Читать книгу Die Studie - L. Renegaw - Страница 5
Von Selbstvertrauen und mütterlichen Müttern
ОглавлениеDas Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Zuerst denke ich, dass es sich dabei um meinen Wecker handelt, doch dann fällt mir ein, es ist Samstag und eine ungerade Woche. Also muss ich nicht arbeiten. Ich taste nach dem vibrierenden Gerät, kneife die Augen vor dem hellen Displayleuchten zusammen. Erst einen Moment später schaffe ich es, den Namen zu erkennen, der mir angezeigt wird. René ruft mich an. Was will er, mitten in der Nacht?
"Hallo?" Verdammt klinge ich verschlafen. Mein Hals ist trocken und meine Stimme hört sich an, als hätte ich ein Reibholz verschluckt.
"Gott sei Dank, du bist wach." Er nuschelt. Ist er betrunken?
"Kannst du runterkommen?"
"Was?" Vielleicht träume ich.
"Ob du runter kommen kannst." Er klingt leicht ungeduldig.
"Was, aber..."
"Oh, nun komm schon, Greta."
"Bist du hier?"
"Ja, was denkst du denn?"
Ich seufze und schüttle nur den Kopf über ihn.
"Warte..."
"Du bist die Beste", sagt er und legt auf. Ich taumle zu meinem Kleiderschrank und ziehe eine dicke Jacke mit Innenfutter heraus, während Akina um meine Beine streicht, doch ich ignoriere sie, fahre aber kurz mit den Fingerspitzen über Lolas Kopf, die am Fußende meines Bettes geschlafen hat. Ich gehe ins Bad, sehe mein Spiegelbild und seufze erneut. Ausgerechnet so muss ich René unter die Augen treten? Ich richte schnell das Schlimmste, spüle mir den Mund aus und nehme mir im Flur zwei Tic Tacs, bevor ich in meine Chucks schlüpfe und mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand nach unten gehe. Schon als ich die Haustür öffne, kriecht mir die Kälte unter die Jogginghose. Innerhalb der letzten paar Wochen hat sich das Wetter vom Herbst verabschiedet und dem Winter den Vorzug gegeben.
"Greta, endlich."
René tritt aus dem Schatten in das Licht der Flurlampe, die den Vorgarten erhellt. Er kommt auf mich zu und ich weiß, dass die Wut, die ich heute Abend auf ihn empfunden habe, nur ein Anfang war. Ein sehr schwacher Anfang, der sofort von diesen nervigen Gefühlen davongeschwemmt wird, als er mich umarmt. Ich nehme seinen vertrauten, herben Duft wahr, seine breiten Schultern und würde mich am liebsten nie wieder aus dieser Umarmung lösen, doch das übernimmt er für mich.
"Komm, lass uns spazieren gehen!", sagt er und dabei fällt mir auf, dass sein Atem nach Alkohol riecht. Er ist also tatsächlich betrunken. Aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe.
"Spazieren gehen? René, es ist..." Ich will auf mein Handy spähen, um ihm vorzuhalten, wie spät es ist, doch offenbar habe ich es oben liegen gelassen.
"Drei Uhr morgens, ich weiß. Aber du musst doch morgen nicht arbeiten, oder?"
"Nein..."
"Na, dann lass uns spazieren gehen."
"Können wir nicht lieber rein gehen? Es ist sau kalt."
René seufzt, dann fasst er mich bei den Schultern.
"Greta... Ich sage dir das nur ungern, weil ich nicht will, dass du mich für einen noch größeren Penner hältst, als du es sowieso schon tust..."
"Ich halte dich nicht für einen..."
"Lass mich ausreden", würgt er mich ab. "Ich bin betrunken, Greta. Und du bist die einzige meiner Freundinnen, mit der ich keinen Sex hatte. Und ich will dass das so bleibt, klar?"
Augenblicklich schießt mir die Röte ins Gesicht und das Verlangen in alle Glieder. Allein die Vorstellung...
"Also komm, lass uns spazieren gehen."
Aber ich will doch genau das!
Trotzdem sage ich nichts mehr, folge seiner Bitte und gehe neben ihm her durch die dunklen Straßen von Kassel-Wilhelmshöhe. Wir schweigen beide und ich frage mich, warum zum Henker er mitten in der Nacht vor meiner Haustür aufkreuzt, wenn nicht Sex der Grund ist. Aber vielleicht sieht er wirklich keine solche Frau in mir. Keine, mit der er eine schnelle Nummer schieben kann. Dumm nur, dass ich dazu jederzeit bereit wäre. Ich würde alles nehmen, was er mir anbietet.
Erschrocken über meine eigenen Gedanken vergrabe ich die Hände tiefer in den Taschen.
So bist du doch eigentlich gar nicht... Du bist keine Frau, die einfach nur Sex mit einem Kerl haben möchte...
"Danke...", murmelt René. Wir erreichen gerade den Bergpark, folgen den geschotterten Wegen.
"Wofür?", frage ich irritiert.
Er lacht leise.
"Ich glaube, du bist die Einzige, zu der ich nachts gehen kann, ohne dass sie voll an die Decke geht."
Ich schnaube und habe keine Lust, näher auf dieses Thema einzugehen. Wenn er fragt, warum das bei mir so ist... Ich weiß nicht, ob ich ihn anlügen könnte.
"Ich habe eine kennengelernt..."
Fast bleibe ich stehen, doch ich kann mich gerade noch zusammenreißen. Er hat was?
"Schon wieder?", frage ich betont beiläufig, tue so, als würde ich den veränderten Klang in seiner Stimme nicht wahrnehmen.
"Ne, ich meine richtig. Also sie ist keine Bitch oder so." Wie immer... René kann sich wirklich nicht besonders gut ausdrücken. Oder ist er verlegen?
"Wie heißt sie?", frage ich mit trockener Kehle.
"Jessica."
Ich schweige, kann nicht fragen. Nicht spielen, dass ich mich für ihn freue. Aber ich muss. Und wollte ich ihn nicht so oder so abschreiben? Was macht es also für einen Unterschied, wenn er sich in eine andere verliebt? Im Gegenteil, vielleicht sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass er mir genug vertraut, um mir davon zu erzählen.
"Seid ihr zusammen?", will ich wissen.
"Noch nicht."
"Aber?"
"Ich habe sie doch gerade erst kennengelernt."
Ich grinse ihn an, was mich all meine Kraft kostet.
"Dann scheint es ja wirklich ernst zu sein, wenn sogar du auf die Bremse drückst."
Auch er grinst entschuldigend.
"Ich weiß, dass ich ein ziemliches Arschloch sein kann."
"Ja, aber im Grunde ist dir das egal." Das sagt er mir so oft, dass ich seine Worte mitsprechen könnte.
"Genau. Aber ich brauche trotzdem deine Hilfe."
Okay, jetzt kommen wir also dem Grund für seinen nächtlichen Besuch näher. Aber wobei sollte ich ihm schon helfen können?
"Es gibt da nämlich ein kleines Problem..."
"Das da wäre?"
"Jessica ist die beste Freundin von Ellie."
"Und wer bitte schön ist jetzt schon wieder Ellie?" Glaubt er allen Ernstes, dass ich bei seinen Frauengeschichten noch durchblicke oder mir irgendwelche Namen merken könnte?
"Na, die, der ich gesagt habe, du wärst meine Freundin."
"Oh", gebe ich ziemlich geistreich von mir und allmählich dämmert mir, warum er mir von Jessica erzählt.
"Und jetzt denkt die, auf die du wirklich stehst, du hättest eine Freundin?"
"Genau."
"Und wo ist das Problem? Mach doch einfach Schluss mit mir", sage ich und klinge dabei bitterer als beabsichtigt. Glücklicherweise ist er zu betrunken um solche Feinheiten aus meinem Tonfall herauszuhören.
"Nein, das wäre zu einfach. Du musst mit mir Schluss machen, damit sie Mitleid mit mir hat."
Mir entfährt ein Schnauben.
"Du solltest dir nicht so viele Hollywood-Komödien reinziehen."
"Aber das funktioniert bestimmt", sagt er und klingt fast begeistert. Glaubt er das wirklich? Ich schüttle genervt den Kopf, was er nicht sehen kann, weil es im Bergpark fast stockdunkel ist. Nur Renés Handytaschenlampe spendet etwas Licht.
Ich kann schon wieder Nadyas Stimme in meinem Kopf hören, wie sie mich anschreien würde, wenn ich diesem dummen Vorschlag zustimme.
Das Blöde ist, ich ziehe es tatsächlich in Erwägung. Denn vielleicht - ganz vielleicht - erkennt René irgendwann, was er an mir hat.
Ich seufze leise.
"Und wie genau stellst du dir das vor?"
René bleibt stehen.
"Heißt das, du machst es?", fragt er und ich glaube das begeisterte Strahlen seiner Augen sogar in der Dunkelheit erkennen zu können.
"Ich habe mich noch nicht entschieden", behaupte ich. Aber da umarmt er mich schon.
"Danke", murmelt er und klingt dabei so froh, so erleichtert, dass ich keinen Rückzieher mehr machen kann. Verdammt, warum hat dieser Mann mich nur so in seiner Gewalt.
Du bist so dumm, Greta!
Es ist noch immer mitten in der Nacht. René liegt auf meiner Couch und pennt, während ich im Sessel sitze, meinen Laptop auf dem Schoß habe und tippe.
Greta: Bist du da?
Henry: Ja. Was machst du so spät... oder früh... noch online? Brauchst du nicht deinen Schönheitsschlaf? ;)
Greta: Haha, sehr witzig...
Henry: Ist was passiert? Tut mir leid, ich wollte nicht taktlos sein.
Greta: Schon ok. Meine eigene Dummheit. Das ist passiert.
Henry: Ohoh...
Greta: Mister-ich-tauche-mitten-in-der-Nacht-bei-dir-auf liegt auf meiner Couch und pennt...
Henry: Betrunken?
Greta: Ja, aber das ist nicht das Schlimmste...
Henry: Was ist das Schlimmste?
Greta: Meine eigene Dummheit...
Henry: Hattest du Sex mit ihm?
Greta: Oh Gott, nein!
Henry: Dann kann es nicht so schlimm sein. Hau raus!
Und dann erzähle ich es ihm. Berichte ihm von dieser Jessica und davon, was ich für ihn tun soll. Dabei kommen mir die Tränen und ich bete inständig, dass René nicht aufwacht und das mitbekommt.
Henry: ...
Greta: ?
Henry: Du brauchst dringend etwas, was dein Selbstvertrauen aufbaut, Süße... Weil hättest du welches, würdest du sowas nicht für ihn tun.
Greta: Und was? :(
Henry: Ich überlege mir was. Und jetzt empfehle ich dir dringend: Geh schlafen!
Greta: Okay... Danke für's zuhören.
Henry: Hab ich gern gemacht!
Und schon ist er offline. Ich blicke auf die Buchstaben, die mir das verkünden und frage mich, wie er sich da etwas ausdenken will. Wie soll er aus der Entfernung wissen, was mein Selbstbewusstsein aufpoliert? Schließlich fahre ich meinen Laptop herunter und tue, was er gesagt hat. Ich gehe schlafen. Ohne René noch einen Blick zuzuwerfen, verlasse ich die Wohnküche. Denn ich weiß, ihn beim Schlafen zu beobachten wäre keine gute Idee.
Am Morgen wache ich mit dem Duft von Rührei in der Nase auf. Sofort bin ich misstrauisch. René kann in etwa so gut kochen, wie mein Bruder Daniel. Und bei dem kann man froh sein, wenn er es schafft, Tiefkühlpizza vor dem Backen aus der Plastikverpackung herauszuholen. Ich stehe auf, ziehe mir einen Sweater über und gehe durch den Flur auf die Küchentür zu.
Ich höre Stimmen... Kein gutes Zeichen. Und tatsächlich steht meine Mutter am Herd und rührt in einer Pfanne.
"Ah, hallo Schatz, ich wollte dich gleich wecken", sagt sie und lächelt mich an, auch wenn ihr Blick eindeutig die Frage aufwirft, wer zum Henker der Kerl ist, der die Nacht auf meiner Couch verbracht hat.
René grinst mich an, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, was seine Muskeln betont.
"Erinnere mich daran, dass ich nie wieder den Ersatzschlüssel bei euch deponiere", sage ich mürrisch, gehe aber zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.
"Sei nicht albern. Man kann nie wissen, wofür das einmal gut ist."
"Zum Beispiel um samstagmorgens Frühstück gemacht zu bekommen", wirft René ein.
"Ich weiß, wofür es nicht gut ist", sage ich missmutig, gehe zur Balkontür und lasse frische Luft herein.
Eigentlich liebe ich meine Eltern. Meine Mutter ist so ein wunderbarer Mensch, der sich kümmert, der da ist, wenn man ihn braucht. Sie ist eben eine ganz typische Mutter. Früher fand ich das schrecklich, habe mich unheimlich umsorgt und teilweise auch eingeengt gefühlt. Mit der Zeit habe ich sie jedoch zu schätzen gelernt. Nur vielleicht nicht gerade dann, wenn sie samstags unangekündigt in meiner Küche steht, um mir Frühstück zu machen. Noch dazu wenn ein Typ auf meinem Sofa übernachtet hat.
"René hat mir gerade erzählt, woher ihr euch kennt. Warum hast du uns einander nie vorgestellt?"
Ich hebe eine Augenbraue. Denkt sie, da läuft was zwischen uns? Blöde Frage. Natürlich denkt sie das, wenn sie ihn schlafend in meiner Wohnung antrifft. Ein guter Freund würde schließlich nicht unbedingt hier übernachten.
"Weiß nicht", gebe ich nur zurück. "Gab keine Gelegenheit."
"Dann kommt doch an Weihnachten zusammen vorbei."
"Mama, wir sind kein Paar", protestiere ich und er fängt an zu lachen.
"Macht doch nichts", sagt sie schulterzuckend. Sie hat die Trennung von meinem Exfreund nie ganz verwunden. Zumindest kann sie es schlecht ertragen, mich mit 27 nicht in festen Händen zu wissen. Daher lässt meine Mutter keine Gelegenheit aus, mich zu verkuppeln. Völlig egal, ob sie den Mann kennt oder nicht.
"Oder hast du an Weihnachten etwas anderes vor?", fragt sie ihn. Ich weiß, dass er nichts vorhat. Außer natürlich feiern zu gehen. Renés Familie lebt in Frankreich. Sicher könnte er sie besuchen, doch er will das gar nicht. Sein Vater ist nie ganz darüber hinweggekommen, dass René mit seiner deutschen Mutter zurück nach Kassel gezogen ist und nachdem sie vor zwei Jahren starb, hegte er dennoch keine Ambitionen, den Kontakt zu seinem Vater auszubauen.
"Ich habe nichts vor", sagt René.
"Also ist es abgemacht. Greta, du bringst ihn mit!"
Nur mit Mühe kann ich ein genervtes Knurren unterdrücken. Wenn Nadya oder wahlweise auch Henry das erfahren... Ich bin geliefert.