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Kapitel 1

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Lars Burkart

Galaxy Kids

Roman

Kapitel 1

„Gib doch ab, Mann! Gib ab!“, bellte Robin außer Atem. Er war eben über den halben Platz gesprintet, hatte eine Anspielstation bieten wollen, und dann spielte Mike nicht ab, sondern versuchte es selbst! Natürlich war Robin sauer deshalb, denn das wäre ein astreines Tor gewesen. Oh ja, der Torhüter hätte keine Chance gehabt, nicht mal die leiseste! So aber flog der Ball meterweit daran vorbei.

„Warum hast du mir den nicht zugespielt?“

„Weil ich es selbst probieren wollte“, entgegnete Mike, ebenfalls außer Atem. Er grinste trotzdem bis über beide Ohren.

„Ich hätte ihn rein gemacht.“ Freilich konnte Robin das nicht wissen, aber er hatte so ein Gefühl, dass er den Ball versenkt hätte.

„Und wenn schon“, entgegnete Mike und trottete zur Mittellinie. Seine Schuhe knallten über den Beton. Ja, es war ein Betonplatz, doch das störte hier niemanden. Sie waren froh, am Abend vor dem Essen noch ein bisschen kicken zu können.

Robin war einen Kopf größer als Mike und mit seinen vierzehn Jahren auch etwas älter. Er trug sogar schon einen leichten Flaum über der Oberlippe. Obwohl er erst seit etwas über einem Jahr im Heim war, sah er sich als der Anführer an. Und warum auch nicht? Er hatte das nötige Selbstbewusstsein, war kräftig, war der Älteste und auch der Größte. In seiner Phantasie sah er sich seine Truppe durch einen wilden Dschungel kommandieren. Rundherum wimmelte es von bis an die Zähne bewaffneten Feinden, aber er, der ruhige und coole Anführer, wusste auf alles eine Antwort. Seine Truppe … das war natürlich ein Witz. Kinder, Teenager, keiner von ihnen älter als vierzehn. Nicht die Truppe, die man sich als Kommandierender wünscht. Aber in seiner Phantasie genügte es.

Robin blickte Mike entgeistert hinterher. Es stieß ihm sauer auf, dass er ihm so einfach den Rücken zugewandt und weggegangen war.

Mike hatte natürlich recht. Es war ja nur ein Spiel. Aber ein Spiel, das Robin unbedingt gewinnen wollte. Obwohl ihre Mannschaft schon drei Tore Vorsprung hatte, ärgerte ihn die verpatzte Gelegenheit.

Wobei der Gegner kein wirklicher Gegner war. Ein paar Knaben, die ihm selbst nur bis zur Schulter reichten und ein Mädchen – das aber deutlich besser kickte als die anderen Jungs ihrer Mannschaft zusammen.

Robin wollte dennoch unbedingt gewinnen.

Langsam machte auch er sich auf in Richtung Mittellinie, denn der Torwart bereitete sich auf seinen Abstoß vor. Es hatte etwas gedauert, da er erst den Ball hatte holen müssen, den Mike soweit gedroschen hatte.

Der Ball flog pfeilschnell in die gegnerische Hälfte, wo Nicole, das Mädchen, ihn gekonnt annahm und zu einem Sprint ansetzte. Ihre Zöpfe flatterten im Wind, und ihr sommersprossiges Gesicht war grimmig entschlossen. Ihre Augen fixierten den Ball. Sie kam dem Tor immer näher und konnte scheinbar von niemandem aufgehalten werden. Egal, wer sich ihr in den Weg stellte, sie dribbelte vorbei, schlug Haken, täuschte an und versenkte den Ball schließlich im Tor. Linke obere Ecke. Der Torwart hatte keine Chance.

Nicole, das einzige Mädchen, war richtig gut. Sie machte sich einen Spaß daraus, selbst die großen Jungs auszudribbeln und stehen zu lassen. Außerdem brachte sie gehörig Würze in das Spiel. Sie hatte den Abstand auf zwei Punkte verringert. Langsam holten sie auf.

Nicole war eine der längsten Bewohner des Waisenhauses. Sie gehörte sogar zu den wenigen, die sich noch nicht einmal an ihre Eltern erinnern konnten. Sie waren ein halbes Jahr nach ihrer Geburt bei einem Autounfall gestorben. Damals hatte sie mit im Wagen gesessen und das Unglück als einzige überlebt. Seit diesem Tag lebte sie im Heim, denn sie hatte keine Geschwister oder andere Familienangehörige, die sich um sie hätten kümmern können.

Doch an so was dachte sie jetzt nicht, als sie jubelnd über den Platz rannte und sich von den anderen für ihr Tor feiern ließ. Sie dachte auch sonst nicht oft an ihre Eltern. Sie hatte sie ja kaum kennen gelernt. Nur in den dunklen, einsamen Stunden der Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte, vermisste sie sie. Dann war es auch egal, ob sie sie nun gekannt hatte oder nicht. Schließlich braucht ein Kind seine Eltern. Und ein junges Mädchen sowieso. In diesem Moment war das jedoch alles unwichtig. Jetzt zählte nur dieses Spiel. Und das wollte sie gewinnen.

„Na los, Leute“, spornte sie den Rest ihrer Mannschaft an, bevor sie sich wieder auf dem Platz verteilten, „die paar Punkte kriegen wir auch noch!“

Auch Robin, der den Sieg sicher glaubte, verlangte noch einmal alles von seiner Truppe ab.

Obwohl es den Kindern aufs Schärfste verboten war zu fluchen, konnte sich Robin ein „Verdammt noch mal!“ nicht verkneifen. Sie hatten das Spiel verloren. Nicole hatte noch drei Tore geschossen, und dann war es ihnen nicht mehr gelungen, den Rückstand aufzuholen.

„Verdammt, wie konnte das passieren? Wir lagen doch in Führung!“

Schon wieder hatte er geflucht. Natürlich wusste er um das Verbot und hätte auch nie einen Fluch in den Mund genommen, wenn ein Erzieher, schlimmer noch, Mom, in Hörweite gewesen wäre. Mom hatte Ohren wie ein Luchs. Sie konnte eine Stecknadel aus hundert Metern Entfernung fallen hören. Doch jetzt war keiner von ihnen da und Robin genoss das Fluchen wie eine verbotene Frucht.

Er lief abseits der anderen vom Platz. Mike eilte zu ihm, legte ihm den Arm über die Schulter und redete wie ein Wasserfall auf ihn ein.

„Junge, Junge, was für ein Spiel! Das hat richtig Laune gemacht! Schade, dass es schon vorbei ist. Ich hätte leicht noch eine Stunde oder zwei so bolzen können. Mindestens. Was meinst du? Das war doch geil, oder etwa nicht?“

Am liebsten hätte Robin sich aus der Umarmung gerissen und Mike in den Hintern getreten. Doch er besann sich. Er hatte schon früh begriffen, dass nicht alle seinen Siegeswillen teilten, dass für viele der Spaß wichtiger war als das Ergebnis. Er tat sich damit immer noch schwer. Dennoch sah er zu ihm rüber, blickte ihm in die Augen. Dabei sah er noch einmal, wie Mike die hundertprozentige Chance verspielt hatte und seufzte. Aber es nützte nichts. Schließlich ließ er sich von ihm mitreißen und schloss zu den anderen auf.

Nachdem Abendessen hatte auch Robin das Spiel vergessen. Er aß mit Bärenhunger und nahm sich sogar zweimal Spaghetti Bolognese nach. Jetzt war er pappesatt. Sein Magen fühlte sich an, als hätte er Briketts geschluckt, ein riesiger, schwerer Klumpen, der seine Magenwände dehnte.

Schmatzend und sich den Bauch haltend, spazierte er in den Gemeinschaftsraum, wo Mike bereits am Tisch saß. Schnurstracks ging er zu ihm. Sein schmerzender Bauch bereitete ihm Mühe, aber das würde vorbeigehen.

„He, Mike! Was liegt an?“

Viel zu langsam hob er den Kopf. Auf Robin wirkte es so, als säße da ein achtzigjähriger Greis, nicht ein Junge von gerade einmal dreizehn. Seine Augen blickten müde und traurig. Wo waren die Freude und Ausgelassenheit vom Bolzplatz? Aber Robin brauchte nicht zu fragen. Er ahnte, was seinen Freund bedrückte. Ihm selbst ging es an manchen Tagen nicht anders. Gerade eben war man noch fröhlich und ausgelassen, und dann plötzlich war da eine Erinnerung, ein Gedanke, ein bekannter Geruch, etwas, das einem das Bild der verloren gegangenen Familie in den Kopf rief und unvermittelt alle Fröhlichkeit aus einem herausspülte. Wie ein Gebirgsbach, der auf seinem Weg ins Tal alles mit sich reißt und im Laufe der Zeit den harten Fels blank poliert.

„Ich hatte wieder diesen Traum.“

Das war nicht das, was Robin erwartet hatte. Er stoppte mitten in der Bewegung. Dieser Traum, immer wieder dieser verdammte Traum! Ein Glück, dass man in seinen Gedanken soviel fluchen konnte, wie man wollte.

Hinter ihm betraten jetzt weitere Kinder das Zimmer und brachten jede Menge Geräusche mit: lachen, kichern, gackern, erzählen, grölen. Dazu das Stapfen von Füßen und das Rascheln von Kleidung. Insgesamt einundzwanzig Kinder lebten in dem Heim, die sich jetzt alle langsam versammelten, um noch ein bisschen zu spielen, Bilder zu malen oder sich etwas zu erzählen.

Doch keines dieser Geräusche drang bis zu Robin durch. Er stand noch immer mitten in der Bewegung erstarrt und glotzte seinen Freund an.

Und Mike glotzte zurück, wobei in seinen Augen eine Frage stand: Was hat dieser Traum zu bedeuten?

Nur langsam gelang es Robin, sich aus der Starre zu befreien und weiter auf Mike zuzugehen. Hinter ihm, zu seiner Rechten und Linken, wurde der Lärm immer lauter. Eben war ein Knirps, nur halb so groß wie er selbst, an ihm vorbei gerannt und hatte ihn angerempelt. Robin konnte nicht erkennen, wer es gewesen war, es war ihm auch egal. Endlich erreichte er seinen Freund und setzte sich mit weichen Knien neben ihn.

„Erzähl mir von dem Traum!“

„Das habe ich doch schon ein paar Mal.“

„Egal. Erzähl es mir noch mal!“

Eigentlich hatte Mike keine Lust. Es genügte doch, wenn er jede Nacht davon träumte, da wollte er wenigstens am Tag seine Ruhe haben!

Vor drei Wochen hatten die Träume angefangen. In der ersten Nacht war der Traum noch spannend gewesen. Da hatte er noch geglaubt, es wäre ein Traum wie jeder andere. Am Morgen konnte er sich bis ins kleinste Detail an ihn erinnern. Das fand er sogar gut, denn es war ein spektakulärer Traum gewesen. Als er dann in der nächsten Nacht denselben Traum gehabt hatte, fand er das merkwürdig, hatte sich aber noch nichts dabei gedacht. Und dann kam der Traum jede Nacht wieder, so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. Und mit jedem Mal wuchs seine Unruhe. Mike konnte sich das nicht erklären. Warum träumte er ein und denselben Traum über mehrere Wochen? Der Traum veränderte sich nicht. Kein bisschen. Vom Anfang bis zum Ende blieb er immer haargenau gleich. Immer derselbe Ablauf.

Unruhig rutschte Mike auf seinem Stuhl hin und her. Ihm behagte die Situation nicht. Warum hatte er es auch ausgesprochen? Warum ausgerechnet hier, im Gemeinschaftsraum, wo so viele Ohren mithören konnten? Warum nicht woanders? Wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibgut klammerte er sich an diesen Gedanken. Ja, warum nicht woanders? Obwohl es müßig war, das zu tun, zerbrach er sich den Kopf darüber. Warum nicht an einem besser geeigneten Platz, oben, auf dem Dach beispielsweise?

Weil die Wesen in meinem Traum das so wollen.

Es erschreckte ihn, wie er diesen Gedanken einfach so dachte. Weil die Wesen das so wollen. Die Endgültigkeit, die hinter diesem Gedanken steckte, machte ihm Angst.

„Ich verstehe nicht …“, begann er und sah sich dann um wie ein scheues Tier. Konnte man ihn hören, wurde ihr Gespräch belauscht? Es hatte sich nichts verändert. Die Kinder, die an den Tischen gesessen und sich mit Spielen beschäftigt hatten, saßen noch immer an den Tischen und spielten noch immer. Sie beachteten sie nicht. Auch die Kinder, die auf dem Boden saßen und Bilder malten, saßen noch immer auf dem Boden und malten noch immer Bilder.

„Ich verstehe einfach nicht, wie man ein und denselben Traum immer und immer wieder haben kann … Das ist mir ein Rätsel.“

„He, du Blödmann!“, grölte ein Junge am Nachbartisch einen Mitspieler an und riss Mike aus seinen Gedanken. „Wenn du eine Vier würfelst, kannst du auch nur vier Felder vorrücken und keine fünf!“

„Hab ich doch gar nicht“, verteidigte sich der Angesprochene. Seine Stimme klang weinerlich. Er war ein kleiner Junge, rotblondes Haar und eine Brille, die fast so wuchtig wirkte wie ein Mikroskop.

„Von wegen! Ich hab doch genau gesehen, dass du fünf Felder vorgerückt bist statt vier!“ Der Junge stand auf und hielt ihm die vier Finger seiner rechten Hand vor die Brille. „Hier, du Blindschleiche, kannst du zählen? Das sind vier Finger! Nicht fünf, sondern vier!“

Unter der dicken Brille begann es zu arbeiten. Die Mundwinkel zuckten wie verrückt, die Nasenflügel flatterten, als wolle er gleich abheben, und in den Augen sammelten sich Tränen, die durch die Gläser wie dicke Tropfen wirkten. Dann sprang er plötzlich auf, wischte das Spiel vom Tisch und rannte aus dem Zimmer. Noch während die Spielfiguren mitsamt Würfel über den Boden rollten, war er schon durch die Tür.

„Okay, okay, okay, das war’s für heute! Packt die Spiele zusammen! Zeit, auf eure Zimmer zu gehen!“ Moms Stimme war wie immer wie ein Donnergrollen. Sie klatschte in die Hände und scheuchte die Kinder wie Hühner vor sich her.

Jedes Kind, das neu im Heim war, lernte eines als allererstes: Mom hatte immer und überall das Sagen. Wenn sie sagte „Schluss für heute!“, bedeutete es auch haargenau das. Da gab es kein „Oh, ich will aber noch …“, und auch kein „Oh, bitte, nur noch ein paar Minuten …“ Nein, was Mom sagte, war Gesetz. Und so war nur fünf Minuten später der Gemeinschaftsraum wie leergefegt.

Mike lag auf seinem Bett. Das Licht war aus, aber mittlerweile hatten seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt und er starrte an die Decke. Er starrte sie an, ohne sie tatsächlich zu sehen. Sein Blick wanderte von der Decke geradewegs ins Leere. In der Dunkelheit war das Bücherregal ein großer, schwarzer Fleck. Durch das Fenster fiel zwar etwas Mondlicht, aber das genügte keineswegs, um die Konturen zu schärfen. Auch sein Schrank am Fußende war nur ein großer schwarzer Fleck. Kleinen Kindern mochte diese Dunkelheit Angst bereiten. Aber ihm natürlich nicht. Aus dem Alter war er raus. Er glaubte nicht mehr an den Schwarzen Mann, an das Monster unterm Bett und an das Biest aus dem Schrank.

Nein, ihn ängstigten ganz andere Dinge. Ihn ängstigte dieser Traum. Gar nicht einmal sein Inhalt, sondern vielmehr die Regelmäßigkeit, mit der er jede Nacht wiederkehrte.

Dieser vermaledeite Traum …

Er geht mit weichen Beinen eine Straße entlang, die sich scheinbar bis zum Horizont erstreckt. Sie ist kerzengerade. Die Laternen, die in einem Abstand von nicht mal fünf Metern an beiden Seiten stehen, brennen, obgleich es heller Tag ist. Dazu brennen zwei Sonnen vom Himmel. Die kleinere ist nur halb so groß wie ihre Schwester, dennoch ist auch sie gewaltig. Die Sonnen brennen vom Himmel und lassen die Luft über der Straße flirren.

Es ist heiß und er schwitzt aus jeder Pore, dennoch schreitet er zügig voran. Links und rechts der Straße erstreckt sich so etwas wie eine Wüste. Genauer zu erkennen ist es nicht, weil er nie die Mittellinie verlässt, geschweige denn die Straße. Ab und an wächst eine Pflanze aus dem rostroten Sand. Es sind merkwürdig aussehende Pflanzen, in derselben Farbe wie der Sand, über und über bewehrt mit Dornen, mannshoch und die Blätter mit Mäulern bestückt, mit denen sie nach Insekten schnappen.

Er erhöht sein Schritttempo. Bei diesen Pflanzen will er lieber kein Gärtner sein.

Nun rennt er fast, trotz der Hitze. Er spürt keine Angst, nur Anspannung und Aufregung. Das Rennen strengt ihn auch nicht an. Er hat fast die Kondition eines Marathonläufers. Er kann rennen und rennen, ohne aus der Puste zu kommen.

Schließlich endet die Straße, und er findet sich mitten auf dem rostroten Sand wieder, inmitten dieser sonderbaren Pflanzen, deren Maulbewehrte Blätter sich langsam im Wind wiegen.

Der Sand knirscht unter seinen Füßen. Doch als er nach unten sieht, ist es plötzlich kein Sand mehr, sondern Eis. Verwundert blickt er auf und kann die Umgebung nicht mehr erkennen. Die Pflanzen sind verschwunden, mit ihnen der Sand und, wie er jetzt an einem Frösteln erkennt, auch die Hitze. Die beiden Sonnen scheinen noch immer vom Himmel, jetzt jedoch nicht mehr über seinem Kopf, sondern viel tiefer, in der Nähe des Horizonts. Fast ist es, als könne er mit der Hand nach ihnen greifen. Sie strahlen auch nicht mehr so hell.

Die Kälte durchdringt ihn bis auf die Knochen, und augenblicklich sehnt er sich zurück in die wohlige Hitze der Wüste. Er beginnt zügiger zu laufen, um sich warm zu machen. Das Eis unter seinen Füßen knirscht, als drohe es jede Sekunde unter ihm zu bersten. Dennoch fürchtet er sich nicht. Er weiß, es arbeitet nur. Außerdem glaubt er nicht, dass unterhalb des Eises Wasser ist. Nein, das Eis unter seinen Füßen existiert bereits seit Jahrtausenden und erstreckt sich bis zu einem tiefen Grund.

Die Umgebung ist zerklüftet und hügelig. Hier und da erheben sich mächtige Türme aus Eis vor ihm, die er mühevoll umrunden muss. Es gibt auch tiefe Spalten. In einer besonders großen und breiten versucht er den Boden auszumachen, doch es gelingt ihm nicht, sie ist zu tief. Ein beunruhigender Gedanke. Er macht, dass er Abstand zwischen sich und der bodenlosen Spalte bekommt.

Inzwischen fühlt die Kälte sich gar nicht mehr so eisig an. Kann man sich etwa an sie gewöhnen, so wie die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen?

Ein Heulen durchbricht die Stille und lässt ihn zusammenzucken. Es kann keineswegs vom Wind herrühren, egal wie heftig er weht. Nein, es hat einen anderen Ursprung. Es klingt irgendwie … tierisch.

In der zerklüfteten Landschaft kann er nicht sehr weit sehen, egal in welche Richtung er blickt. Einen Augenblick überlegt er, einen der Eisberge zu erklimmen. Sie sind im Grunde nicht besonders hoch, vier, fünf Meter. Würde das etwas nützen? Wahrscheinlich sähe er dann die Landschaft aber nur von einer höheren Warte aus, mehr nicht. Also nur noch mehr Eisberge. Und was ist, wenn er auf dem eisigen Untergrund ausrutscht und abstürzt? Wer würde ihm helfen, wenn er hier, in dieser trostlosen Einsamkeit, daliegt, sich vielleicht sogar ein Bein gebrochen hat? Nein, diese Idee ist Unsinn.

Jetzt ertönt das Heulen von neuem. Und es scheint sogar näher gekommen zu sein, denn es klingt lauter. Jetzt beginnt das Eis zu knirschen. Nicht nur an einer Stelle, sondern überall. Das Knirschen und Knacken beginnt direkt hinter ihm, überholt ihn kreischend (es knirscht und knackt direkt unter seinen Füßen), und dann breitet es sich weiter nach links und rechts und nach vorn aus. Von einem Eisberg direkt zu seiner Rechten bricht jetzt ein Brocken ab und fällt scheppernd zu Boden.

Er sieht dabei zu und erwartet, dass er in tausend Stücke zerspringt. Doch das tut er nicht, sondern bleibt ganz. Der Brocken rutscht nur ein Stück über das Eis und bleibt dann liegen.

Jetzt bekommt er es doch mit der Angst zu tun. Da muss etwas sehr Großes unterwegs sein, etwas, das groß und schwer ist. Und es bewegt sich direkt auf ihn zu …

Mike beschleunigt seinen Gang. Er nimmt es sogar in Kauf, auf dem glatten Boden auszurutschen und hinzufallen. Das ist ihm lieber, als mit diesem … diesem näher kommenden Ding Bekanntschaft zu machen.

Als das Heulen erneut ertönt, rennt er bereits. Wieder ist es lauter geworden. Lauter und damit auch näher? Er will es nicht auf einen Versuch ankommen lassen und beschleunigt noch mehr. Sein Herz hämmert ihm in der Brust. Die Angst hat vollständig von ihm Besitz ergriffen. Immer öfter dreht er sich um, blickt über die Schulter, während er weiter rennt.

Und dann plötzlich sieht er eine riesige, haarige Tatze nach einem Eisberg greifen. Er schreit panisch auf.

Und dann wird sein Schrei ein Gellen, denn in diesem Moment stürzt er in eine der riesigen Spalten.

Während er fällt, sieht er überall um sich herum nur Eis. Dann wird es dunkel, doch er fällt immer noch. Er fällt und fällt. Seine Gedanken überschlagen sich: Hier komme ich nie wieder raus. Hier werde ich für ewige Zeiten gefangen sein. Dass er diesen Sturz unmöglich überleben kann und das alles keine Rolle mehr spielt, kommt ihm nicht in den Sinn.

Sein Schrei dröhnt in seinen Ohren und lässt sie klingeln.

Nach einigen Sekunden in absoluter Dunkelheit wird es wieder etwas heller. Verschwommen nimmt er neben sich eine riesige Steilwand wahr, in der er sich selbst in die Tiefe stürzen sieht. Schließlich ist es so hell, dass er sogar sein Gesicht erkennen konnte. Seltsamerweise ergibt das, was er da sieht, nicht den geringsten Sinn. Denn im Gesicht seines Spiegelbildes steht keine Angst. Es wirkt vielmehr gefasst, ruhig.

Dann hat er das Gefühl, dass sein Sturz sich verlangsamt, als ließe die Fallgeschwindigkeit irgendwie nach, als bremse etwas seinen Sturz. In seinem Spiegelgesicht erkennt er jetzt eine gewisse Neugier. Was geschieht hier? Warum und wodurch wird sein Sturz abgebremst? Was bedeutet das? Schließlich fällt er so langsam, dass er an eine schwebende Feder denken muss. Es ist jetzt mehr ein Abwärtsgleiten als ein Hinunterfallen.

Seine Angst ist jetzt gänzlich verschwunden. Sie hat der Neugier Platz gemacht. Irgendetwas sehr Merkwürdiges geschieht hier, und er ist mächtig gespannt, was das sein kann …

Schließlich setzt er sanft auf den Boden auf. Er landet bequem auf den Füßen wie eine Katze.

„Fürchte dich nicht“, ertönt eine Stimme von irgendwoher, sie klingt freundlich, „es wird dir nichts geschehen.“

Er sieht sich um. Er ist in einer riesigen Höhle. Über seinem Kopf herrscht Finsternis, aber um ihn herum ist es taghell. Ebener Boden erstreckt sich zu seinen Füßen, scheinbar kilometerweit. Eis. So wie alles hier unten. Die Wand, in der er beim Fallen sein Spiegelbild beobachtet hat, wächst direkt hinter ihm in die Höhe, und vor ihm erstreckt sich eine weite, scheinbar endlose Ebene. In der Ferne verschmilzt sie zu einem hellen Fleck.

„Fürchte dich nicht“, wiederholt die Stimme noch einmal. Sie klingt auch diesmal freundlich.

„Wo bist du? Wer bist du? Zeig dich endlich!“

Ganz schön viele Forderungen, wie er findet, aber durchaus angebracht. Schließlich passiert einem so was nicht aller Tage.

Plötzlich beginnt die Luft an einer Stelle zu flirren und zu flackern, und dann verändert sich dort alles: Eben war da noch eine glatte Eisfläche, und jetzt stehen da drei Gestalten. Es verschlägt ihm die Sprache, obwohl er eigentlich noch etwas fragen will.

„Fürchte dich nicht.“

Irgendetwas hier ist seltsam– einmal abgesehen davon, dass er den dramatischen Sturz ohne Kratzer überstanden hat. Er kommt aber noch nicht gleich darauf, was es ist.

Er steht stocksteif da und ist zu keiner Bewegung fähig. Er starrt nur auf die drei Gestalten und schafft es nicht, auch nur einen Gedanken zu Ende zu bringen. Erst als sich einer der drei aufmacht und nähert, weiß er es endlich. Nur einen Moment lang schiebt er es auf die Sichtverhältnisse und das Eis; dann begreift er, dass er wirklich das sieht, was er da sieht.

Die Gestalt, die sich auf ihn zu bewegt, wirkt … irgendwie merkwürdig. Schon ihre Proportionen muten seltsam an. Sie scheint sehr groß zu sein, etwas über zwei Meter. Der Hals ist etwas länger, auch das Gesicht und die Arme sind lang. Auch die Finger sind langgliedrig. Die Haut ist ebenso weiß wie bei ihm selbst, nur das Gesicht, das ist… Den Rest kann er ja noch darauf schieben, dass die Gestalt unglaublich groß ist und eine gute Zukunft als Basketballspieler haben könnte ... Aber mit diesem Gesicht wäre das nicht möglich. Aus dem spricht die … die ganze Wahrheit. An ihm erkennt er, was für ein Wesen da auf ihn zukommt …

Es hatte schon einige Male geklopft, ehe Mike es registrierte. Er hatte nicht geschlafen, nur auf dem Bett gelegen, an die Decke gestarrt und an diesen Traum gedacht. Er richtete sich auf und fühlte seine müden Knochen.

„Was ist?“, fragte er durch die Tür hindurch.

„Mike, ich bin’s, Robin! Mach schon die Tür auf!“

„Wenn’s denn sein muss …“

Robin huschte durch den Türspalt.

„Sag mal, hast du gepennt? Du siehst aus wie …“

„Nein, Mann“, unterbrach er ihn, „ich hab nicht geschlafen. Was ist denn los?“

„Ich wollte nur fragen, ob du mit hoch aufs Dach kommst.“

„Jetzt noch?“

„Na klar, der Himmel ist sternenklar, und es ist angenehm warm. Wenn du natürlich weiterschlafen willst …“

„Ich hab doch gar nicht … ach, vergiss es!“

Eine Minute später waren sie auf dem Korridor und schlichen an den Zimmern der anderen vorbei. Vor einigen Monaten waren die beiden in den Besitz des Schlüssels gekommen. Nicht irgendein Schlüssel, sondern der Hauptschlüssel. Der, der alles auf- und zuschließen konnte. Mit dem sie Türen öffnen konnten, die ihnen sonst verschlossen blieben. Dieses gute Stück war so etwas wie die goldene Master Card. Er musste dem Hausmeister oder einem Erzieher aus der Tasche gefallen sein. Vielleicht war er sogar von Mom? Wie auch immer, als sie ihn fanden, hatte er unter einem Tisch im Speisesaal gelegen, da, wo das Heimpersonal seine Mahlzeiten einnahm.

Mike und Robin hatten Glück. Es war zwar der Hauptschlüssel, aber obwohl er verschwunden war, wurden nicht sämtliche Schlösser ausgetauscht. Das wäre ein enormer Aufwand gewesen und obendrein noch richtig teuer. Doch es gab ja nichts Wertvolles in dem Heim: keine alten Gemälde, keine Statuen längst verstorbener Meister, kein Schmuck im Tresor. Es war nur ein ganz normales Kinderheim.

Seitdem Fund des Schlüssels gehörten Robin und Mike zum engen Kreis derjenigen, die Zutritt zu allen Räumen des weitläufigen Gebäude hatten. Und sie machten regen Gebrauch davon.

Schon allein der riesige Keller erfreute ihr Abenteurerherz. So viele Räume! Sie entdeckten Zeitungsausschnitte, fünfzig Jahre alt, Fotos, teilweise noch älter, viele davon vergilbt, uralte Sportmatten, von Mäusen zerfressen, Klamotten, nicht besser aussehend. Nachdem sie den Keller erforscht hatten, machten sie sich an das Dachgeschoß, und auch hier wurden sie fündig: uralte Spielsachen mit abbröckelnder Farbe, Zeitschriften, begraben unter einer fingerdicken Staubschicht, Schularbeiten und Klausuren von Kindern, die hier vor vierzig, fünfzig Jahren gelebt hatten.

Als es auch dort nichts mehr zu entdecken gab, fanden sie die Tür zum Dach, und seither war das ihr Lieblingsplatz. Der Schlüssel und das Dach– das waren zwei Geheimnisse, die nur sie beide kannten.

Wie schon unzählige Male zuvor waren sie so leise geschlichen wie auf Katzenpfötchen, darauf bedacht, kein verräterisches Geräusch zu machen, niemanden zu wecken. Erst nachdem die Tür zum Dach sich hinter ihnen geschlossen hatte, atmeten sie aus.

Dutzende Male waren sie unentdeckt geblieben, Dutzende Male hatten sie ihr Geheimnis bewahren können– diesmal aber war man ihnen auf den Fersen. Freilich wussten sie das nicht.

Als sie auf dem flachen Dach standen, tief die warme Nachtluft einatmeten und über sich den sternklaren, wolkenlosen Himmel sahen, fühlten sie sich glücklich. Anfangs waren Keller und Speicher noch spannend gewesen und aufregend, doch mit der Zeit war es dort langweilig geworden. Hier oben aber, auf dem Dach, fühlten sie sich wohl, egal welches Wetter herrschte. Hier konnten sie ihre Gedanken schweifen lassen. Hier waren sie frei.

Sie legten sich auf den Beton, der von der Sonne des Tages noch warm war und blickten hinauf in den Himmel. Die Sterne funkelten, und der Mond leuchtete wie eine satte Kugel. Irgendwo zwitscherten Vögel; wahrscheinlich kamen die Geräusche aus dem nahe gelegenen Park.

„Erzähl mir von deinem Traum“, forderte Robin seinen Freund auf.

„Ich …“ Dann stockte Mike schon. Wollte er das eigentlich? Wollte er seinem Freund wirklich alles erzählen? Darüber musste er erst nachdenken. Sicher, sie kannten sich jetzt knapp ein Jahr. Hin und wieder gab es Reibereien, wie das üblich ist, aber im Großen und Ganzen waren sie echte Freunde. Dennoch … diesen Traum zu offenbaren, das war etwas ganz anderes. Doch vielleicht … wenn er es tat, wenn er Robin davon erzählte, vielleicht änderte sich der Traum ja dann? Vielleicht verschwand er sogar?

Dann gab er sich einen Ruck und fing einfach an.

„Da ist diese Wüste. Und vom Himmel scheinen immer zwei Sonnen …“

Als Mike endete, herrschte einen Augenblick lang Schweigen. Nur die Vögel zwitscherten. Schon während Mike noch berichtete, änderte sich Robins Gesicht: Zuerst war da Neugier gewesen, dann aber kam Unglauben hinzu, und schließlich wurden seine Augen schmal, sein Gesicht verkniffen und faltig, und schließlich sprach aus ihm Fassungslosigkeit und Entsetzen. Seine Augen waren nur noch Schlitze, und sein Gesicht sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Einen Augenblick überlegte er, ob Mike ihn veräppeln wollte. Aber wie hätte er das tun sollen? Woher hätte er wissen sollen, dass er selbst haargenau denselben Traum träumte? Seit ebenso langer Zeit?

„Ich …“, mehr brachte er nicht heraus, während Mike ihn erwartungsvoll ansah.

„Nun“, fragte Mike, während er ihn noch immer anblickte, „was hältst du davon? Was könnte der Traum bedeuten?“

Mike wirkte äußerlich gelassen, aber innerlich tobte in ihm ein Veitstanz. Einerseits tat es ihm gut, den Traum erzählt zu haben, aber andererseits wollte er sich nicht lächerlich machen. Robin war zwar sein Freund, aber nichtsdestotrotz wusste er nicht, ob er sich auf ihn verlassen konnte. Gut, auf ihren nächtlichen Exkursionen durch das Gebäude waren sie dicke Kumpel gewesen, auch auf dem Bolzplatz waren sie füreinander da, aber wie das jetzt mit dem Traum aussah, musste sich erst noch zeigen!

Robin trug nicht gerade dazu bei, dass Mike sich entspannen konnte. Er starrte ihn immer noch an mit großen Augen, und sein Mund war geformt zu einem„O“. Sonst kam außer einem weiteren „ich …“ nichts von ihm.

„Mensch, Alter, jetzt sag endlich was!“

Mike wälzte sich unruhig auf dem warmen Beton herum, und seine Kleidung raschelte. Schließlich setzte er sich auf und sah in den Nachthimmel, während seine Füße über den Beton scharrten. Robin blieb so liegen. Mike wollte seinem Freund etwas sagen, doch er wusste nicht, wie er es tun sollte. Immer wieder öffnete er den Mund und schloss ihn wieder und sah dabei aus wie ein Fisch an Land.

„Ich … ich kenne diesen Traum“, schallte plötzlich eine Stimme über das Dach.

Mike und Robin zuckten zusammen wie vom Blitz getroffen, dann sprangen sie gleichzeitig auf, so dass ihre Köpfe fast gegeneinander knallten. Fassungslos blickten sie in Richtung Tür. Sie lag im Dunkeln, aber deutlich konnten sie erkennen, dass jetzt Nicole aus ihr trat.

Nicole machte noch einen Schritt und blieb dann stehen. Hinter ihr kamen noch zwei Kinder aus der Dunkelheit, ein Junge und ein Mädchen, deren Namen Mike gerade nicht einfiel. Das Mädchen war etwas kleiner als Nicole und wirkte schüchtern; sie schien sich regelrecht hinter ihrer Freundin zu ducken. Ihr Blick wanderte immer wieder zu Boden, sie trat mit den Füßen unablässig auf, knetete ihre Hände und kaute auf ihrer Unterlippe rum.

„Na los doch, Eisenmaul, erzähl’s ihm!“

Eisenmaul war der Spitzname des Jungen, weil er immer eine Spange im Mund trug. Ihn störte der Spitzname nicht, im Gegenteil, er schien ihn sogar zu mögen, denn mittlerweile hörte er kaum noch auf seinen richtigen Namen. Auch das war ein Grund, warum er Mike partout nicht einfallen wollte.

„Ich kenne diesen Traum auch.“

Der Satz vertrieb alle anderen Gedanken, da war er noch gar nicht richtig ausgesprochen. Erst jetzt registrierte Mike, dass auch Nicole etwas Ähnliches gesagt hatte. Auch sie kannte also diesen Traum. Das hatte sie doch gesagt, oder? Oder bildete er sich das nur ein?

„Und du, Jenni? Was ist mit dir?“

Schüchtern hob die Angesprochene den Kopf. Ihre Augen leuchteten selbst in der Dunkelheit grün. Ihre Haut war sehr hell, regelrecht blass, und ihr Haar rot und kurz. Dann nickte sie langsam, als bewege sie sich in Zeitlupe. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: „Ja, ich kenne diesen Traum. Ich träume ihn jede Nacht.“

Das hörte Mike nun schon zum dritten Mal, dennoch schlug es noch immer ein wie eine Bombe. Er schnappte nach Luft. Die warme Nachtluft strömte in seine Lungen und tränkte seinen Körper mit Sauerstoff. Er war hellwach.

In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vor nicht einmal einer Minute hatte er noch geglaubt, nur er träume diesen Traum, hatte befürchtet, verrückt geworden zu sein. Und jetzt … jetzt waren da schon drei andere Kinder, die dasselbe erlebt und gesehen hatten. Beiläufig fragte er sich, wie die drei eigentlich hier hinaufgekommen waren, doch er verdrängte die Frage gleich wieder. Stattdessen blickte er ihnen so fest in die Augen, als hänge sein Leben davon ab. Sogar Jenni hielt seinem Blick stand; sie schaute nicht zu Boden.

Insofern er sich von den anderen Kindern eine Antwort erhofft hatte, warum sie diesen Traum träumten, war er enttäuscht worden. Das schien niemand von ihnen zu wissen. Auch in ihren Blicken standen nur Fragen.

„Ich … ich auch“, stammelte Robin jetzt verlegen.

Mike war auf die drei Neuankömmlinge zugegangen; jetzt drehte er sich fassungslos um zu Robin. Wie er so dastand im Mondlicht, wirkte er fast verloren. Seine Arme hingen schlaff an ihm herunter, als hätte er keine Kraft mehr.

„Was?“ Mike sprach energischer, als er es beabsichtigt hatte, aber er bereute es nicht. Schließlich hatte er ihm erst vor wenigen Minuten das Herz ausgeschüttet und Robin hatte nur geschwiegen. Da konnte seine Stimme ruhig etwas derber rüberkommen. Er lief zwei Schritte auf ihn zu, blieb stehen und sah ihn herausfordernd an.

Robin wand sich unter seinem Blick. Auch die anderen schauten ihn verlegen an. Trotzdem hatte Mike kein Mitleid mit ihm. Warum auch? Schließlich hatte Robin sich das selbst eingebrockt. Hätte er gleich zu Anfang mit offenen Karten gespielt, wäre es ihm erspart geblieben. Er trat von einem Bein aufs andere, als müsse er dringend pinkeln und blickte unschlüssig von einem zum anderen.

„Ich … ich …“

„Ja?“, versuchte Mike ihn zu animieren.

„Ich… kenne diesen Traum auch.“ Jetzt seufzte er, als koste ihn dieses Eingeständnis Überwindung. „Ja, ich träume ihn auch immer. In den letzten drei Wochen jede Nacht.“ Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Du also auch?“

„Ja, aber ich … ich konnte einfach nichts sagen“, kam Robin seiner Frage zuvor. Was sollte er auch erwidern? Ja, er hätte seinem besten Freund gern davon erzählt, aber irgendetwas hatte ihn immer davon abgehalten. Er konnte nicht sagen, was. Wie eine unbekannte Macht hatte es ihn zurückgehalten, immer und immer wieder. Bis jetzt. Als wäre …Ja, als wäre es irgendwie beabsichtigt, dass die fünf Kinder sich hier oben trafen. Aber das war Quatsch. Wie sollte das möglich sein? Robin beeilte sich, nicht allzu lange darüber nachzudenken. Die Richtung, die das einnahm, gefiel ihm nämlich nicht. Das wäre alles nur ein blindes Herumstochern im Nebel ohne wirkliche Antwort. Nein, das alles konnte nur Zufall sein, weiter nichts.

Dennoch … irgendetwas war seltsam. Schließlich waren da immer noch die fünf Kinder, die genau denselben Traum träumten. Wie ging das zu? Was steckte dahinter?

„Wie seid ihr eigentlich hierher gekommen“, fragte er Nicole.

„Oh, das war nicht schwer. Wir sind einfach denselben Weg gegangen wie ihr“, antwortete sie mit verschmitztem Lächeln.

„Das meinte ich nicht.“

„Ich weiß. Ich wollte auch nur einen Scherz machen, dich etwas auflockern. Du wirkst so verkrampft. Hast du einen Besenstiel verschluckt?“

Mike sprang ein. „Du hast unser Gespräch im Gemeinschaftsraum belauscht, stimmt’s?“

„Nun …belauscht würde ich nicht sagen. Zufällig mitgehört.“

„Aha“, entgegnete Mike trocken. Was hatten sie alles gehört? Was wussten sie?

„Und nicht nur einmal haben wir euch zugehört! Was das Tuscheln angeht, da seid ihr nämlich blutige Anfänger! Na ja, wir Mädels können das eben viel besser.“ Nicole kicherte und Jenni fiel mit ein. Das Kichern klang hier oben, im fahlen Mondlicht, seltsam fremd.

„Es wundert mich, dass nicht das ganze Heim Bescheid weiß …“

„Waren wir wirklich so laut?“

Statt einer Antwort winkte Nicole mit der Hand, als verscheuche sie eine lästige Fliege. Robin und Mike verstanden die Geste; sie schienen tatsächlich recht laut gewesen zu sein, obwohl sie geglaubt hatten, nur zu flüstern.

„Außerdem haben wir hinter unseren Türen gelauscht, als ihr eben hoch geschlichen seid. Wenigstens dabei ward ihr leise.“

„Pah, genützt hat es uns nichts. Ihr seid trotzdem hier“, schnaubte Robin und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ja, sind wir. Was willst du dagegen tun?“ Jetzt schaltete sich Jenni in das Gespräch ein. Robin wurde ihr zu unwirsch. Was glaubte der denn, wer er war? Dieser Ort hier gehörte doch nicht nur ihm!

„Ihr dürft genauso wenig hier sein wie wir!“

„Leute, Leute, lasst das doch! Seht euch um! Dieses Dach ist doch groß genug für uns alle!“ Jetzt räusperte sich der Junge mit der Zahnspange. „Und vergesst nicht, wir haben was gemeinsam!“

Hatten sie das? Hatten sie etwas gemeinsam? Konnte das Träumen von ein und denselben Dingen eine Gemeinsamkeit sein? Und worin bestand sie?

„Marcel hat recht.“ Nicoles Stimme klang laut.

Jetzt wussten endlich auch Robin und Mike, wie der andere Junge hieß. Egal, Eisenmaul gefiel ihnen wesentlich besser.

„Wir haben nun mal diese Gemeinsamkeit“, fuhr Nicole unbeirrt in gleicher Lautstärke fort, „und vielleicht sollten wir, statt zu streiten, lieber darüber nachdenken. Irgendeinen Grund muss es ja geben.“

„Zufall, weiter nichts“, sagte Robin sofort, aber seine Stimme klang schwach.

„Das ist kein Zufall, Robin. Nie und nimmer!“ Nicoles Stimme klang wesentlich überzeugter.

Auch Mike schüttelte den Kopf.„Hier stimmt was nicht“, sprach er mit finsterer Stimme, „so was gibt es einfach nicht. Es kann nicht sein, dass Menschen das Gleiche träumen, noch dazu Menschen, die sich kennen. Nein, irgendetwas ist … Es ist … ich finde, es ist, als wollten diese Träume uns etwas sagen. Nur was, können wir noch nicht erkennen. Wir werden es aber bald wissen. Ich glaube … ich glaube, wir wurden manipuliert.“ Er sah, wie Jenni tief Luft einsog, sprach aber mutig weiter: „Aber irgendetwas sagt mir, dass keine Gefahr für uns besteht.“

Mike sagte das nicht nur, um Jenni zu beruhigen, er sagte es auch zu sich selbst. Er fürchtete nämlich die Richtung, in die das ging, jetzt, da seine Gedanken auf Freigang waren. Und das verunsicherte ihn. Er war kein Hasenfuß, doch er spürte, wie sein Atem schneller wurde, sein Herz pochte und ihm der Schweiß ausbrach.

„Wie kommst du darauf, dass wir das bald erfahren?“, fragte Jennie.

„Weil wir hier oben sind.“

Zuerst sahen ihn alle verständnislos an, doch langsam verschwand das Fragende in ihren Augen und machte Wissen Platz. Oh ja, jetzt verstanden sie. Sie waren hier oben. Einen besseren Beweis, dass sie manipuliert worden waren, gab es nicht.

„Ich glaube übrigens nicht, dass es außer uns noch andere gibt.“

Mike wusste selbst nicht, warum er das sagte, er wusste nur, es war ein tiefes Gefühl der Überzeugung.

„Nein, das glaube ich auch nicht“, stimmte Nicole zu und sah ihm in die Augen.

„Ich auch nicht“, sagte Jenni mit ihrem piepsigen Mäusestimmchen.

„Und ich auch nicht“, meinte Marcel und grinste breit, sodass seine Spange entblößt wurde. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Metall; er musste sie inbrünstig geputzt haben. Sie glänzte wie Gold.

„Ich hab keine Ahnung, warum“, warf Robin ein, „aber ich glaube es auch nicht.“

Der Wind hatte zugelegt, er zog jetzt heftiger an ihren Klamotten. Auch kühler war es geworden, aber das war ja auch kein Wunder, immerhin musste es auf Mitternacht zugehen. Wenn sie hier oben entdeckt würden, egal zu welcher Zeit, würde Mom ihnen aber ein paar Takte erzählen!

„Wie geht es jetzt weiter?“

Eine interessante Frage, die Nicole stellte. Sollten sie wieder auf ihre Zimmer gehen und alles so lassen, wie es war? Konnten sie etwas anderes tun? Konnten sie morgen Abend wieder gegeneinander kicken, als wäre das heute nicht geschehen? Und würden sie sich jetzt jede Nacht hier oben treffen, um über ihre gemeinsamen Träume zu diskutieren, sich danach ins Bett zu legen, um wieder diese Träume zu haben? Ein endloses Spiel …

Im Kreis standen sich die fünf gegenüber und starrten sich fragend an. So recht wusste keiner eine Antwort.

Über ihren Köpfen zogen die Wolken sich zusammen, doch das merkten sie nicht. Als sie hier oben angekommen waren, war der Himmel noch sternklar gewesen, der Mond satt und die Luft warm und ruhig. Eine laue Sommernacht. Jetzt verdichteten sich die Wolken, der Himmel wurde langsam schwärzer, die Sterne verschwanden, und der Mond wurde immer schwächer. Es mutete so an, als braue sich ein Gewitter zusammen, jedoch ohne fernes Donnergrollen oder zuckende Blitzen am Horizont. Sogar die Temperatur war in den letzten Minuten um einige Grad gefallen, doch davon bemerkten sie nichts.

Dennoch kündigte sich da etwas ganz und gar Außergewöhnliches an. Die sich nähernde Wolkenfront war keineswegs ein normales Gewitter. Dieses Gewitter brachte weder Regen noch Blitz noch Donner, weder Sturm noch Hagel. Es brachte etwas anderes. Es brachte Antworten.

Mike war der erste, der den Blick nach oben richtete. Hinterher konnte er nicht einmal mehr sagen, warum. Es war auch egal, denn was er sah, ließ seinen Unterkiefer nach unten klappen. Seine Augen traten aus ihren Höhlen, und, hätte er nicht den Kopf in den Nacken gelegt, wären sie womöglich herausgerutscht und über den Boden gerollt. So aber starrte er nur nach oben, unfähig, sich zu bewegen oder ein Wort zu sagen. Nur ein stummes Schlucken brachte er zustande.

Eigentlich hätten es auch die anderen sehen müssen. Sie standen in einem Kreis, sahen einander an und waren keine zwei Meter voneinander entfernt. Sie hätten sehen müssen, dass Mike seinen Blick schon einige Zeit starr nach oben gerichtet hatte.

Der Wind wurde noch kühler, und als Nicole zu frösteln begann, war es, als erwachten sie alle aus einem Traum. Nacheinander hoben sie die Köpfe und sahen hinauf in den Nachthimmel. Der Mond war jetzt völlig verschwunden.

Auch den anderen klappte der Unterkiefer runter. Nicole und Jenni schnappten nach Luft wie ein Tieftaucher, der gerade noch den Aufstieg geschafft hat und gierig seine Lungen füllt. Marcel stieß ein „Scheiße, was ist das denn?“ aus und Robin ein „Autsch!“, weil ihm ein Halswirbel geknackt hatte.

Über ihren Köpfen, nicht einmal zwanzig Meter darüber, schwebte ein Raumschiff.

Galaxy Kids 1

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