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Der informierte Reisende
ОглавлениеDie verlorene und im Verlust wiedergefundene Landschaft an der Gotthard-Passage: Hiervon künden die zeitgenössischen Erfahrungs- und Erlebnisberichte der ersten Generationen von Gotthard-Eisenbahnreisenden um 1900. Das Erlebnis der mit sausender Geschwindigkeit und müheloser Schienenfahrt erfolgenden Alpendurchquerung, welches die Fahrt von Luzern nach Lugano auf der Strecke zwischen Göschenen und Airolo zu bieten hatte, wurde zu einem der grossen Reiseerlebnisse für die Avantgarde des europäischen Firstclass-Tourismus. Davon erzählt das kleine Gotthard-Buch des Baselbieter Schriftstellers und Schweizer Nobelpreisträgers Carl Spitteler aus dem Jahr 1897;6 es ist als literarisches Nebenwerk vor allem die Frucht eines begeisterten Eisenbahn-Habitués, der die Gotthard-Strecke in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens mehr als 30-mal mit seinem 1.-Klasse-Abonnement bereiste.
Weil die vornehmen, wohlhabenden und bedeutenden Passagiere neuerdings viel stärker in Tuchfühlung mit den durchschnittlichen Mitreisenden gerieten, war eine gewisse fortlaufende Distinktion angezeigt. Der Reisende, welcher etwas auf sich hielt, musste eine neue Art von Standes- und Qualitätsbewusstsein entwickeln, und er konnte dies unter anderem dadurch tun, dass er sich als der wohlvorbereitete und informierte Reisende erwies. Wie die ersten gattungstypischen literarischen Reiseführer der Baedeker-Reihe, so bewegt sich auch das Gotthard-Reisebuch Carl Spittelers in der paradoxen Aufgabenstellung, die Segnungen des privilegierten Blicks möglichst vielen Reisenden zugute kommen zu lassen. Das gepflegte, gediegene Reisen wollte gekonnt sein – also musste es auch erlernbar sein und in demokratisch pädagogischen Schritten vermittelt werden können.
Die 1871 mit Sitz in Luzern gegründete Gotthard-Eisenbahngesellschaft bediente sich öffentlichkeitswirksamer Werbemassnahmen. Zu diesen zählte auch die Idee, einen prominenten und populären zeitgenössischen Schriftsteller einzuladen, über diese neue Bahnstrecke und ihre Reisemöglichkeiten eigens ein Büchlein zu verfassen. Spitteler, der als Wahl-Luzerner ohnehin gleichsam vor Ort war und von seinem literarischen Profil her eine ideal erscheinende Synthese aus traditioneller Stilistik und moderner Wirkungsästhetik darstellte, nahm den Auftrag freilich erst nach längerem Zögern an, fürchtete er doch zunächst um sein künstlerisches Renommee angesichts dieses «schnöd prosaischen Promotionsauftrags», und dies sogar «trotz des offerierten Spitzenhonorars von 7000 Franken».7 Und noch nachdem er sich zu der Arbeit entschlossen hatte, wahrte Spitteler eine gewisse Distanz zu dem Unternehmen. Mehrfach betont er in dem Buch sowohl seine laienhafte Position im Hinblick auf viele der dargestellten Sachverhalte als auch den dienstleistenden Charakter dieser Prosa.
Der Band erschien in einer Auflage von 4000 Stück, wovon ein grosses Kontingent zu Werbezwecken in europäischen Grandhotels und an Bord der grössten Ozeandampfer ausgelegt wurde, weil man hier den genuinen Adressatenkreis eines alpinen Reisevorhabens vermutete oder den Hotel- oder Schiffsgästen bereits mit der Lektüre das Eintauchen in eine abenteuerliche Bergwelt ermöglichen wollte. Tatsächlich bietet Spittelers Gotthard-Vademekum sowohl für den Touristen, der die beschriebenen Sehenswürdigkeiten in situ zu erkunden riskiert, wie auch für den Lehnstuhl-Reisenden eine prickelnde, mit einer gehörigen Portion Reisefieber infizierende Lektüre. Dies gelingt dem Schriftsteller dadurch, dass er die Situation des Bahnreisenden als verbindliche und konstruktive Vorgabe für den eigenen Schreibprozess nimmt. Spitteler versetzt sich nicht in die Lage eines zeitgenössischen Benutzers dieser Bahnlinie, er ist selbst dieser kompetente Passagier, dem die Abfolge der Wegstücke, Aussichtspunkte und Stationen durch vielfaches Abfahren der Strecke schon in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Literarische Beschreibungskunst stellt sich in den Dienst einer wohlpräparierten, durch vorbereitendes Quellenstudium wie durch geschärften Beobachtungssinn bestens instruierten Bahnkennerschaft. Über die Flora in den verschiedenen Gebirgszonen vermag Carl Spittelers Band ebenso Auskunft zu geben wie über die geologische Beschaffenheit der Region. Seine Darstellung versammelt den aktuellen Kenntnisstand zur Bedeutung der Orts-, Berg- und Flurnamen im Gotthard-Gebiet, greift weit in die Geschichte der Erschliessung der Innerschweizer Bergwelt zurück und charakterisiert auch die Eigenart der vier wichtigsten Seitentäler, die der Schriftsteller unter Nutzung der neuen Haltestationen der Bahn intensiv durchwandert und erkundet hat. Selbst über die jahreszeitlich obwaltenden Klimabedingungen und Wetterschwankungen erstattet sein Reisebuch detailliert Bericht, sodass die zur Reise Entschlossenen abwägen können, unter welchen Gesichtspunkten sie die für ihre Unternehmung geeignete Jahreszeit wählen und als Reisegelegenheit ergreifen möchten.
Die eigentliche Besonderheit der Gotthard-Fahrt liegt, wie Spittelers Büchlein nicht müde wird zu betonen, in der Möglichkeit, auf engem Raum, in beschränkter Zeit und in rascher Folge denkbar verschiedenste Arten der Landschaft, der Besiedlung, des Lebens kennenzulernen. «Gibt es doch», wie Spitteler schon zur Einstimmung auf die grosse Fahrt festhält, «kaum ein Gebiet, das der Gotthard nicht trennte. Sprache, Sitte, Rasse, Politik, Geschichte und Kultur; Pflanzen- und Steinwelt, Klima, Farbe und Licht, alles ist drüben anders als hüben.»8 Besonders dramatisch kommt die sich ändernde Intensität des Lichtes und der Wärme beim Austritt aus dem südlichen Tunnelende zur Geltung, wenn die Uhr des jahreszeitlichen Vegetationszyklus im Tessin schon ein gutes Stück vorangerückt ist – so im Frühjahr – oder wenn im Herbst das südliche Alpental noch länger die Sommerwärme bewahrt als die Gebiete auf der Nordseite. Der Kundige empfiehlt deshalb: «Die Jahreszeit, in welcher der Wärmegewinn für eine Reise nach dem Süden wirklich Vorteil bringt, ist der Spätherbst, Oktober und November, wo meistens die Temperaturerhöhung zugleich durch Sonnenschein verschönt wird, und das Frühjahr: März, besser noch April und Mai.»9 Es scheint fast, als könnte der unerbittlichen Ökonomie des jahreszeitlichen Wechsels durch den simplen Erwerb einer Gotthard-Passage ein freches Schnippchen geschlagen werden: «Um zehn Uhr vormittags aus dem Winter von Luzern fort, um vier Uhr nachmittags im Sommer von Locarno, welch eine herrliche Möglichkeit!»10
Der hedonistische Aspekt einer unstatthaften Vermehrung der den Mittelländlern zugemessenen Sonnentage ist ein Lockmittel erster Güte. Doch tut Spitteler gut daran, diesen Drang an die südliche, palmenbestandene Seenküste nicht zum alleinigen Attraktionsfaktor zu machen. Würde man ihm restlos stattgeben, so nährte und förderte man noch jenen ohnehin drohenden Effekt der Vernachlässigung aller zwischenliegenden Landschaft. Denn weckt nicht jede durch Viadukte überbrückte Schlucht, jeder durch Kehren gestreckte Anstieg, jedes ein Bergmassiv traversierende Tunnelstück im Denken und Erleben der Bahnreisenden das Gefühl, dass man von der durchquerten Gegend eigentlich absehen, ihre Topografie ganz und gar ignorieren könne? Mit der Eisenbahn gewinnt die Fortbewegung «Zug» im vollsten Sinne des Wortes; alles ist ausgerichtet auf Spur und Bahnung, auf das Vorankommen, ohne sich von den Hindernissen des Weges länger Mühsamkeiten und Beschwernisse auferlegen zu lassen.
Je rascher, je reibungsloser die Fahrt von Göschenen nach Airolo gelingt, desto mehr schwindet die Achtung für die zu dieser Bequemlichkeit erforderten und erbrachten Leistungen. Zu sinken droht auch die Aufmerksamkeit für das – zumindest nach traditionellem ästhetischem Verständnis – erhabene Naturspektakel, welches links und rechts der Trasse vorbeizieht oder nun eben unbemerkt liegenbleibt. Ausgedünnt würde durch den Gewöhnungseffekt nicht nur die Beachtung, welche die technischen Leistungen dieser Bahnstrecke verdienen, sondern auch der Respekt vor dem eigentlichen Kernstück und Wesen der Gotthardregion, somit auch vor den geschichtsmächtigen Innerschweizer Pass-Einrichtungen und ihrer Bedeutung für das eidgenössische Selbstbild.
Es ist Spitteler enorm wichtig, die Bedeutung des Gotthards für die Schweizer Geschichte nicht aus dem Blick zu verlieren, bildeten doch die ersten Erwähnungen dieses Passes im 13. Jahrhundert und der legendäre Ursprung der eidgenössischen Nationalgeschichte seit je eine merkwürdige, zu mythischer Identifikation förmlich einladende Koinzidenz. «Die Anfangsperiode des Gotthardpasses fällt mit der Zeit der Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft zusammen, und zwar auffallend genau zusammen»,11 hält der Alpen-Cicerone im historischen Teil seines Buches fest. Und er schraubt die Beziehung des zeitgleichen Auftritts dieser Phänomene – und damit natürlich auch die Dignität seines eigenen Gegenstands – noch eine Windung höher, wenn er hieran anknüpfend spekuliert: «Sollte vielleicht gar ein innerer Zusammenhang zwischen der Erschliessung des Gotthard und der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft obwalten?»
Was der zeitgenössische Bahnreisende mit solchen Überlegungen zur Supra-Semantik des Gotthards anstrebt, ist, mit Hans Blumenberg gesprochen, «Arbeit am Mythos». In methodischer Hinsicht war Spitteler freilich durchaus bewusst, aus welch unscheinbaren Anfängen dieser Zentralmythos seinen wirkungsgeschichtlichen Weg genommen hatte. Die früheste Erwähnung belegt, dass am 24. August des Jahrs 1230 auf dem Monte Tremolo ein Kirchlein geweiht wurde, im Namen und Zeichen des Hildesheimer Bischofs Godehard, den sich auch das Kloster in Disentis zum Schutzheiligen erkoren hatte.12 Jener Godehard war 1038 gestorben und 1131 heiliggesprochen worden, wobei seine mehreren Romreisen eine gewisse Rolle gespielt haben dürften, die ihn zum Namenspatron des Verkehrsweges über die Alpen prädestinierten. Die Bezeichnung Gotthard nahm über die Zeiten hin eine helvetische Färbung erst dadurch an, dass Ort und Name durch verklärende Deutungen überhöht wurden.