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Von Zügen und zerbrochenen Spardosen

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Ich trete vom einen Fuß auf den anderen, blicke mich um und hoffe, dass ich keinen Bekannten treffe. Wenn ausgerechnet heute Abend jemand aus dem Zug steigt, den ich kenne, müsste ich vor Scham im Boden versinken.

Obwohl natürlich niemand weiß, was der Grund ist, weshalb ich hier stehe. Warum macht mich der Gedanke also so nervös, jemand könnte mich erkennen? Naja, Fragen würde es in jedem Fall aufwerfen.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und spähe auf die Anzeigetafel. Noch fünf Minuten. Blöd nur, dass ich schon seit einer Viertelstunde hier bin. Vor lauter Angst zu spät zu kommen, bin ich viel zu früh zum Bahnhof gefahren. Und jetzt friere ich mir einen ab, weil der Wind durch den Tunnel pfeift und das Bahnhofsgebäude natürlich nicht beheizt ist.

Der Inter City Express aus Hamburg soll auf Gleis drei einfahren. In meinem Bauch rumort es, weil ich den ganzen Tag nichts essen konnte. Nadya hat mich schon gefragt, was los sei, doch ich habe behauptet, mir den Magen verstimmt zu haben und deshalb vorsichtig sein zu müssen.

Das ist etwas sehr Ungewohntes für mich. Nadya anzulügen. Das habe ich noch nie getan. Aber sie hätte niemals gutgeheißen, was ich an diesem Wochenende vorhabe. Sie hätte versucht, mir das Ganze auszureden. Und aus Angst, dass sie es schaffen könnte, habe ich geschwiegen.

Und außerdem habe ich es Henry versprochen. Ich soll seine Studie geheim halten. Das habe ich getan. Bisher.

Dass er mir davon erzählte ist nicht einmal ganz eine Woche her. Ich habe mit Nadya meinen Samstagsdienst getauscht, mit der Begründung, ich hätte einen wichtigen, familiären Termin. Das würde ich für sie auch jederzeit tun. Trotzdem behagt es mir gar nicht, ihr nicht den wahren Grund genannt zu haben, weshalb ich diese Gefälligkeit von ihr benötige.

Mit jeder Minute, die verstreicht, nimmt das flaue Gefühl in meinem Bauch zu. Nie in meinem Leben hätte ich geglaubt, dass ich so etwas wie das hier einmal tun würde. Selbst in meinem Freundeskreis gibt es niemanden, der zu so etwas bereit wäre. Ich komme mir ein wenig billig vor, obwohl ich noch nicht einmal in seine Studie eingewilligt habe. Das kann ich mir bisher nämlich nicht vorstellen. Aber Henry empfand das nicht als Problem und wollte trotzdem kommen. Sein Angebot, meine Kapazitäten auszutesten sei unabhängig von meiner Zu- oder Absage.

Und deshalb habe ich mich darauf eingelassen. Deshalb und weil ich seit über sechseinhalb Jahren keinen Sex hatte. Allein bei dem Gedanken mit Henry zu schlafen, krampft sich in mir alles zusammen und ich habe das Gefühl, noch nervöser zu sein, als vor meinem ersten Mal mit Jannik. Damals war es eine Katastrophe. Aber wir wussten auch beide nicht, was wir taten. Henry macht eher den Eindruck, als wüsste er mehr als gut, was er zu tun hat.

Noch eine Minute. Ich zittere am ganzen Leib, traue mich nicht mehr, mich umzusehen, aus Angst, jemandes Blick zu begegnen. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem ganzen Leben jemals so aufgeregt gewesen zu sein. Warum zum Henker tue ich mir diesen Scheiß eigentlich an? Warum quäle ich mich so?

Der Zug rollt ein, die Bremsen quietschen und ich umklammerte das Geländer neben dem Aufgang. Das Metall ist eiskalt, aber es hilft mir, nicht aus den Latschen zu kippen.

Und genau da klingelt mein Handy. Ich spüre es in meiner Hosentasche vibrieren, schließe für einen Moment die Augen und denke darüber nach, es zu ignorieren. Aber als der Zug zum Stehen kommt, nehme ich es heraus und sehe, dass René mich anruft. Verdammt, warum ausgerechnet jetzt? Es ist wie ein unheilvolles Zeichen.

Ich nehme das Gespräch an, halte mir das Handy ans Ohr und beobachte die sich öffnenden Zugtüren.

"Hey Greta! Was machst du?", fragt René.

"Ich bin unterwegs", gebe ich nur zurück und beobachte die Menschen, die aus dem ICE steigen und sich in die zwei möglichen Richtungen zerstreuen. Wo ist Henry? Und wie verdammt noch mal werde ich René los?

"Und wann bist du zu Hause?"

"Keine Ahnung", behaupte ich und da stockt mir der Atem. Durch eine Traube verkleideter Frauen, die offensichtlich einen Junggesellinnenabschied feiern, tritt Henry in mein Blickfeld. Ich bin mir sicher, dass er es ist. Nicht zuletzt wegen des Fotos von ihm, auf das ich bestanden habe. Henry hat mich bereits entdeckt und kommt direkt auf mich zu, während ich kaum wahrnehme, was René sagt.

"Nicht mal ungefähr?" Er schmollt. Das ist eindeutig. Aber ich kann nicht darauf achten, denn Henry erreicht mich, bleibt vor mir stehen und sieht mich forschend an.

"René... Sag, was es gibt oder lass es bleiben!", sage ich. Seinen Namen hätte ich auch weglassen können, doch ich wollte, dass Henry Bescheid weiß. Der lächelt jetzt leicht, als wäre er stolz auf mich. Und das bin ich auch... beinahe. Darauf, wie kühl ich offenbar zu dem Typen sein kann, in den ich seit einer Ewigkeit verliebt bin. René scheint das jedoch nicht zu bemerken oder zumindest zu ignorieren.

"Na, du wolltest mir doch mit Jessica helfen. Und heute Abend wollen wir ins A7."

Ich atme tief durch, weiß, was ich zu tun habe, bringe die Worte aber längst nicht so scharf über die Lippen, wie beabsichtigt.

"Ich kann leider dieses Wochenende nicht. Tut mir leid."

"Oh okay. Was machst du denn?"

"Was ich mache?" Ich blicke Henry hilfesuchend an.

"Besuch von einer Freundin", schlägt er leise vor. Seine Stimme ist tief. Sehr tief... Und hinterlässt ein nahezu rastloses Gefühl bei mir.

"Ich habe Besuch von einer Freundin", sage ich ein wenig zu spät. Mist... Das klingt überhaupt nicht glaubwürdig.

"Na, dann bring sie doch einfach mit." René wird allmählich ungeduldig. Er ist es nicht gewohnt, dass ich ihm eine Bitte abschlage.

"Wir haben schon was Anderes geplant. Ich muss jetzt Schluss machen, okay? Ihr Zug kommt gerade an", behaupte ich und man hört passenderweise im Hintergrund die Ankunft eines ICs am benachbarten Gleis.

"Okay", sagt René und die Enttäuschung in seiner Stimme bringt mich fast dazu, einzuknicken. Aber ich verabschiede mich einfach und lege auf. Dann atme ich tief durch und blicke Henry an.

"Tut mir leid", murmle ich und komme jetzt erst dazu, ihn richtig anzusehen. Er ist größer als erwartet und trägt die Lederjacke über der Schulter, anstatt sie anzuziehen. Dabei ist es sau kalt.

"Kein Thema", sagt er, beugt sich vor und umarmt mich. Prompt stockt mir der Atem. Ich erwidere seine Umarmung und nehme seinen Duft wahr. Eine herbe Note. Irgendein Männerparfum. Ich kann nicht gerade behaupten, dass mir dieser Geruch missfällt. Ganz im Gegenteil. Sofort beginnt in meinem Kopf ein Film abzulaufen. Henry, wie er mich auszieht, mir noch näher kommt und wie ich seinen betörenden Duft die ganze Zeit um mich habe.

Oh, verdammte Scheiße!

Er löst die Umarmung und kann unmöglich meine geröteten Wangen übersehen. Verlegen senke ich den Blick. Henry hingegen scheint kein bisschen aufgeregt zu sein. Unwillkürlich frage ich mich, wie oft er das schon gemacht hat, mit einer völlig fremden Frau ins Bett zu gehen.

"Und? Was denkst du?", fragt er und breitet die Arme aus. Er grinst, als würde er sich über meine Nervosität lustig machen.

"Dass du gar nicht aussiehst, wie ein Zuhälter", rutscht mir heraus und ich würde mir am liebsten die Zunge abbeißen. Henry jedoch fängt schallend an zu lachen, legt dann den Arm um mich und bewegt mich zum Aufbruch.

"Da bin ich ja beruhigt."

Nein, er sieht wirklich nicht aus, wie ein Zuhälter. In meinem Kopf hat Henry tausend Verwandlungen durchgemacht. Zuerst hoffte ich ihn attraktiv, während wir anfingen zu schreiben, stellte ihn mir gutaussehend und vielleicht blond vor. Als er mir von seiner Studie berichtete, verwandelte sich der attraktive Mann in ein schmieriges, dickbäuchiges, fetthaariges Ekel. Nachdem ich seinem Vorschlag jedoch zustimmte, unter der Bedingung, vorher ein Foto von ihm zu Gesicht zu bekommen, kam ich allmählich von dieser Vorstellung runter. Trotzdem hegte ich bis zuletzt Zweifel, ob er mir nicht einfach ein Bild von einem Internet-Model geschickt hat.

Aber er hat nicht gelogen. Er ist dieser gutaussehende Mann, dunkelhaarig, ein leicht blasser Teint und undurchdringliche, braune Augen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum ein Mann wie er es nötig haben sollte, von Hamburg nach Kassel zu fahren, nur um Sex zu bekommen. Also vielleicht waren seine Worte doch ernst gemeint. Womöglich hat er dieses Angebot tatsächlich um meinetwillen gemacht.

Wir gehen zur Straßenbahnhaltestelle, wo er seine Tasche abstellt und in seine Jacke schlüpft. Also ist es ihm doch zu kalt. Aber ich bin froh, dass er mich losgelassen hat. Nicht, weil mir seine Berührung unangenehm wäre, nein, ganz im Gegenteil. Allerdings habe ich immer noch Angst, wir könnten jemanden treffen, den ich kenne.

"Du wirkst nervös", sagt Henry und grinst schon wieder. Ich schnaube nur und weiche seinem Blick aus. Das bringt ihn zum Lachen.

"Und du machst dich lustig über mich. Wenn du so weitermachst, lass ich dich hier stehen." Das würde ich niemals tun, aber das muss er ja nicht wissen.

Er lächelt.

"Siehst du? Dein Selbstvertrauen wächst schon. Was allein schon das Angebot für ein bisschen Sex bewirken kann..."

Ich ignoriere ihn, tue so, als würde ich mich nach der Bahn umsehen, obwohl auf der Anzeige noch zwei Minuten Wartezeit angekündigt werden.

"Du solltest dich etwas entspannen", sagt Henry nur. Ich schweige, weiß nicht, was ich sagen soll. Oh Gott, gleich alleine mit ihm in meiner Wohnung zu sein... Nein... Das ist einfach zu viel. Was habe ich mir dabei gedacht? Ein wildfremder Mann. Ich kann doch keinen Kerl in meine vier Wände lassen, den ich im Grunde kein bisschen kenne. Von dem ich nur weiß, dass er eine Studie über Prostitution in der Nachbarschaft durchführt. Ich bin so dumm. Er könnte mich auch zerstückeln und in meiner eigenen Gefriertruhe einfrieren oder so. Okay, ich habe keine Gefriertruhe. Das beruhigt mich dann doch etwas...

"Hast du Hunger?", frage ich. Vielleicht können wir einen Abstecher machen und vorher was essen gehen. Wenn ich nur irgendwie schaffen kann, etwas entspannter zu werden... Aber dafür brauche ich Zeit.

Er grinst schon wieder. Dabei wirkt er überheblich und ich möchte ihm am liebsten eine verpassen.

"Hunger auf dich, ja."

Hitze schießt mir in alle Glieder und mein Gesicht brennt. Aber Henry lacht nur. Plötzlich weiß ich, dass er einen Scherz gemacht hat. Er zieht mich nur auf, weil mir die Aufregung offenbar ins Gesicht tätowiert ist.

"Du bist gemein", schmolle ich. Er jedoch streckt die Hand aus und hebt mein Kinn an.

"Vielleicht brauchst du eine Entschädigung?", fragt er leise und kommt mir ganz nah. Mir stockt der Atem, während mein Blick auf seine Lippen fällt. Oh verdammt. Genau in diesem Augenblick wird mir klar, dass mein letzter, richtiger Kuss fast genauso lang her ist, wie der Sex. Beinahe ebenso sehr, wie ich will, dass er mich loslässt, sehne ich mich danach, dass er seinen Mund fest auf meinen presst. Oh Gott... Allein die Vorstellung...

"Willst du?", flüstert er, kommt mir noch näher und ich vergesse alles. Meine Sorge, jemand könnte uns sehen, überhaupt wo wir sind, einfach alles. Ich will das hier, jetzt!

"Ja", hauche ich, doch da fängt er wieder an zu lachen. Diesmal dauert es einen Moment, bevor ich begreife, dass er mich schon wieder für dumm verkauft hat. Wütend über seinen Scherz boxe ich ihm gegen die Schulter, verschränke dann die Arme vor der Brust und schmolle. Am Ende ist er gar nicht hier, um Sex mit mir zu haben. Womöglich will er sich nur über mich lustig machen und dazu überreden, an seiner Studie teilzunehmen. Aber das kann er vergessen.

"Arsch", murmle ich.

"Du hast es irgendwie provoziert", sagt er. Ich schmolle weiter, auch dann noch, als die Bahn kommt. Die ist zum Glück nicht sehr voll und wir bekommen einen Sitzplatz nahe bei der Tür. Die Fahrt vom Bahnhof Wilhelmshöhe bis zu meiner üblichen Haltestelle dauert bloß fünf Minuten. Mit jedem Meter wächst meine Angst. Meine Zweifel daran, dass ich einen wildfremden Mann in meine Wohnung lasse. Und die Tatsache, dass er nun schweigt, kaum von sich aus das Gespräch sucht, macht es nicht gerade besser.

Aber ich kann jetzt ohnehin keinen Rückzieher mehr machen. Er ist hier, ist extra hergekommen. Und es war meine Entscheidung. Ich habe es so gewollt, weil ich seit einer halben Ewigkeit keinen Sex hatte. Ich werfe Henry einen Seitenblick zu, betrachte kurz sein Profil und beiße mir auf die Unterlippe. Wahrscheinlich kann ich froh sein, dass ein Mann wie er überhaupt in Erwägung zieht, Sex mit mir zu haben. Schließlich hat er nichts davon, wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass er Befriedigung erhält. Im Gegenteil. Er hat die Zugfahrt bezahlt und eine Menge Mühe auf sich genommen.

Genau da wendet auch er mir den Blick zu, hat wohl gemerkt, dass ich ihn beobachte.

"Na? Bist du froh, dass ich nicht aussehe, wie ein Zuhälter?" Er grinst wieder. Diesmal erwidere ich es. Okay. Ich muss selbstbewusster werden.

"Offen gestanden bin ich darüber sehr froh."

Genau da wird unsere Haltestelle angekündigt und ich bedeute Henry aufzustehen. Wir sind die Einzigen an dieser Tür und als die Bahn hält, strömt mir endlich wieder kühle Luft ins Gesicht. Ich habe es kaum wahrgenommen, doch mein Kopf ist heiß von dem Blut, das mir in die Wangen geschossen ist.

Noch ein paar Minuten. Dann sind wir allein. Ob er gleich loslegen will? Oh mein Gott, mein Magen rotiert.

"Wollen wir vielleicht noch was essen gehen?", frage ich, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, etwas herunterzubringen. Doch er schüttelt ohnehin den Kopf.

"Hier kann man sich doch bestimmt von irgendwo was liefern lassen?"

"Klar", sage ich und versuche unauffällig tief durchzuatmen. Was, wenn er plant jetzt gleich mit mir zu schlafen? Wenn er nicht vorhat, darauf Rücksicht zu nehmen, dass mein sehr geringer Erfahrungsschatz dem einer Jungfrau nahe kommt?

Wir erreichen das Haus in dem sich meine Wohnung befindet und ich ziehe mit zitternden Händen den Schlüssel aus der Tasche. Es kostet mich unheimlich viel Konzentration, ihn ins Schlüsselloch zu befördern und Henry hereinzulassen. Ich schiebe meine Katzen zurück, die neugierig meinen Gast beschnüffeln wollen und er begrüßt sie freundlich. Ich zeige ihm kurz die Zimmer, führe ihn durch alle Räume und bin die ganze Zeit verlegen um Worte.

"Ist es okay, wenn ich unter die Dusche steige, bevor das Essen geliefert wird?", fragt Henry, als mir die App verkündet, dass wir über eine Stunde auf unsere Bestellung warten müssen. Freitagabend eben.

"Klar", sage ich sogar ein wenig erleichtert. Er will sich die Zwischenzeit also nicht auf diese Weise vertreiben. Henry sieht mich jedoch einen Moment an, bevor er wieder grinst.

"Was denn?", frage ich ungehalten.

"Du könntest mich auch begleiten."

Mir stockt der Atem und ich bekomme kaum genug Luft um zu antworten.

"Ähm... Lieber nicht. Manchmal liefern die auch früher als sie ankündigen. Nicht dass sie dann in der Zwischenzeit kommen..."

Henry lässt sich jedoch nicht beirren. Er sieht mich nur einen Augenblick an und antwortet nicht. Dann macht er plötzlich zwei Schritte auf mich zu, schließt die Distanz und umfasst mein Kinn mit seiner großen Hand. Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust und ich bin gefangen in seinem Blick, wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Henry hat kein belustigtes Grinsen mehr auf den Lippen. Er hat vielmehr ein Funkeln in den Augen, drückt mich mit dem Körper an die Wand und fixiert mich regelrecht.

Und dann, wie aus dem Nichts, liegt seine Hand genau auf meiner intimsten Stelle und mir entfährt ein heftiges Keuchen. Obwohl zwei Stoffbahnen zwischen seiner Haut und meiner liegen, spüre ich, dass ich feucht werde. Und wie!

Ein erregter Laut entfährt mir, als Henry den Druck seiner Hand noch verstärkt. Ich kann kaum an mich halten und kralle die Finger in sein Oberteil.

"Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?", raunt Henry in mein Ohr. Ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Sein heißer Atem prickelt auf meiner Haut, als seine Lippen leicht über meinen Hals gleiten, ohne mich tatsächlich zu berühren.

Verdammt, ich habe keine Ahnung, was ich will. Soll es wirklich so schnell gehen? Will ich jetzt sofort Sex mit ihm? Eigentlich ja. Aber... die Angst ist da.

"Lieber nicht", bringe ich zittrig hervor und da lässt er mich los. Einen Moment steht er vor mir, fixiert mich noch immer mit seinem Blick und ich kann kein Stück ausmachen, ob er jetzt beleidigt ist oder sauer oder oder oder. Und dann dreht er sich einfach um und verschwindet im Bad.

Geschlagene zwei Minuten stehe ich da, starre die Tür an und versuche verzweifelt meinen Puls unter Kontrolle zu bringen. Dann schaffe ich es, in die Wohnküche zu gehen, wo meine Katzen schon ungeduldig vor dem Futternapf herumstreifen und maunzen. Geistesabwesend füttere ich sie und öffne dann die Balkontür um zu lüften. Sofort spüre ich, wie gut mir die Luft tut, die von draußen hereinströmt. Sie kühlt mein aufgeheiztes Gemüt ab und bereitet mir einen klareren Kopf.

Ich hätte es tun können. Mit Henry unter die Dusche steigen. Jannik und ich haben das damals auch ausprobiert. Zusammen unter dem Wasserstrahl zu stehen und sich dabei zu küssen, hat definitiv etwas. Aber das ist Henry. Ein Mann, den ich heute zum ersten Mal gesehen habe. Zwar gingen wir im Chat schnell vertraut miteinander um, doch muss mir einfach klar sein, dass dieser Typ nichts in mir sieht. Was mir auf keinen Fall passieren darf, ist, dass ich irgendeine Art von Gefühlen für ihn entwickle. Das fehlt mir gerade noch, dass ich René loswerde und mir das nächste Problem anlache.

Ich schließe die Augen, halte die Kälte aus, obwohl ich zu zittern beginne und atme tief durch. Henry hat recht. Ich brauche mehr Selbstbewusstsein. Nur so kann ich dagegen ankämpfen, Gefühle für René zu haben und welche für Henry zu entwickeln.

Entschieden öffne ich die Augen wieder, schließe die Balkontür und denke, dass ich meinen Entschluss im Film wohl direkt umgesetzt hätte. Die Protagonistin eines Hollywoodstreifens wäre nun mutig ins Badezimmer marschiert um mit Henry Sex unter der Dusche zu haben. Dummerweise ist das Leben kein Film. Ich bin nicht mutig und schaffe es nicht, ihm zu zeigen, dass ich selbstbewusst sein kann.

Stattdessen stehe ich da und beobachte Lola, den kleinen Frechdachs. Sie steht im Regal, sieht mich an und schiebt in aller Seelenruhe meine Spardose über die Kante. Sie zerbricht auf dem Boden und verteilt den kläglichen Inhalt auf dem Fußboden.

Genervt schließe ich die Augen. Ich brauche einen Moment, bis ich mich wieder bewegen kann, dann gehe ich zu den Scherben hinüber.

"Alles in Ordnung?"

Ich zucke zusammen, habe mich gerade hingehockt, um den Unrat zu beseitigen. Henry steht in der Tür, die kurzen Haare noch feucht, und ein angenehm herber Duft nach Männerduschgel steigt mir in die Nase.

"Ja, alles gut", sage ich einen Moment zu spät. "Meine Katze meinte nur, Unordnung stiften zu müssen."

"Vielleicht solltest du auch noch Unordnung machen, heute", sagt Henry, geht durch den Raum und hockt sich neben mich, um mir zu helfen.

"Was?", frage ich, lege die eingesammelten Münzen auf dem Tisch ab und gehe zum Schrank unter der Spüle um Kehrblech und Handfeger zu holen.

"Dieser René, der wollte, dass du heute Abend mit ihm Schluss machst?", fragt Henry und malt bei dem Wort "Schluss" Anführungszeichen in die Luft.

"Ja. Er wollte, dass ich ins A7 komme."

Henry sieht mich an, hält in der Bewegung inne, ebenso wie ich. Zuerst weiß ich nicht, was seine Andeutung bedeuten soll, doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

"Oh – nein! Auf gar keinen Fall", sage ich. Aber Henry grinst.

"Glaub mir, es würde dir Genugtuung verschaffen."

"Mir ist vollkommen egal, was es mir verschaffen würde. So bin ich einfach nicht. Das wäre einfach nur gemein."

"Und er ist ja nie gemein zu dir gewesen", spottet Henry. Ich schnaube.

"Das kann man aber nicht vergleichen."

Er sieht mich immer noch an, fixiert mich mit seinem Blick und ich spüre, dass ich einknicke. Wieso, verdammt noch mal, bin ich nur so leicht zu beeinflussen?


Die Studie

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