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Warum der Gotthard so wichtig ist Der Einklang von Ursprung und Fortschritt als nationaler Traum

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Peter von Matt

Folgender Textausschnitt stammt aus dem ersten grossen Essay «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation» in Peter von Matts Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Nach einer historischen Kontextualisierung von Rudolf Kollers Bild Die Gotthardpost (1873) zeichnet von Matt die Entstehung des eidgenössisch-alpinen Ursprungsmythos bei Albrecht von Haller (1708–1777) nach, der im Lauf des 19. Jahrhunderts durch den technischen Fortschritt sichtlich unterlaufen wird. Der durch Alfred Escher geförderte Gottfried Keller deutet – wie schon sein Kontrahent Jeremias Gotthelf zuvor – die Risse an, welche sich durch den noch jungen modernen Bundesstaat ziehen. Das individuelle Vertrauen in den sittlichen Kern und in die Vernunft des Volkes schwindet, um in eine äussere Nationalsymbolik umgegossen zu werden: in eine neue paradoxe Fiktion einer Einheit von Ursprung und Fortschritt, von der die Schweiz noch heute zu zehren scheint.

Das Ereignis, dass Ursprung und Fortschritt in sichtbaren Einklang treten, ist ein geheimer Wunschtraum der Schweiz geblieben. Er stand als Antrieb hinter der legendären Landesausstellung in Zürich 1939, als die Schweiz mit den faschistischen Diktaturen im Norden und Süden konfrontiert war und Europa bereits am Rand des Kriegs stand. Dieser brach dann auch noch während der Ausstellung aus. Wie immer man jene Veranstaltung von heute aus auch beurteilt, die Bevölkerung der ganzen Schweiz erlebte sie damals als die Verwirklichung eines Traums; sie war das realisierte Idyll in dem hier pointierten Sinn und stand darin in der Tradition der von Keller verherrlichten nationalen Feste. Das war aber nur möglich, weil sie auch den technischen, industriellen und architektonischen Fortschritt emphatisch inszenierte. Dass daraus keine Dissonanz zwischen Rustikalität und Moderne entstand, dass das eine sich zu dem andern vielmehr in einer freundlichen Balance halten konnte, war nicht nur eine Leistung der Verantwortlichen, zu denen führende Architekten und Designer der Schweiz gehörten, sondern entsprach auch dem Gegenwartsbewusstsein der Bevölkerung. Die Eidgenössische Technische Hochschule von Zürich prägte die Ausstellung wesentlich mit und verhinderte mit der Präsenz ihrer Forschung das Abgleiten in den Schollenkult, der so sehr im Zug der Zeit lag. Er fand hier zwar schon auch seine Altäre, aber die drohende Dominanz wurde doch zurückgebunden. Ideologie- und zivilisationsgeschichtlich ist die Landesausstellung von 1939 wahrscheinlich das faszinierendste Ereignis der Schweiz im 20. Jahrhundert. Das Raffinement, mit dem hier Selbstverklärung mit präziser Information verbunden wurde und politische Bruchlinien um der Gemeinschaftserfahrung willen aus dem Gesichtsfeld verschwanden (die Flüchtlingsfrage zum Beispiel), ist nach wie vor das Studium wert. Gerade weil das Land von aggressiven Nachbarstaaten bedroht war, entwickelte es einen Mikrokosmos der Zeichen und Bilder, in denen es sich selbst erkannte und unverblümt feierte. Dabei galt die Regel der Überbrückung aller Gegensätze. Es herrschte ein kategorischer Imperativ der Versöhnung, der sich auch in der kulturellen Produktion jener Jahre niederschlug und der von der Politik leicht instrumentalisiert werden konnte. Als die Fronten nach dem Krieg wieder aufbrachen, war es dieser Geist, der «Landigeist», wie man ihn beschwörend nannte, der einer kritischen Aufarbeitung etwa der Flüchtlingspolitik den härtesten Widerstand entgegensetzte und der die Eingliederung der Schweiz in die starren Kampflinien des Kalten Kriegs beförderte.

Dass dieses Ereignis eines fast unwahrscheinlichen Zusammenklangs von Ursprung und Fortschritt in Zürich stattfand, der grössten Stadt, dem Zentrum der zivilisatorischen Dynamik, war ein zusätzlicher Glücksfall. Damit wurde die Disharmonie von Stadt und Land, die sich seit je in der Gereiztheit gegenüber der Stadt Zürich manifestierte, im Voraus neutralisiert. Schon bei Haller stand die Ursprungsvision im pointierten Gegensatz zu den «großen Städten», und tatsächlich hat sich die Schweiz als Ganzes nie von ihren Städten, vom Kernphänomen Stadt her definiert – wie es etwa Frankreich mit Paris oder England mit London tun. Der symbolischen Gewalt der Berge waren die Städte nie gewachsen, obwohl in ihnen alle historischen Durchbrüche geschahen, von ihnen alle Energien der Veränderung, des Fortschritts also, und des Anschlusses an die «beschleunigten Processe» der Weltzivilisation ausgingen. Noch am Ende des 20., zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat ein Schriftsteller wie Hugo Loetscher leidenschaftlich geklagt und geschimpft gegen die Übermacht des alpinen Symbolpotenzials; niemand hat ihm widersprochen, aber genützt hat es nichts. Die Fantasie regiert die Menschheit, also auch die Schweiz, und wenns drauf ankommt, sich mittels Bildern über sich selbst zu verständigen, tauchen auch heute weder die Zürcher Bahnhofstrasse noch das Genfer Bankenviertel noch der Basler Rheinhafen auf, sondern wie eh und je der nebelverhangene Gotthard, dieser helvetische Sinai.

Dass Max Frisch mit seinen Freunden Lucius Burckhardt und Markus Kutter zusammen für die erste Landesausstellung nach dem Krieg eine neue Stadt vorschlug, ein präzis gezieltes Gegensymbol, war auch der Versuch einer Umpolung der nationalen Zentralfantasie, und er scheiterte glorios. Es ist daher von einer verblüffenden Logik, wenn die stärkste nationale Symbolkraft heute vom neuen Eisenbahntunnel durch den Gotthard ausgeht. In diesem technischen Spitzenwerk verschmelzen wieder einmal Ursprung und Fortschritt, und sie setzen auch diesmal mächtige Gefühle frei.

Dabei ist der Gotthard eigentlich kein sehr alter Pass. Die Römer und ihre Kultur kamen über die Bündner Pässe in das Gebiet der heutigen Schweiz. Auch Furka und Grimsel sind in Verbindung mit den Walliser Pässen die historisch ehrwürdigeren Übergänge. Was den Gotthard auszeichnet, ist nur die Nähe zur Landschaft der Gründungsgeschichte um den Vierwaldstättersee und die dramatische, vielbeschriebene Gefahrenzone der Schöllenenschlucht. Am seltsamsten aber erscheint, dass dieser exemplarische Berg gar kein Berg ist, sondern ein Sattel zwischen Bergen und also kein markantes Gesicht hat. Das Matterhorn kann man als plastische Gestalt zeichnen, auch die Jungfrau und den Pilatus, den Gotthard nicht. Auf Kollers Bild von der Gotthardpost wird dies zum eklatanten Ereignis. Der Gotthard erscheint als die blaue Lücke am oberen Bildrand, in der ein leichtes Wölkchen schwebt. Wo er wäre, wenn es ihn gäbe, ist nichts. Und trotzdem wurde er während des Zweiten Weltkriegs zum Inbegriff des Widerstandes, und die Mitrailleure, die dort Dienst leisteten, die «Gottertmitr», galten im Volk als die Elitetruppen der Schweiz. Die kollektive Fantasie geht ihre eigenen Wege, und wo nichts ist, kann sie auch dies zum Zeichen machen. Mythisches Potenzial hatte nur der Weg zum Gotthard. Goethe hat ihn mit vier Zeilen in dieser Eigenschaft erfasst, nachdem er am 21. Juni 1775 die Route selbst abgeschritten hatte:

«Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,

In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut.»

Nicht den Teufel und seine Brücke also erwähnt er, obwohl der genaue Ort dieser Sage ins Blickfeld kommt, sondern das ungreifbar Urtümliche der Drachen, einer schauerlichen Vorwelt, durch die passieren muss, wer in das heiterleuchtende Italien will. Das Stichwort Maultier aber bindet die archaische Vision an die konkrete Praxis des damaligen Passverkehrs. Goethe hat die Maultierkolonnen, die täglich über den Gotthard zogen und mit kleinen Glocken behängt waren, damit sie im häufigen Nebel nicht verlorengehen konnten, mehrfach beschrieben. Die erste Fahrstrasse über den Pass wurde erst 1830 eröffnet. Goethe hat sie nie gesehen.

Im Gegensatz zur gewissermassen zeitlosen Existenz der ragenden Berge war der Gotthard von Anfang an ein Ort der technischen Herausforderungen. Seine Geschichte ist bis heute auch eine der Ingenieurskunst. Schon als Ort der Sage war er zugleich ein Ereignis des Fortschritts: Der Teufel, der die erste Brücke baute, war technisch begabt, während die Urner, die ihn überlisteten, indem sie ihm die versprochene Seele in Form eines Ziegenbocks überstellten, nur Bauernschläue vorweisen konnten.

Erheiternd ist übrigens, dass schon Haller vor der Frage stand, wie er den Gotthard denn beschreiben solle. Dessen symbolisches Gewicht verlangte nach einer Erwähnung. So machte er ihn kurzerhand zu einem himmelstrebenden Berg und liess eine Strophe mit dem Vers beginnen: «Denn hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget …» Ein solches Haupt sucht man auf dem Gotthard nun wirklich vergebens.

Es hätte allerdings die Möglichkeit gegeben, die zwei Gipfel, die dem Pass am nächsten stehen, den Pizzo Centrale im Osten und den Pizzo Lucendro im Westen, zu einer Zwillingsgruppe zu stilisieren, mit dem Übergang in der Mitte, und so doch noch ein plastisches Gebilde zu gewinnen. Das ist aber nie versucht worden, obwohl die beiden Berge, je knapp 3000 Meter hoch, von eindrücklicher Kontur sind. Ihre Namen sind indessen nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen und auch heute nur den Alpinisten und Soldaten bekannt; im 18. Jahrhundert waren sie wahrscheinlich noch namenlos. Dagegen findet sich schon früh, auch etwa bei Scheuchzer, der Versuch, den Gotthard symbolisch aufzuwerten, indem man ihn zum Ursprung aller großen Flüsse Europas erklärte. Rhone und Rhein, Ticino und Reuss, Aare und Inn (mithin die Donau) sollten seiner Felsenbrust entspringen, wodurch er, in Analogie zum menschlichen Blutkreislauf, als das Herz nicht nur der Schweiz, sondern des Kontinents hätte gelten können. Aber geografisch ist die schöne Vision leider unhaltbar. Haller, den der mythische Gedanke vom zentralen Ursprung der Gewässer durchaus beschäftigt hat, zog dafür nie den Gotthard in Erwägung, sondern zuerst den Furkapass, später überraschenderweise das Schreckhorn. Die sechste Strophe vor dem Ende des Gedichts begann ursprünglich so:

«Aus Furkens kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen

Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt,

Entspringt die helle Aar …»

Wozu Haller in einer Anmerkung erklärt, dass mit den «Seen» zwei Meere gemeint seien: «Der Rhodan nach dem mittelländischen Meere, die Reuß und Aare in den Rhein und die Nord-See.» Der Rhodan ist die Rhone, und was die Furka betrifft, stimmt die Aussage, dass die Wasser von hier zu den «beyden Seen» fliessen. Nur für die Aare trifft es nicht zu, obwohl geografisch wenig fehlt. An der Aare aber war dem Berner sehr gelegen; schliesslich strömte sie mitten durch seine Vaterstadt, und der Rest der Strophe ist ein Hymnus auf sie. Also liess Haller die Aare in den späteren Auflagen am Schreckhorn entspringen, was geografisch nicht ganz falsch ist, obwohl das Lauteraarhorn, das Finsteraarhorn oder das Wetterhorn ebensogut in Frage gekommen wären, aber mit dem Ursprung der Rhone hat das Schreckhorn leider gar nichts zu tun, also auch mit dem Mittelmeer nicht. Die definitive Fassung ist demnach sachlich falsch, auch wenn sie prächtig tönt: «Aus Schreckhorns kaltem Haupt, wo sich in beyde Seen / Europens Wasser-Schatz mit starken Strömen theilt …»

Das scheinbar kleinliche Kritteln an einem großartigen Gedicht rechtfertigt sich hier insofern, als dabei die Schwierigkeit sichtbar wird, den nationalen Wunschgedanken vom Ursprung der europäischen Flüsse aus einem einzigen Berg im Herzen der Schweiz zwingend zu begründen. Wieder einmal stellt die empirische Wirklichkeit der patriotischen Fantasie ein nüchternes Bein. So hält man sich denn in der Gegenwart lieber an das Werk der Ingenieure und Mineure, an den ruhmreichen Tunnel.

Dieser Beitrag wurde übernommen aus: Peter von Matt, Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, © Carl Hanser Verlag München 2012, S.62–67.

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