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Von Bartstoppeln und Nussknackern

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Ich erwache mit einer Pfote im Gesicht. Schnurrend beschnüffelt Akina meine Wange und denkt, ich möchte sie streicheln, obwohl ich nur versuche sie wegzuschieben. Schließlich kriecht sie unter meine Bettdecke und rollt sich an meinen Füßen zusammen.

Toll. Jetzt bin ich wach.

Ich blinzle auf die Uhr und seufze. In einer halben Stunde klingelt mein Wecker. Wenn ich jetzt noch einmal einschlafe, werde ich gleich nur umso müder sein. Also taste ich nach meinem Handy und sehe, dass René mir gestern spät abends noch geschrieben hat.


Sie ist beleidigt :D Ziel erreicht.


Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, wen er meint. Dann will ich zurück schreiben, doch augenblicklich habe ich wieder Nadyas Stimme im Ohr.

"Sei keine Idiotin!"

Ich seufze, schlage die Bettdecke zurück und knipse die Nachttischlampe an. Akina blinzelt und blickt mürrisch drein. Wie kann ich es auch wagen, das Licht einzuschalten? Unwillkürlich muss ich grinsen und werde dann auf Schritt und Tritt verfolgt. Während ich dusche sitzen die zwei Katzen interessiert auf dem Toilettendeckel und beäugen mich anschließend misstrauisch, als ich mit nassen Haaren um mich spritze. In der Wohnküche werde ich meine Schatten dann kurzfristig los, indem ich ihnen ihr Frühstück hinstelle. Die Zeit nutze ich, um selbst eine Schale Müsli zu verspeisen und weil ich ohnehin noch Zeit habe, schalte ich den Laptop ein. Kurz muss ich wieder an das Forum denken und öffne gedankenverloren die Seite aus meinem Verlauf.

Ich habe kein Stück damit gerechnet, dass ich ohne Profilfoto Anfragen oder gar Nachrichten bekommen würde, doch da ist tatsächlich eine. Ein gewisser Henry hat mir einen Blumenstrauß geschickt - was immer das auch heißt - und eine kurze Nachricht, in der er mich im Forum willkommen heißt. Er hat selber kein Foto hochgeladen, wie ich bei einem Blick auf sein nahezu nacktes Profil feststelle. Ich tippe eine ebenso kurze Dankesnachricht zurück und frage mich gerade, ob ich mich nicht einfach wieder löschen soll, als sich ein Chat-Fenster öffnet, weil Henry mir einen Smiley geschickt hat.


Henry: :)

Henry: So früh schon auf?

Greta: Ja… Ich muss gleich zur Arbeit.

Henry: Was arbeitest du?


Ich atme tief durch, bin mir nicht ganz sicher, ob ich auf dieses Gespräch eingehen möchte. Aber dieser Henry... wer weiß, wer er ist. Vielleicht Mister Right? Wahrscheinlich nicht, aber man kann nie wissen. Also tippe ich.


Greta: Ich bin Maskenbildnerin

Henry: Wow! Auf den Beruf trifft man nicht jeden Tag.

Greta: Stimmt. Und was machst du?

Henry: Ich bin Forscher

Greta: Auch das begegnet einem nicht jeden Tag. Was erforscht du?

Henry: Die menschliche Natur ;)

Greta: Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?

Henry: Bisher noch zu keinem. Ich suche noch Leute für meine Studie. Und die wird sicher einige Zeit in Anspruch nehmen.

Greta: Und worüber führst du deine Studie?

Henry: Du, sorry. Ich muss off. Wir können gerne später wieder schreiben.

Greta: Ok, ich muss auch zur Arbeit.

Henry: Bis dann.

Greta: Ja, einen schönen Tag.


Ich blicke auf den Bildschirm, frage mich, ob das mein Ding ist, mit fremden Menschen zu chatten und nur das über sie zu erfahren, was sie auch preisgeben wollen. Ich komme aber zu keinem Entschluss und schalte schließlich den Laptop aus. Lola hockt schon wieder neben mir und fordert ihre Streicheleinheiten, während ich nachdenklich auf meiner Unterlippe kaue. Vielleicht sollte ich Nadya bitten, mich für ein Foto in Szene zu setzen. Es kann schließlich nicht schaden, seine Vorteile ein wenig auszunutzen. Und Nadya ist eine wahre Künstlerin. Sie könnte mich mit Sicherheit schön erscheinen lassen und damit mein Selbstbewusstsein stärken.

Ich stehe auf und habe es plötzlich eilig zur Arbeit zu kommen. Rasch mache ich mich fertig und bin früher an der Straßenbahnhaltestelle als sonst. Während ich auf die nächste Bahn warte, kommt mir plötzlich ein Gedanke. Nicht nur dieser Henry hat die Möglichkeit sich so darzustellen, wie er will, nein. Auch ich kann mich so präsentieren, wie ich bin oder ich verändere mein Auftreten in witzig, anzüglich, adrett oder was immer mir gerade beliebt. Es liegt in meiner Hand, was ich schreibe. Niemand kann anhand meiner Mimik erkennen, dass ich unsicher bin oder für gewöhnlich nur selten anzügliche Kommentare mache. Und wenn ich jemanden verschrecke oder ein User aufdringlich wird, ist das auch nicht so schlimm. Schließlich hat man in solchen Foren doch immer die Möglichkeit, Leute zu blockieren oder nicht?

Ich steige in die Bahn und muss sogar lächeln. Okay, ich werde es versuchen.

Nadya ist noch nicht da, als ich komme. Ich grüße auf dem Weg nach unten die Kollegen, die mir begegnen. Die meisten, die jetzt schon an der Arbeit sind, gehören zum Handwerkerteam. Das Ensemble wird erst ab zehn Uhr aufschlagen und dann zu den Proben gehen. Ich dagegen gehe in unsere Kammer am Ende des Kellers, in der uns so gut wie nie jemand besucht und lege meine Tasche neben meinem Arbeitsplatz ab. Die unfertigen Perücken, besonders die mit langen Haaren, wirken immer etwas gruselig. Doch obwohl das Knüpfen von Perücken ab und an etwas eintönig wird, mag ich meinen Job. Besonders natürlich wegen Nadya. Sie kommt herein, als ich gerade das erste Haar anknüpfe, und heute ist sie an der Reihe, mir ihr Leid zu klagen. Nadya und ihr Mann Tobias haben immer die gleichen, kleinen Streitereien, über die sie sich jedes Mal bei mir auslässt.

Doch weil sie das für mich auch tut, sich immer das Gleiche anzuhören, gehört der Vormittag ganz ihr. Sie erzählt mir von den leeren Milchtüten, die Tobi zurück in den Kühlschrank stellt, den auf links gedrehten Socken im Wäschekorb und den Bartstoppeln im Waschbecken. Schließlich erklärt sie das Gespräch von sich aus für beendet, weil sie keine Lust mehr hat, sich aufzuregen.

"Was ist mit dir? Hast du dich im Love-Chat angemeldet?", fragt sie und setzt ein Grinsen auf.

"Ehrlich gesagt, ja", gestehe ich. Daran wie meiner besten Freundin die Gesichtszüge entgleiten, merke ich, dass sie nicht wirklich daran geglaubt und ihren Vorschlag gestern vielleicht nicht einmal ernst gemeint hat.

"Nicht dein... Echt jetzt? Und hast du schon jemand Interessantes kennengelernt?", will sie wissen.

"Einen vielleicht. Aber ich wollte dich noch um Hilfe bitten. Ohne ein gescheites Profilfoto komme ich da nämlich nicht weit", sage ich. Nadya grinst.

"Aber natürlich, Süße. Wie möchtest du gerne aussehen? Wie der Nussknacker? Wie Dornröschen oder doch lieber wie das Phantom?"

Ich lache und schüttle den Kopf.

"Der Nussknacker bitte."


Als ich nach Hause komme, habe ich zum ersten Mal seit langem richtig gute Laune. Beschwingt von diesem Gefühl und in dem Wunsch, es noch eine Weile länger festzuhalten, fahre ich den Laptop hoch und ziehe das Foto, das Nadya in der Mittagspause von mir geschossen hat, auf den Desktop. Im Forum lade ich es als mein Profilfoto hoch und bestaune noch ein bisschen, wie schön Nadya mich hat aussehen lassen. Ich habe auf dem Bild nicht nur hellbraunes Haar, nein es ist kupferfarben und meine Augen sind nicht einfach nur grün, sondern glänzend und tief. Nadya ist eine wahre Künstlerin. Vielleicht sollte sie in Erwägung ziehen auf der Documenta 14 auszustellen. Irgendein Lebendkunstwerk.

Der Gedanke lässt mich grinsen.

Kaum, dass ich auf speichern gedrückt habe, öffnet sich auch das Chatfenster und Henry ist wieder da. Er lobt mein Foto und fragt mich wie mein Tag war und nachdem ich ihm davon erzählt habe, frage ich nach seinem, erhalte jedoch nur eine recht knappe Antwort. Dieser Henry hat schon etwas Seltsames an sich. Trotzdem ist er der Einzige, der mich bisher kontaktiert hat.

Wir chatten den ganzen Abend und am Ende habe ich das Gefühl, ihm meine ganze, klägliche Lebensgeschichte erzählt zu haben, aber kaum etwas von ihm zu wissen. Sogar von René habe ich ihm erzählt und er reagierte angemessen sauer auf den Typen, dem ich seit einer halben Ewigkeit nachhänge, der aber nichts davon bemerkt.

Als ich schließlich im Bett liege, ist mein letzter Gedanke bevor ich einschlafe, dass auch ich allmählich Wut auf René empfinde. Wut ist besser. Leichter zu ertragen, als diese elende, unerwiderte Sehnsucht.


Die Studie

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