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Landschaftsinszenierung im industrialisierten Tourismus

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Die Kirche von Wassen ist im Zeitalter der Industrialisierung des touristischen Transports zum einem Anker für das individuelle Erlebnis von Naturschönheiten geworden, das in der «Belle Epoque» wegen der Industrialisierung des Reisens als bedroht galt. Das Aufkommen des modernen Tourismus war begleitet von einem elitären Diskurs, der dem industrialisierten Reisen im Grunde den Erlebniswert absprach. Die technische Infrastruktur ebnete im Urteil der Kritiker beim Reisen die soziale Distinktion unter den Fahrgästen ein. Ihre individuellen Charakterzüge verschwanden ebenso wie die landschaftlichen Besonderheiten. In der physischen Topografie gab es deshalb keine metaphysische Transzendenz mehr zu spüren. Das wurde bald als weltweiter Vorgang beklagt. Die Autobahnen, die düsengetriebenen Passagierflugzeuge, die Flughäfen und die internationalen Hotelketten machten im Urteil der späteren Kulturkritiker die Problematik der Eisenbahnreise zu einem globalen Thema.24

Diesem Diskurs lag ein elitärer Erlebnisbegriff zugrunde, der in seinen feinen Differenzierungen jünger ist als der industrialisierte Transport. Das Erlebnis wurde als psychische Kategorie im ausgehenden 19. Jahrhundert von Wilhelm Dilthey entworfen, von Edmund Husserl in seiner phänomenologischen Analyse des Bewusstseins verfeinert und von Georg Simmel am Begriff des Abenteuers weiter ausgeführt. Der Begriff des Erlebnisses zielt auf zentrale Elemente der subjektiven Wahrnehmung, die nicht im Raum individueller Reflexion aufgehen, sondern mit dem zeitlichen Stattfinden eines bestimmten Ereignisses verbunden sind. Ein individuelles Erlebnis ist in diesem Sinne notwendigerweise selbsterlebt, es kann also nur durch die direkte Teilnahme am Geschehen stattfinden; es eröffnet der erlebenden Person einen Augenblick des Zugangs zum Ganzen des sie umgebenden Lebens; und es geht in die Erinnerung ein, von wo es in Verbindung mit anderen Erlebnissen der erlebenden Person eine zeitüberdauernde Identität verleiht.25 Ein solches Erlebnis kann zwar anderen Personen erzählt werden, es wird dann aber reflexiv verarbeitet und ist somit gerade nicht mehr unmittelbar erlebt. Ein Erlebnis ist aus diesem Grunde prinzipiell nicht reproduzierbar, sondern immer einzigartig.26

Das Erlebnis muss bedroht scheinen, wenn es auf die Geschäftspraktiken von Unternehmen wie der Gotthardbahn stösst. Denn es nährt sich aus einer einzigartigen Konstellation von Zeit und Raum und widerspricht der Kommerzialisierung. Der Tourismus schloss dagegen nicht nur eine vielköpfige Menge von Reisenden zu einem Erlebniskollektiv zusammen, sondern machte deren möglichen Erlebnishorizont auch von technischen Bedingungen abhängig. An diesem Punkt, der Vernichtung der Individualität, setzte Hans Magnus Enzensberger an, als er die moderne Reise als Montage einer fixen Anzahl genormter Höhepunkte zu einem industriell gefertigten Serienprodukt beschrieb und aus dieser Analyse schloss, die derart rationell organisierte Verfrachtung von erlebnishungrigen Menschen habe dem spontanen oder authentische Erlebnis den Boden entzogen. Zugespitzt formulierte er: Die Einzigartigkeit, die im Reisen gesucht werde, könne niemals an einem Bahnhof beginnen, denn dort steige die technisierte Massengesellschaft immer mit in den Eisenbahnwagen ein.27

Der Blick auf die Kirche von Wassen und auf die Nordrampe des Gotthards zeigt hingegen, dass vielfältige Vorkehrungen getroffen worden sind, um den Eisenbahnreisenden ein Erlebnis zu ermöglichen. Dreimal die Kirche von Wassen zu sehen und ein Sackmesser als Lot im Zugabteil aufzuhängen – das ist lange ein Element der staatsbürgerlichen Bildung gewesen und war ein wesentlicher Vorgang für die Verankerung des Gotthards im nationalen Symbolhaushalt der Schweiz.

Der Blick auf alte Reiseführer zeigt, dass Landschaften wie jene des Gotthards in der industriellen Moderne konsequent mit visuellen Markern ausgestattet worden sind. Die Kirche von Wassen machte bei dieser Inszenierung der Landschaft den Anfang. Je weiter die Industrialisierung des Reisens seither gedeiht, umso ferner rückt die physische Topografie und umso wichtiger werden die Hinweisschilder. Mit der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) entsteht eine direkte Verbindung zwischen Erstfeld und Biasca, auf der die Fahrgäste von der Schöllenenschlucht, von der Passhöhe des St. Gotthard oder von der Kirche von Wassen nichts mehr mitbekommen. Aber die Fiktion der Authentizität wird auch unter diesen Bedingungen erhalten bleiben. Man kann gespannt sein, welche neuen Marker künftig gesetzt werden.

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