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Passagen in Echtzeit

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Carl Spitteler ist stilökonomisch versiert genug, um sein Reisebuch nicht mit bedeutungsschwerer Gotthard-Mythologie zu überfrachten. Nimmt man den Traditionspfad einer Verklärung des Berges zum Kern und Ursprung der Schweizer Geschichte als die eine mögliche Extremvariante der Darstellung, das völlig legere Vorübergleiten an diesem Geschichtsmassiv hingegen als die gegenteilige Option, so bewegt sich Spittelers Duktus angesichts dieser Alternative in einem unangestrengten, aber nicht spannungslosen Zwischenkorridor, gleich weit entfernt von beiden stilistischen Extremen. Nach der Auffassung Spittelers – die ich mit Begriffen der strukturalen Poetik reformuliere – verkörpert die Gotthard-Fahrt eine nicht etwa paradigmatisch geballte, sondern syntagmatisch gespreizte Form der Bedeutungsgebung, sie entspricht damit der metonymischen Bild- und Blickordnung des Interessanten. «Natur und Kunst», so verheisst der Autor vielversprechend, haben «längs des Weges eine lückenlose Reihe von grossartigen Landschaftsbildern» aufgestellt, «sodass von Luzern bis Como kein Fleck zu finden ist, der nicht bedeutend wäre, der nicht das Verweilen und die nähere Bekanntschaft lohnte».13 Ein Übriges habe nun noch die Eisenbahn selbst dazu gefügt und mit ihren technischen Behelfen «das Merkmal des Interessanten, das dem Gotthard ohnehin anhaftet, verstärkt».

Nicht mehr «erhaben» also, sondern «interessant»: die Streckenführung ist abwechslungsreich, nach vor- und rückwärts mit Veränderungen und Vergleichsmöglichkeiten gespickt und schafft dadurch eine reizvolle Abfolge. Die Wirkungsästhetik des Interessanten eröffnet sich bei dieser Bahnfahrt in einem Zusammenspiel von landschaftlich gereihter Sequenz zum ersten, subjektiver Beobachtung respektive Mitempfindung derselben zum zweiten sowie nacherzählender Beschreibungskunst zum dritten. Zur landschaftlich gereihten Sequenz wird die durchfahrene Gegend durch die räumliche Disposition der Schneisenbildung und den hierauf sich gründenden Bewegungsvorgang der Bahnfahrt; diese wird zum Fahrerlebnis durch den subjektiv beteiligten Beobachter, der das eigene Fortkommen als Vorübergleiten der Aussenwelt wahrnimmt. Durch die Zugfahrt wird die Landschaft mit einem Zeitvektor versehen, der sie in rasch aufeinanderfolgenden Stadien als herannahende, als gegenwärtige und als entschwindende dramatisiert – je überraschender, desto intensiver.

Nicht immer aber liebt es der Bahnreisende, völlig überrascht zu werden, denn es drohen ihm dadurch wichtige Aussichten und Anblicke zu entschlüpfen. Spitteler steckt deshalb besonderen Ehrgeiz in den Versuch, den Reisenden eine ausführliche und genaue, verständliche und verlässliche Beschreibung der Ausblicke und Situationen an die Hand zu geben, welche während der Fahrt zu gewärtigen sind. In welche Richtung die Gotthard-Fahrt angetreten werden soll, ist klar: Es zählt der Weg von Nord nach Süd, die zu erwartende doppelte Steigerung erst durch die beklemmende Bergwelt und sodann durch den Kontakt mit dem Tessiner Sonnenlicht. Für diese Lockungen der Fahrt kann das Büchlein immerhin ein «Vorausempfinden» herbeiführen, wie es auch der Gotthard seinerseits im Hinblick auf die Verheissungen «der jenseitigen Landschaft» darstellt.14 Aber schon die Frage, auf welcher Seite man sich niedersetzen und zum Fenster hinausschauen solle, ist Gegenstand ausgefeilter Ratschläge und Empfehlungen, die obendrein je nach Situation variieren. Der Kundige hat hier die Pflicht, den Neuling sorgsam vorzubereiten, ohne ihm zugleich auch schon die Freude des eigenen Entdeckens zu nehmen.

Als Wegbegleiter gibt Spitteler den Passagieren ein anschauungsreich ausgestaltetes Raumgefühl, das sogar schon auf Lektürereisende enorm suggestiv wirkt und das beim Gebrauch dieses Itinerars vor Ort noch einen stärkeren, fast magischen Effekt der Vergegenwärtigung ausübt. Indem er die Benennungen und Beschreibungen des Sichtbaren strikt an der Abfolge und Geschwindigkeit des Fahrerlebnisses ausrichtet, ermöglicht es Spitteler seinen Lesern, während der Fahrt einen an Anschauung und Erkenntnissen mitwachsenden Wahrnehmungsvorgang zu vollziehen. Hierzu dienen auch Erklärungen, die jeweils einen grösseren Zusammenhang oder geschichtlichen Entstehungsgrund einzelner Beobachtungen andeuten. So etwa sein Hinweis auf den sich ändernden Landschaftscharakter ab Flüelen. «Zunächst werden wir beobachten», so schreibt er, «dass die Mitte des Talbodens leer steht; die Niederlassungen haben sich links und rechts am Fusse der Berge gruppiert. Sie sind dem Gewässer ausgewichen, der Reuss und dem Schächenbach, welche früher in der Mitte des Tales ein unwirtliches Delta mit Geschiebe und Überschwemmungen bildeten.»15

Auf der weiteren Fahrt durch die Talschaft Uri lenkt Spittelers vorsorgliche Blickregie die Aufmerksamkeit des virtuell oder manifest mitreisenden Lesers. «Hinten über Altdorf, auf einem Hügel, genau in der Mitte der Berglücke, auf der Schwelle des Schächentales erhebt sich das anmutige Bürglen»;16 die Nennung der beiden aus der Tell-Sage bekannten Ortschaften modelliert sowohl das Landschaftsrelief der stufenförmig ansteigenden Bergflanke nach wie auch die Geschwindigkeit der an diesen Dörfern vorbeiführenden Zugfahrt. Und schon bald naht rechterhand wiederum die ebenfalls an Schillers Tell gemahnende Burgruine Attinghausen. Dies alles dränge, warnt der Reiseführer, «im engsten Raume zusammen, während der Schnellzug ohne jede Haltstation daran vorüberfliegt. Da sehe eben jeder zu, was er davon erhasche. Zum Schlummern oder Fahrplanstudieren jedenfalls ist hier ein schlecht gewählter Augenblick.»17

Spitteler rechnet mit geografisch wenig versierten, im Eisenbahnwesen noch unkundigen Lesern; er wird womöglich seine Schilderungskunst vor oder während der Niederschrift sogar an einigen Passagieren erprobt haben. Sie bewährt sich auch und gerade dann, wenn ein persönlich mitfahrender Reiseführer ob der schieren Ballung von Aufmerkenswertem in ein heilloses Gedränge käme. Geradezu schulmässig demonstriert dies der Abschnitt vor der Durchquerung des Bristenstocks. Hier hat auch Spitteler alle Hände voll zu tun, wenn sich nach einer Tunnelausfahrt zur Linken und nur sekundenweise die Öffnung ins Maderanertal zeigt und nahezu zeitgleich zur Rechten rückwärtig schon der Anblick des Brückendorfs Amsteg vorbeihuscht oder schon vorbeigehuscht ist.

«Sobald wir in den Windgellentunnel eingefahren sind, empfiehlt es sich, auf der linken Wagenseite Platz zu nehmen und das Auge bereitzuhalten, um beim Austritt aus dem Tunnel den Einschnitt des Maderanertals nicht zu übersehen, für welches bloss wenige Sekunden übrig sind. Denn jenseits der Brücke fahren wir gleich wieder in den Berg. Gleichzeitig erscheint zur Rechten, unten in der Tiefe, Dorf Amsteg mit der ersten Aufwärtswindung der Gotthardstrasse. Beides zu sehen, die Maderanertalschlucht und Amsteg, hält bei der Kürze der Zeit schwer, ja ist wohl überhaupt nur in der Weise möglich, dass man links sitzend zuerst das Maderanertal erschaut und hernach, sobald dieses verschwunden ist, unverzüglich nach der rechten Wagenseite hinübereilt, um auf Amsteg zurückzublicken.»18

Ausgebuchte Züge oder allfällige Zusammenstösse mit anderen Reisenden können selbstredend bei diesen dramatisch geballten Sicht-Verpflichtungen nicht mehr mit ins Kalkül gezogen werden. Wie oft aber muss man wohl selber besagte Strecke mit scharfer Aufmerksamkeit abgefahren sein und wie zupackend hierbei die eigene Beobachtungsgabe eingestellt haben, um eine solche genaue Sequenzanalyse der Bewegtbilder von der Gotthardbahn anstellen zu können? Spittelers Eisenbahn-Reiseführer ist ein stilistisches Kabinettstück seiner Art, weil er auf eine nachmals schon rührend anmutende Weise noch mit Trassenführung und Tempo der Gotthardbahn wetteifert, die unter Volldampf bergwärts jagt, während der Schriftsteller seine Zeilen notiert. Wollte das Auge des Lesenden ihnen weiterhin in Echtzeit folgen, es müsste für die beschriebenen Schönheiten der Strecke erblinden und also entweder diese – oder eben den Text – anschliessend gleich noch einmal durchlaufen.

Gotthardfantasien

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