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Kapitel 1 · Ottensen

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Ein eisiger Wind fegte durch den schäbigen Hinterhof in Hamburg Ottensen. Ein milchiger Februar-Vollmond tauchte die Beton-Insel in ein diffuses bläuliches Licht. Ein alter kaputter Einkaufswagen, diverse unleserliche Graffiti und ein offensichtlich vergessener Müllcontainer, der einen widerlich süßlichen Geruch verströmte, zeigten, wie verlassen dieser Ort war. Grau verfärbter Schnee legte sich wie ein Leichentuch über die Szenerie und ließ den Hinterhof wie ein bizarres Kunstwerk anmuten. Direkt neben dem Einkaufswagen lag ein unbekleideter Körper im Schneematsch. Blut hatte sich mit dem grauen Großstadtschnee vermischt und umrahmte den Körper mit einem bräunlichen Farbton. Nur langsam kam Art wieder zu Bewusstsein, als er spürte wie etwas Feuchtes sein Gesicht berührte. Vorsichtig öffnete er seine schmerzenden Augen. Nur verschwommen konnte er erkennen, dass ein großer Hund über ihm stand und sein Gesicht ableckte. »Weg!«, zischte Art unverständlich durch seine geschwollenen Lippen, drückte den Hund sachte zur Seite und schob sich auf seine Knie. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Art hustete und spukte etwas Blut. Es gab wohl kaum einen Teil seines Körpers, der nicht schmerzte. Auf allen Vieren war er nun auf Augenhöhe mit dem Hund. Seine Augen waren wieder so weit klar, dass er ihn als Golden Retriever identifizieren konnte. Dieser wedelte fröhlich mit dem Schwanz und wischte Art mit seiner Zunge wieder durchs Gesicht. »Bitte, hör auf damit!«, zittrig versuchte Art aufzustehen sackte aber wieder zusammen und blieb auf dem Hintern sitzen.

»Aua!«, Art verzog vor Schmerzen das Gesicht und rieb sich vorsichtig über die Stirn. Seine Finger konnten geronnenes Blut über den Augenbrauen fühlen. Der Golden Retriever setzte sich demonstrativ neben ihn auf den Boden. Langsam blickte Art an sich herunter. Er war nackt und die Kälte kroch in seinen Körper. Er versuchte aufzustehen. Der Retriever gab durch ein leises Knurren zu verstehen, dass er das für keine gute Idee hielt und sollte Recht behalten. Kaum war Art auf beiden Beinen, wurde ihm auch schon schwindelig. Er sackte wieder auf seine Knie. Während die Ohnmacht zurückkehrte konnte er noch entfernt eine weibliche Stimme wahrnehmen: »Da steckst du also...ach du Scheiße...«. Dann Dunkelheit.

Als Art wieder zu sich kam, lag er in einem schmiedeeisernen Bett unter einer altmodischen weißen Bettdecke. Der Golden Retriever lag zusammengerollt an seinen Füßen. Von irgendwoher wehte Kaffeeduft heran. Art setzte sich langsam auf, doch die Schmerzen waren verschwunden. Auch der metallische Geschmack im Mund war weg. Der Retriever begrüßte ihn mit einem Schlecken durchs Gesicht und gab einen kurzen fröhlichen Beller von sich. Kurz darauf kam eine schwarzgekleidete junge Frau mit roten langen Haaren und etwas zu viel Kajal im Gesicht in das Schlafzimmer. Art musterte sie kurz und musste sich eingestehen, dass er sie irgendwie attraktiv fand.

»Lon? Was macht unser Patient? Ah! Du bist wach! Wie geht es Dir? Du hast 33 Stunden geschlafen und müsstest jetzt eigentlich wieder fit sein! Das sind immerhin drei komplette Regenerationszyklen.«

Ungeniert setzte sich die Frau zu Art aufs Bett. Vertraut lächelte sie ihn an und spielte mit ihrem Pferdeschwanz.

»Ich bin so erleichtert, dass die Regenerationszyklen gewirkt haben. Du hast großes Glück gehabt, dass Lon dich gefunden hat. Sonst wäre es dir sicher wie den Anderen ergangen.«

»Den Anderen?«

»Ja, den anderen Wandlern.«

»Wandel was?!«

»Willst du mich verarschen? Du wusstest doch von den Morden.«

»Morde?«

»Na die Überfälle auf die Wandler!«

»Was? Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Du weißt also nicht mehr was passiert ist?

»Nein.

»Weißt du denn welcher Tag heute ist?«

»Ah...Nein...«

»Wo du bist oder wer du bist?«

Art setzte sich in dem viel zu weichen Bett auf.

»Keine Ahnung! Was weiß denn ich! Wie komme ich überhaupt hierher und wer bist du eigentlich?«

Alice seufzte.

»Amnesie! Merkwürdig. Eigentlich sollte der Regenerationszyklus auch dein Gedächtnis wiederhergestellt haben. Aber die Ursache finden wir schon noch heraus. Nicht wahr Lon?«, Alice lächelte in Richtung des Retrievers.

»Also, ich bin Alice und wir kennen uns. Vor einer Weile noch sogar ziemlich gut. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Ich war mit Lon gerade auf Streife durch unser Revier, als er dich in einem Hinterhof gefunden hat. Du warst schwer verwundet. Mit Hilfe von Felix und Bobby haben wir dich dann in unsere Wohnung gebracht, damit du dich regenerieren kannst! Der Weg in die Klinik war zu gefährlich und zu weit. Hier bist du vorerst in Sicherheit.«

»Dann schulde ich dir wohl was.«

»Da nich' für! Das macht man so unter Freunden. Auf dem Stuhl am Fenster liegen ein paar Sachen, die du bei mir vergessen hast! In meinem Bad nebenan findest du ein Handtuch. Duschgel steht in der Dusche und deine Zahnbürste ist auch noch da. Ich warte dann im Wohnzimmer mit Frühstück.«

Alice lächelte, drehte auf dem Absatz ihres Militär-Stiefels um und verschwand wieder aus dem Schlafzimmer.

Verwirrt schob sich Art von dem plüschigen Bett. Der Rest des Zimmers passte zu seiner Besitzerin und kam Art merkwürdig vertraut vor. An den Wänden klebten dunkelrote Brokattapeten. Die Möbel waren altertümlich und aus einem schweren dunklen Holz. An der einen Wand hing ein kitschiges Ölgemälde, welches einen heulenden Wolf im Sonnenuntergang zeigte. Art musterte amüsiert das Bild. Ein großer Schminktisch mit einem goldumrandeten Spiegel dominierte den Raum. Art blickte in den Spiegel und erkannte sich selbst nicht. Es blickte ihn ein durchschnittlich großer Mann irgendwo in den Zwanzigern an. Seine blonden Haare waren mittellang, wuschelig und ungekämmt, blaue Augen, die Nase etwas zu groß. Frustriert streichelte er sich über den struppigen 6-Tage Bart. Er stand eine ganze Weile so vor dem Spiegel und betrachtete den Fremden darin. Er hoffte vielleicht irgendetwas zu entdecken, dass ihn an sich selbst erinnerte, konnte aber nichts Vertrautes finden.

»Wer bist Du?«

Art schnappte sich die bereitliegenden Klamotten und betrachtete sie misstrauisch. Eine alte verwaschene Jeans, ein schwarzes Tour-T-Shirt einer Band namens »InExtremo«, doch der Name sagte ihm nichts, karierte Boxershorts, ausgetretene Chucks und einen alten verwaschenen FC St. Pauli Hoodie.

»Oh Mann. Ich bin ein Punk?!?«

Gefrustet verschwand er im Bad. Frisch geduscht und angezogen sah er sich nachdenklich weiter in dem Zimmer um. Über einem alten Sekretär hing eine noch ältere gerahmte Karte von Norddeutschland. Scheinbar war sie in Landkreise oder Regierungsbezirke aufgeteilt. Doch bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass es sich um keine normale Karte handelte. Denn die Gebiete waren nicht identisch mit alten Landesgrenzen. Auch die Namen der Regionen waren ihm unbekannt. Art kniete sich vor Lon. Er nahm sein Gesicht in beide Hände und sah dem Hund tief in die Augen.

»Du kannst mir auch nicht sagen, was das alles soll?«

Lon sah Art treuherzig an und leckte ihm wieder durchs Gesicht.

»Bah!«

Art wischte sich mit dem Ärmel des alten FC St. Pauli Hoodies das Gesicht ab und erkundete weiter Alices Zimmer. Das Bücherregal platzte aus allen Nähten, meist irgendwelche Romane aus dem Romantasy und Urban-Fantasy-Genre. Art sagten die Titel alle nichts, was aber auch an seinem Gedächtnisverlust liegen konnte. Art zog wahllos einen Titel heraus. Der Umschlag war leicht lädiert und auch sonst schien das Buch in einem jämmerlichen Zustand.

»Kalix, Werwölfin von London...na toll diese Alice scheint ja einen echten Knall zu haben was Wölfe und Hunde betrifft! Äh, nix für ungut Lon!«

Art stellte den Roman wieder an seinen Platz und stöberte weiter. Die anderen Titel waren zum Teil sehr alte Fachbücher über Hunde, Wölfe und Katzen. Art schüttelte amüsiert den Kopf und griff wahllos ein anderes vergilbtes Buch aus dem Regal. Gelangweilt blätterte er darin.

»Die Clans im Süden«. Auf den ersten Seiten befand sich eine Karte ähnlich der an der Wand. Ein Gebiet tief im Süden kam Art irgendwie bekannt vor. Es war mit 'Clan derer von Wilhaim' gekennzeichnet. Art blätterte schnell zu der passenden Seite mit den Erläuterungen, wobei ihm die alten Seiten fast zwischen den Fingern zerbröselten.

»Der Clan derer von Wilhaim. Seit dem Vertrag von Emden 1648 im Gebiet der drei Seen ansässig. Er gilt als einer der einflussreichsten süddeutschen Clans. Das gewählte Clan-Oberhaupt ist Kuno von Wilhaim, der seine erste Amtszeit...«

Bevor Art weiterlesen konnte stürzte Lon aufgeregt zur Zimmertür. Rasch stellte er das Buch zurück. Kurz darauf trat Alice ein und holte Art in das Wohnzimmer, das so ganz anders aussah als das Zimmer von Alices. Schlichte und funktionale Möbel von einem schwedischen Möbelhaus. Ein ehemals weißes Sofa, ein großer Flachbild-Fernseher, zwei Sessel und ein riesig wirkender alter Esstisch aus dunklem Holz mit passendem Stuhlsammelsurium. Dort hatte Alice bereits Frühstück angerichtet.

»Setz dich, Du musst erst mal was essen! Meine beiden Mitbewohner sind gerade unterwegs, müssten aber bald eintrudeln. Ach ja und keine Angst, der Kaffee ist selbstverständlich Koffeinfrei!«

Art irritierte die Bemerkung nur kurz, denn er hatte tatsächlich Hunger. Er setzte sich zu Alice an den alten dunklen Esstisch und griff zu den aufgebackenen Brötchen und der Wurst. Mit vollem Mund meinte er: »Was weißt du über mich?«

»Nun, ich weiß, dass du Art heißt. Vor kurzem waren wir noch zusammen. Ich weiß, dass du hier in Hamburg als Clanloser lebst und eng mit Viviane zusammenarbeitest. Nicht jeder darf mit Ihr zusammenarbeiten. Leider hast du dazu immer geschwiegen. Wie zu deiner Vergangenheit und Herkunft. Diese Geheimnistuerei ist auch einer der Gründe, warum es nicht funktioniert hat mit uns. Also, ich weiß zwar nicht genau wer du bist...aber ich weiß immerhin, was du bist.«

»Und was bin ich?«

»Später!«

»Na toll! Und was bist du, dass du weißt, was ich bin?«

»Ich bin eine Hüterin.«

»Hüterin? Und was hütest Du?«

»Deinesgleichen.«

Art sah Alice verwundert an. Alice lächelte nur und streichelte Lon über den Kopf.

Die Werwölfe vom Oberland

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