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Von erotischen Musicals und Verträgen
ОглавлениеDie Woche nach Henrys Besuch ist die letzte Woche vor Weihnachten. Die Feiertage fallen in diesem Jahr so denkbar arbeitnehmerunfreundlich, dass ich zu dem Pech am zweiten Weihnachtsfeiertag arbeiten zu müssen, auch noch bloß ein ganz normales Wochenende zur Verfügung habe. Und das wird angefüllt sein mit Familienfeiern, essen, Familienfeiern, essen und so weiter. Deshalb bin ich die meiste Zeit leicht demotiviert und nicht einmal Nadya, die das gleiche Los gezogen hat wie ich, schafft es, mich aufzuheitern.
Am Mittwoch kommt Elijah in unsere Kammer, wo wir sitzen und Haar um Haar an unsere Perücken knüpfen. Er teilt uns mit, dass auch er an Weihnachten hier sei und die Premiere seines Stückes aufführen würde.
"Am Freitag ist die Generalprobe. Und auch auf die Gefahr hin, dass du dich nicht so sehr darüber freust wie ich, Greta, du bist mir zugeteilt."
Ich hebe tatsächlich den Kopf, blicke in sein grinsendes Gesicht und frage mich, wie er Stunde um Stunde ernst genug bleiben will, damit ich ihn schminken kann.
"Was spielst du denn?", frage ich, um zu erfahren, ob ich meine Kenntnisse eventuell noch etwas auffrischen muss.
"Ich spiele nicht nur, ich singe auch", antwortet er. Ich muss lachen.
"Du singst Opern?" Das passt nun wirklich gar nicht zu ihm. Er ist eher der Travis Fimmel Verschnitt im Jack Sparrow Kostüm. Oder sowas ähnliches.
"Warum denn nicht?", fragt Nadya vorwurfsvoll.
"Nene, Greta hat schon recht. Das wäre wirklich ein bisschen lächerlich", sagt er und macht sich einen Spaß daraus, für uns Opernsänger nachzuahmen. Ich kann nicht anders, als mich von seiner Art und seinem Lachen anstecken zu lassen und merke im nächsten Moment, dass er geschafft hat, was Nadya nicht konnte. Er hat mich tatsächlich aufgemuntert. Ein verstörender Gedanke...
"Nein, mal Spaß bei Seite. Ich bin einer der Hauptdarsteller in einem erotischen Musical."
"Haha, sehr lustig", sage ich und werfe ihn mit dem Kamm ab. Er fängt ihn jedoch einfach auf und grinst Nadya an.
"Ich fürchte sie glaubt mir nicht."
"Sag bloß, du wusstest nicht, dass das schon lange geplant war?", fragt Nadya und sieht mich an. Scheiße. Ist das ihr Ernst? Ich kenne Nadya. Wäre das hier ein Spaß, könnte sie niemals so ernst bleiben. Deshalb starre ich sie an.
"Ich fürchte, der Gedanke, mich am ganzen Körper zu schminken, hat sie etwas aus der Ruhe gebracht", sagt Elijah zu Nadya und grinst. Sie lachen über mich. Am ganzen Körper? Oh mein Gott... Am ganzen Körper?
Sie amüsieren sich noch mehr, als Elijah meinen Gesichtsausdruck erwähnt. Vermutlich eine Mischung aus Ungläubigkeit und What the fuck? oder etwas Ähnlichem.
"Keine Sorge", versichert er mir. "Die Boxershorts behalte ich an."
"Wie beruhigend", gebe ich trocken zurück und widme mich wieder meiner Perücke.
"Wenn sie am Ende in Ohnmacht fällt, muss ich wohl auf dich setzen, Nadya."
Ich verdrehe die Augen.
"Es soll doch tatsächlich Leute in diesem Theater geben, die professionell sein können."
"Ach, wirklich? Oh, stimmt. Vor mir steht die professionellste meiner lieben, neuen Kolleginnen. Verzeih, dass ich das übersehen konnte."
Ich ignoriere ihn und seinen beißenden Sarkasmus. Das ist doch schon wieder eine Anspielung darauf, dass wir uns am Freitag auf dem Weihnachtsmarkt getroffen haben. Hundert prozentig. Warum kann er nicht endlich damit aufhören?
"Und würdest du es für professionell oder unprofessionell halten, wenn ich euch zur Premiere und im Anschluss zur Feier einlade? Deinen Mann natürlich auch Nadya."
"Oh, sehr professionell", bestätigt meine beste Freundin lachend.
"Wirklich?", frage ich wenig begeistert. "Hast du keine Familie oder so, die du zur Premiere einladen willst? Es ist schließlich Weihnachten."
Im selben Moment merke ich, wie taktlos meine Frage sein kann. Wenn er wirklich keine Familie hat, bin ich wohl gerade in ein Fettnäpfchen getreten. Doch beruhigt stelle ich fest, dass sich seine Miene nicht verdüstert. Stattdessen grinst er mal wieder.
"Meine Familie kommt aus London, glaubst du die würden Weihnachten alle nach Deutschland kommen? Ne, du. Die haben selber Besuch und so. Ich fliege auch Samstag rüber und komme Sonntag zurück."
"London? Ehrlich?", fragt Nadya begeistert. "Von dort kommt du?"
"Jap. Bin in London aufgewachsen. Aber ich habe schon in Berlin die Schauspielschule besucht."
"Trotzdem, du sprichst nahezu akzentfrei Deutsch. Das ist schon bewundernswert."
"Das liegt daran, dass meine Mutter von hier ist und mit uns Deutsch geredet hat, seit wir Babys waren."
"Wer ist wir?", fragt Nadya.
"Meine Zwillingsschwester und ich."
"Du bist ein Zwilling? Na, das ist ja mal cool."
Ich lausche dem Gespräch bloß mit halbem Ohr, hänge immer noch bei dem Gedanken fest, dass ich Elijah für ein Erotik-Musical schminken soll und er uns im Anschluss zur Premiere und zu der Aftershowparty eingeladen hat. So eine Einladung kann man eigentlich nicht ablehnen. Zumindest gebietet das die Höflichkeit. Und Nadya wird es mit Sicherheit nicht tun.
"Damn", stößt Elijah plötzlich aus und springt von dem Tisch, auf dem er gesessen hat. "Ich müsste längst bei der Probe sein. Bis nachher, Ladys."
Und so zischt er ab und entlockt mir mit seinem natürlichen Humor, der ihm stets anzuhaften scheint, doch noch ein Lächeln.
"Und wie du auf ihn stehst", sagt Nadya triumphierend. Ich verdrehe die Augen.
"Am Ende stehst du selber auf ihn, so wie du dich immer mit ihm unterhältst."
Nadya wirft mir einen mitleidigen Blick zu.
"Dir ist echt nicht mehr zu helfen, oder? Es kann mit Tobi manchmal noch so chaotisch laufen, aber ich liebe ihn. Und ich weiß ja nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber Elijah steht total auf dich."
Ich schnaube.
"Bestimmt..."
Nadya verdreht die Augen.
"Würdest du mir einmal glauben? Denkst du ernsthaft, er wollte mich und Tobi zur Premiere einladen? Ihm ging es nur um dich."
"Ja, genau", gebe ich so ironisch wie möglich zurück. "Er ist aber nicht mein Typ."
"Greta! Was stimmt nicht mit dir? Vergiss René endlich. Guck dir Elijah an und sag mir, dass du ihn nicht total heiß findest. Dich macht ja schon der Gedanke nervös, ihn am ganzen Körper zu schminken."
"René ist Geschichte."
Einen Moment herrscht Stille.
"Was?", fragt Nadya leise.
"Du hast schon verstanden."
"Jetzt ehrlich? Du schwärmst mir zwei Jahre lang von ihm die Ohren voll und dann sagst du mir nur, dass es vorbei ist, weil ich ihn zufällig erwähnt habe?"
"Entschuldige", sage ich und sehe sie zerknirscht an. "Ich wollte es dir schon am Montag erzählen, aber irgendwie bin ich nicht so richtig dazu gekommen."
Ich berichte ihr von Samstag, liefere ihr jedoch eine sehr abgespeckte Version des Abends. Nicht einmal, dass René mich geküsst hat, erwähne ich, denn wie sollte ich ihr erklären, dass ich nicht selbst damit aufgehört habe, sondern Henry mich von ihm befreit hat? Aber die Informationen, die ich Nadya liefere, genügen, damit wir über René schimpfen. Und ich merke, wie unheimlich gut das tut. Ich lasse meiner Wut freien Lauf, haue alle Schimpfwörter raus, die ich ihm am Samstag noch nicht vor den Latz geknallt habe und merke, wie viel besser es mir jetzt geht.
Auch meinen Feierabend verbringe ich heute mit Nadya. Genau wie ich hat sie noch nicht alle Geschenke zusammen und so streifen wir zu zweit über den Weihnachtsmarkt, auf der Suche nach Inspiration. Mir fehlt noch etwas für meine Brüder, doch schlussendlich finde ich mich bei Saturn vor dem DVD Regal wieder und suche für beide jeweils einen Film aus. So richtig zufrieden bin ich damit nicht, aber was soll's?
Schließlich trinken wir noch einen heißen Kakao am Glühweinstand und ich muss kurz daran denken, wie ich mit Henry hier war und zufällig auf Elijah traf. Doch natürlich erwähne ich diese Begegnung nicht. Trotzdem plagt mich das schlechte Gewissen. Ich habe Nadya in der letzten Zeit so oft angelogen und da ich der Studie zugestimmt habe, werde ich ihr künftig noch viel mehr verheimlichen müssen. Ich sehe meine beste Freundin an, die mir gerade von dem Geschenk erzählt, das sie sich für Tobias überlegt hat, und denke, dass ich das irgendwie wieder gut machen muss. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.
Als ich endlich zu Hause bin, leere ich meinen Briefkasten, klemme mir den Inhalt unter den Arm und gehe nach oben. Meine Katzen begrüßen mich erfreut – erfreut, dass ich endlich da bin, um sie zu füttern – und ich lade zuerst einmal alles ab, um mich um sie kümmern zu können. Nachdem ich die zwei zufrieden gestellt habe, widme ich mich meinem eigenen Abendessen, denn mein Magen knurrt schon seit einer Stunde durchgehend und scheint allmählich in Versuchung zu kommen, sich selbst zu verdauen. Während die Piccolinis im Backofen sind, sehe ich die Post durch und wundere mich über den großen, weißen Umschlag. Kurz denke ich, dass ich nichts erwarte, bis mir klar wird, von wem der sein muss. Ich ziehe mehrere Seiten Papier heraus. Der Vertrag. Kommentarlos. Ich schlucke, lege ihn jedoch zunächst bei Seite. Mein Abendessen ist fertig und ich schiebe die Minipizzen auf einen Teller. Damit setze ich mich an den Tisch und während ich meinen Magen besänftige, lese ich Henrys Papiere durch.
Vertrag
zwischen
Henry Winkler
wohnhaft in 20095 Hamburg-Altstadt
und
Greta Weiß
wohnhaft in 34131 Kassel
nachfolgend die Probandin genannt
§ 1
Inhalt und Ablauf der Studie
Der nachfolgende Vertrag ist Teil der Ausgestaltung einer wissenschaftlichen Studie. Er dient dem Schutz beider Vertragsparteien und ist unabdingbar für die Durchführung der Studie.
Der offizielle Arbeitstitel der Studie lautet "Prostitution in der Nachbarschaft" und befasst sich mit dem Verhalten von Männern, die die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen.
Die Studie wird über den Zeitraum von einem Jahr durchgeführt. Sie beginnt am 1. Januar 2017.
§ 2
Aufgaben der Probandin
Die Probandin stellt sich als Prostituierte zur Verfügung und nimmt Aufträge von Herrn Winkler entgegen.
Außerdem ist die Probandin verpflichtet, sich eigenständig Aufträge von Freiern zu verschaffen. Sie hat diesbezüglich eine monatliche Quote von zehn Prozent zu erfüllen. Die Erfahrungswerte der Probandin finden hierbei Berücksichtigung und ihr ist es gestattet, ihre Quote erst nach Ablauf von drei Monaten zu erfüllen.
§ 3
Schweigepflicht
Beide Vertragsparteien verpflichten sich in erster Linie zur Verschwiegenheit über den Inhalt der Studie und ihre Existenz als solches.
Herr Winkler verpflichtet sich, dafür Sorge zu tragen, dass die Freier die Identität der Probandin nicht erfahren.
Die Probandin hingegen trägt dafür Sorge, dass kein Freier, keine Familienmitglieder oder andere Personen, die mit ihr in Kontakt stehen, über die Studie und ihre Beteiligung daran, Kenntnis erlangen.
§ 4
Verpflichtungen der Probandin
Die Probandin verpflichtet sich, während der Laufzeit dieses Vertrages keine Beziehung einzugehen. Gleichermaßen verpflichtet sie sich, ihre Aktivitäten im Bereich Geschlechtsverkehr auf die Studie zu beschränken. Gleichzeitig gibt Herr Winkler die Garantie, dass die Probandin jegliche sexuelle Bedürfnisse erfüllt bekommt.
Weiterhin verpflichtet sich die Probandin, ihre Körperpflege nicht zu vernachlässigen. Sie hat für eine gründliche Rasur im Intimbereich sowie anderer üblicher Körperteile Sorge zu tragen. Sie macht stets einen gepflegten Eindruck, wenn sie ihren Aufträgen als Prostituierte nachkommt.
Darüber hinaus führt die Probandin Protokoll über ihre Aufträge. Sie ist verpflichtet, für jeden Freier beiliegenden Fragebogen auszufüllen und diese Herrn Winkler zukommen zu lassen. Herr Winkler sorgt für ausreichend vorhandene Fragebögen.
§ 5
Entlohnung der Probandin
Die Probandin erhält einen Anteil von einem Drittel des Betrages, den die Freier an Herrn Winkler für die Inanspruchnahme bezahlen. Dieser Betrag steht ihr zur freien Verfügung.
Darüber hinaus steht der immaterielle Aspekt im Vordergrund. Der Lerneffekt für die Probandin und die gesammelten Erfahrungen.
Weiterhin erhält die Probandin Entlohnung in Sachleistungen. Sie erhält Schönheitsbehandlungen und eine kostenlose Mitgliedschaft im Fitnessstudio ihrer Wahl. Darüber hinaus hat sie einen Anspruch auf ausreichend Kleidung, die sie für ihre Tätigkeit als Prostituierte benötigt. Es ist ihr gestattet, die Kleidung auch in ihrer Freizeit zu tragen, insofern dies angemessen erscheint.
§ 6
Abschlussbestimmungen
Nach Unterzeichnung und Zusendung des Vertrages an Herrn Winkler ist es der Probandin nicht mehr gestattet, aus dem Vertrag auszusteigen. Herrn Winkler ist es im Nachhinein nicht mehr möglich, eine Probandin zu ersetzen und die Studie im geplanten Maße fortzuführen.
Vertragsbrüche seitens der Probandin werden nicht geduldet und sie hat mit finanziellen Einbußen zu rechnen. Darüber hinaus besitzt Herr Winkler die Mittel, Freier zu wählen, die die Probandin ein angemessenes Strafmaß erfahren lassen oder er übernimmt dies ggf. persönlich.
Ich lasse das Papier sinken und muss erst einmal tief durchatmen. Wow! Einfach nur wow! Und zwar kein "Wow ich habe das größte Glück auf der Welt" sondern "In was für eine Scheiße bin ich da hinein geraten". Ich habe zwar den Vertrag noch nicht unterzeichnet, doch ich habe Henry bereits gesagt, dass ich es tun würde. Wie fair wäre es also, jetzt noch abzusagen?
Ich schließe die Augen, fahre mir mit den Händen über das Gesicht, raufe mir das Haar und schüttle den Kopf. Verdammt Greta! Du – bist – so – blöd!
Ich knülle den Vertrag zusammen, inklusive Umschlag und schmeiße ihn in den Papierkorb. Was zum Henker habe ich mir dabei gedacht? Prostituierte? Im Ernst? Nein! Das geht gar nicht.
Wütend auf mich selbst nehme ich mein Handy und tippe eine Nachricht an die erste Person, an die ich jetzt denken muss.
René, wir müssen reden!