzbund erhob sich. In Wien wurden mehrere Polizisten durch Heckenschützen umgebracht, was das Pulverfaß zur Explosion brachte, und so eskalierten die Kämpfe. Bundeskanzler Dollfuß beorderte Truppen in den Karl-Marx-Hof in Wien. Als militärisches Hauptquartier des Aufstands war der Gemeindebau schon lange vorher von allen verlassen worden, die nicht zum Schutzbund gehörten. Die Schlacht wütete. Endlich, nach drei Tagen, beruhigte sich die Situation.
Im Mai 1934, als Optimisten meinten, eine zaghafte Beruhigung der Lage zu erkennen, trat George Messersmith seinen Posten als neuer US-Gesandter in Wien an, einen Dienst, der äußerst kurz geworden wäre, hätte man im Hotel Bristol, wo er vorerst Quartier nahm, nicht rechtzeitig einen Sprengsatz entdeckt, mächtig genug, um das ganze Haus in die Luft zu jagen.
Dieser Sommer 1934 war besonders heiß. Wer immer konnte, entfloh der brütenden Hitze in der Stadt. Am 25. Juli fuhr Mutter mit ein paar Freunden ins Strombad bei Klosterneuburg, für uns Buben ein ganz besonderes Ereignis. Nach dem Mittagessen wurde sie zum Telefon gerufen. In der Annahme, daß es Vater sei, folgte ich ihr hinaus. Während sie zuhörte, verfinsterte sich ihre Miene zusehends, und nach ein paar kaum hörbaren Worten legte sie blaß und still den Hörer auf, nahm wortlos meine Hand und führte mich zurück zu unserer Gesellschaft. Dort erklärte sie, in Wien dringend gebraucht zu werden. Daß sie soeben vom Mord an Bundeskanzler Dollfuß erfahren hatte, verschwieg sie uns. Wir sollten bleiben und uns gut unterhalten. Der Chauffeur werde später zurückkommen und uns abholen. Sie umarmte mich und ermahnte mich, brav zu sein, als hätte ich nicht gewußt, daß ich mich vor Gästen niemals schlecht benehmen durfte. Mit einem sehr unguten Gefühl sah ich sie wegfahren.
Gegen Abend brachte uns das Auto zurück in die Stadt, wo ich als letzter zuhause abgesetzt wurde. Schon in der Nähe des Augartens standen auffällig viele Polizisten am Straßenrand, im Park selbst und in der Auffahrt zum Palais dann auch Soldaten. Irgend etwas war los. Da standen bewaffnete Männer in Bereitschaft, die ungeschickt versuchten, ihre Waffen vor mir zu verbergen. Der Chauffeur fuhr an unserem Eingang vorbei an ein anderes Ende des Gebäudes. Ich erfuhr, daß ich für diese Nacht bei den Davids, unseren Nachbarn, bleiben sollte. So etwas war noch nie passiert. Und von meinen besonders netten Gastgebern erfuhr ich auch keinen Grund. Ich bekam mein Abendessen und wurde ins Bett gesteckt. Trotz meiner Empörung, wie ein Kleinkind behandelt zu werden, schlief ich wie ein solches, kein Wunder nach dem langen Tag am Wasser und der Aufregung über was auch immer geschehen war.
Später in der Nacht wachte ich durch laute, ungewohnte Geräusche auf. In einiger Entfernung sah ich Lichtpunkte, die sich eigenartig durch die Dunkelheit bewegten, und hörte kleine Explosionen. Außerdem waren Schreie zu hören. Vor dem Fensterbrett kniend erkannte ich, daß hinter den Lichtkegeln Männer mit Taschenlampen standen und daß die Knallerei Schüsse waren. Das schnell Spuckende mußte ein Maschinengewehr sein, die anderen wahrscheinlich Pistolen und Gewehre. Außerdem hörte ich splitterndes Glas und das Zwitschern von Kugeln, die an festen Oberflächen abprallten. Mit dem Gewehrfeuer vermischten sich gebrüllte Befehle. Aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen folgerte ich, daß entweder die »Hakenkreuzler« oder die »Roten« für den Lärm da draußen verantwortlich waren. Wer auch immer, in einer ernsteren Situation war ich noch nie gewesen. Der Pulverrauch drang bis in mein Schlafzimmer. Das hier war etwas ganz anderes als die Schlachten, in die ich meine Zinnsoldaten geschickt hatte. Plötzlich merkte ich, daß sich unter meinem Fenster etwas bewegte. Ich blinzelte ins Dunkle und hielt den Atem an. Sollte ich schnell jemanden holen? Es wäre leicht für einen von »denen«, über eine Leiter in mein Zimmer zu steigen und uns alle umzubringen. Als es für kurze Zeit still wurde, hörte ich ganz in der Nähe ein unterdrücktes Stöhnen, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Explosion. Der Kampf hatte wieder begonnen.
Die Zeit meiner Wache am Fenster schien mir wie eine Ewigkeit. Irgendwann wurde ich so müde, daß ich mich auf mein Bett setzte. Die Kämpfe schienen sich auf das entgegengesetzte Ende des Gebäudes zu konzentrieren, dort, wo unsere Wohnung lag. Bis jetzt war niemand in mein Zimmer gekommen. Ich war sehr versucht, nachzuschauen, ob es den Davids gut ging, erinnerte mich aber, daß meine Mutter mich nachmittags ermahnt hatte, ein »braver Bub« zu sein. Also blieb ich, wo ich war, und schlief schließlich doch ein.
Bei Tagesanbruch holte mich einer der Diener und brachte mich zu meinen Eltern, die in einer anderen Wohnung im Augarten die Nacht durchwacht hatten. Von ihnen erst erfuhr ich, daß Bundeskanzler Dollfuß von den Hakenkreuzlern umgebracht worden war. Ein erstes Attentat hatten sie schon im vergangenen Oktober versucht, jetzt war es ihnen gelungen.
Im Augarten-Palais herrschte Hochbetrieb. Jedermann war mit irgend etwas beschäftigt. Mein Fräulein Alice, der es endlich gelungen war, quer durch Wien bis zu uns durchzudringen, half bei der Einrichtung eines Übergangsquartiers. Ich nutzte die Gelegenheit und stahl mich aus der Wohnung der Davids. Eine Armee von Wachposten mit der Waffe im Anschlag umringte das Areal. Aber die Pockennarben der Einschüsse an der Fassade und der herumliegende Schutt waren unübersehbare Spuren der Kämpfe. Etliche Arbeiter waren mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Aus ihren Gesprächen entnahm ich, daß Polizei und Militär bis zum Morgengrauen mit den Hakenkreuzlern gekämpft hatten. Als einer der Arbeiter mir zu Vorsicht riet, kehrte ich zu unserer Wohnung zurück, auch um Fräulein Alice nicht zu beunruhigen. Für mich waren Hakenkreuzler, Braunhemden und Nazis für alles Böse verantwortlich. Zudem warfen die Ereignisse des vorigen Tages eine ganz neue Frage auf: Wenn sie Dollfuß, den die Polizei und das Heer beschützt hatten, ermorden konnten, wer war dann noch sicher? Für einen Achtjährigen ein bißchen viel auf einmal, und das war erst der Anfang.
Die Arbeiter schufteten rund um die Uhr. Binnen kurzem war von dem Werk der Terroristen keine Spur mehr zu sehen, die Einschußlöcher aufgefüllt, die Räume frisch ausgemalt, die Fensterscheiben ersetzt, Porzellanscherben und zerbrochenes Kristall aufgekehrt, die zersplitterten Möbel weggebracht. Auf das kleinste Detail war geachtet worden. Riesige Sträuße weißer Lilien säumten das Foyer, und Rosen quollen aus den schweren Bleikristallvasen im großen Salon. Vaters Bibliothek ging im Blumenschmuck unter. Diese Pracht hatte einen prosaischen Grund, man hoffte, durch den Blumenduft den Pulvergestank zu überdecken, der noch überall in der Luft hing. Von einer Schale voll Trauben und Feigen auf dem Eßtisch bis zu den frisch gestrichenen zitronengelben Wänden, alles sollte Normalität bezeugen. Genau genommen sah die Wohnung besser aus als zuvor.
Trotzdem wußte ich, als ich mit meinen Eltern von Zimmer zu Zimmer ging, daß nichts »normal« war und es auch nie wieder sein würde. Die materiellen Schäden waren zu ersetzen, nicht aber die mit den jetzt verschwundenen Sachen verbundenen Erinnerungen, der bemalte Kleiderkasten, die Nachttische und Lampen, all das flüsterte mir zu und machte mich taub. Aber ich behielt diese Gedanken für mich. Obwohl es Vater äußerlich gut ging, spürte ich Mutters Unbehagen. Sicher ging es ihr nicht um die vielen zerstörten Sachen. An materiellem Besitz hing sie nie besonders, trauerte ihm nicht nach. Ihre Unruhe zeigte sich auf andere Art. Leise Geräusche erschreckten sie plötzlich, sie griff in der Öffentlichkeit öfter nach meiner Hand, Menschenmengen beunruhigten sie. Ihre Augen gingen unstet von einem zum anderen, als ob sie versuchte, jemanden oder etwas zu erkennen. Für mich war am ärgsten, nicht mehr im offenen Auto, dem »Landauer«, meinem Lieblingsverkehrsmittel, durch die Stadt fahren zu dürfen. Ich betete, daß diese lästige Beschützungsphase bald vorübergehen möge.
Diese Nacht wurde nie mehr erwähnt. Das wurde uns dadurch leichter, daß wir unsere frisch reparierte Wohnung nicht mehr lang benützen würden. Man hielt es nach dem Geschehenen für problematisch, daß jedermann so leicht an die Residenz des Bundeskanzlers – das war Vater ja jetzt –, herankam. So wurden wir in das ehemalige Kriegsministerium »verfrachtet«, das riesige, auf mich um so mächtiger und abweisender wirkende Regierungsgebäude an der Ringstraße.
Vater sorgte sich weiter um die Sicherung der österreichischen Unabhängigkeit. In der dritten Augustwoche 1934 fuhr er das erste Mal als Bundeskanzler nach Italien, um Mussolini daran zu erinnern, daß Österreich auf seine Unterstützung vertraute.
Kaum drei Wochen später stand der Bundeskanzler vor den Repräsentanten des Völkerbundes in Genf, beschrieb kurz die geographische und historische Position seines Landes in Europa und betonte einmal öfter die Bedeutung eines unabhängigen Österreich. Er bat um Verständnis für die Reaktion der Bundesregierung auf die Krisen des 12. Februar, den Putschversuch des Schutzbundes, und des 25. Juli, die Ermordung von Dollfuß. Er machte deutlich, daß er keine Rache hege gegen die »Feinde von gestern«. Österreich wolle nur in Frieden seinem Schicksal folgen. Wer aber versuche, die österreichische Wirtschaft zu schädigen, würde bestraft, sagte er. Schließlich gestand er zu, daß die derzeitige Regierungsform Österreichs, der »Ständestaat«, Demokratien wie England oder Frankreich, fremd sein möge. Diese Art Demokratie aber sei in Österreich noch sehr jung und ebenso fremd. Das zentrale Thema, unabhängig von der Regierungsform, sei jetzt die Unabhängigkeit des Landes.
Bevor noch der September zu Ende ging, lag eine gemeinsame Erklärung Englands, Frankreichs und Italiens vor, mit der die Unabhängigkeit Österreichs bekräftigt wurde.
In seinem Wunsch nach Sicherheit war Österreich aber keinesfalls allein. Das zeigte der Wien Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös. Anfang November, weniger als zwei Wochen später, und nach weiteren Gesprächen mit Mussolini, reiste der Bundeskanzler nach Budapest. Der Bau einer »Feuermauer« zwischen Österreich und Deutschland war das Erfordernis der Stunde.