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Ein christlicher Blick auf die Dinge: Gnade

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Es gibt, wie gesagt, jede Menge Blickwinkel auf Gott und die Welt. Und wir können uns kaum vorstellen, wie die Welt aus einem komplett anderen Blickwinkel aussieht. Allein die Unterschiedlichkeiten zu akzeptieren, ist ein wichtiger Schritt.

Dabei ist es eigentlich einleuchtend: Stellen wir uns eine Näherin aus Bangladesch vor. Sie ist vielleicht Teil der buddhistischen Minderheit in dem größtenteils islamischen Land. Arbeitet täglich 10 Stunden für weniger als 100 Euro im Monat. Sie muss die Strafen des Fabrikbesitzers fürchten, weiß, dass die Arbeit ihrer Gesundheit schaden kann. Und trotzdem ist sie froh, Arbeit zu haben. Sie liebt ihre Familie.

Stellen wir uns nun einen weißen Mann im Süden der Vereinigten Staaten vor. Er ist vielleicht Vorstandsmitglied in einer Baptistengemeinde. Er besitzt ein Haus mit Pool und ein großes Auto. Er spendet für eine Hilfsorganisation, die den Obdachlosen in der Stadt hilft. Mit seiner Frau und den beiden Kindern fährt er regelmäßig in den Urlaub. Er liebt seine Familie.

Eine arme Frau aus Bangladesch, ein reicher Amerikaner. Was denken diese beiden über die Rolle von Mann und Frau in der Familie? Was fühlen sie, wenn sie das Wort »Erfolg« hören? Oder »Gerechtigkeit«? In welchem Glauben sind sie erzogen worden? Welche Rituale berühren sie? Wer ist Gott für sie? Es ist vorstellbar, dass die Liebe zu ihren Kindern etwas ist, was sie gemeinsam haben. Aber auch die werden sie auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen. Schon aufgrund dieses kleinen Beispiels verbietet es sich, die eigene Wahrheit als die einzig wahre anzusehen. Auch nicht das eigene Bild von Familie. Und schon gar nicht das eigene Gottesbild.

Und doch geht es nicht ohne. Niemand kann ohne Blickwinkel sehen. Sich eine Meinung bilden. Entscheidungen treffen. Ein Buch lesen oder schreiben. Deshalb ist es gut, auch den religiös-kulturellen Blickwinkel dieses Buches zu kennen. Er ist – kurz gesagt: christlich, psychologisch, evangelisch, männlich, (west)deutsch, mittelalt und mittelreich.

Damit ist erst einmal viel über die unvermeidliche Inkompetenz des Autors gesagt. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, eine Frau zu sein, nur vage Ideen von anderen Kulturen und Religionen. Manche würden sogar sagen: Das ist eine Herrschaftsposition. Jemand, der weiß, westlich und männlich ist, ist von vornherein verdächtig. Nicht zu Unrecht. Und wenn es dann noch in einer christlichen Tradition steht, bekommt es noch dazu einen fast mittelalterlichen Grusel-Charme.

Wenn man all diese möglichen blinden Flecken in Betracht zieht, bleibt aber immerhin ein Blickwinkel übrig, mit dem Sie sich gern auseinandersetzen können, ob Sie sich nun christlich nennen oder nicht oder nur ein bisschen. Im dritten Teil des Buches (»Von Menschenbildern und Gottesbildern«) wird es noch mal stärker um die grundlegenden Gedanken gehen, aber eine Andeutung möchte ich hier schon vorwegnehmen: Es geht um Gnade. Die Themen dieses Buches werden von der Idee der Gnade getragen wie Blätter, die auf einem Fluss treiben. Alle, die christliche Wurzeln haben, lesen an dieser Stelle vielleicht sehr entspannt weiter, während andere, die mit der Kirche als Institution oder mit manchen (scheinheiligen) Christenmenschen schlechte Erfahrungen gemacht haben, vielleicht misstrauisch werden und Missionseifer oder kleinkarierte Moral wittern. Was soll also »Gnade« in diesem Buch? Geht es nicht eigentlich um Familien?

Gnade ist, in klassischen kirchlichen Worten, die Idee, dass es einen Gott gibt, dessen Wesen die Liebe ist, der das Kleine, das Unvollkommene, das Werdende in sein Herz schließt. Jesus Christus ist das Bild dieser Gnade, das uns leiten kann: in Armut geboren, mit Freunden auf dem Weg, mit Leiden und Sterben vertraut, zur Hoffnung für alle auferstanden.

Das klingt in manchen Ohren gewiss nach leeren kirchlichen Formeln, in anderen wiederum nach Seelenschätzen. Es bleiben leere Formeln, wenn wir sie nicht so mit unserem Leben verbinden können, dass sie einen Unterschied machen. Hier geht es um den Versuch, den lebendigen Kern in diesen Worten zu finden, wenn es um das Leben als Familie geht. Es sollen Fragen aus dem Alltag beantwortet werden – von diesem christlichen Blickwinkel aus, der gar nicht alltäglich ist und hoffentlich nicht nur für christliche Ohren Sinn ergibt.

Etwa so: Wenn das Konzept »Gnade« in einer Familie gelten soll, geht es um bedingungslose Liebe als Ideal. »Ich liebe dich nicht erst, wenn du dieses mehr und jenes weniger tust.« Es geht dann nicht darum, vollkommene Kinder und den perfekten Partner zu haben. Es geht nicht darum, alle Energie in die Optimierung zu stecken – die eigene und die der anderen. Vielmehr ist dann die Liebe die Grundlage, auf der alles andere geschieht. Reden über Bedürfnisse und Wünsche, verhandeln um ein gutes Gleichgewicht, gute Wege suchen für die Kinder. All das, nicht damit die Liebe endlich Einzug hält, sondern weil sie schon längst da ist. Als Grundlage für alles Weitere. Das klingt leichter, als es ist. Gnädig zu sein mit sich selbst und mit anderen ist (immer wieder!) eine Kunst. Es geht in diesem Buch um die Kunst, es gut sein zu lassen.


Der Bullerbü-Komplex

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