Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 11
Nanook Dyami
ОглавлениеIch sehe mich um, immer wieder. Erwarte, dass in den Schatten jemand steht, jemand auf mich lauert. Unendlich viele Augenpaare beobachten mich, verfolgen jeden meiner Schritte. Warten auf den richtigen Augenblick, um aus der Dunkelheit hervorzuspringen, um mich zu packen. Niemand würde mein Schreien hören. Niemand würde mir helfen. Denn ich bin alleine.
„Komm mit mir.“ Genau wie bei ihrer letzten Begegnung war Enapay in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt und eine Kapuze verdeckte sein Gesicht. Nur seine hellen, blauen Augen leuchteten aus dem Schatten hervor.
„Ich kann nicht.“ Felicitas' Stimme zitterte. „Mein Platz ist hier, bei meiner Familie.“
„Nicht, wenn du sie durch deine Gaben in Gefahr bringst“, flüsterte Enapay leise und eindringlich. „Du weißt, dass du es warst, die Sandra diese Schmerzen zugefügt hat, nicht wahr? Du wolltest es nicht, du hast es noch nicht einmal bemerkt. Und das macht dich so gefährlich: Du hast deine Fähigkeiten noch nicht unter Kontrolle!“
„Ich will diese Fähigkeiten nicht! Niemand hat mich gefragt!“
„Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen.“
Felicitas lachte düster auf. „Sie verlangen also von mir, meine Familie und meine Freunde, mein ganzes Leben hinter mir zu lassen und mit Ihnen zu irgendeiner Schule zu gehen, von der ich noch nicht einmal sicher weiß, ob sie existiert, um dort irgendwelche Fähigkeiten auszubilden, mit denen ich andere Menschen töten könnte?“
Enapay nickte. „Du hast keine Wahl.“
„Natürlich habe ich eine Wahl!“, zischte sie.
„Wenn du nicht mit mir kommen willst, wieso hast du mich dann heute Nachmittag gerufen?“, wollte Enapay wissen.
Felicitas zuckte zusammen. Woher wusste er das? „Ich verlange Antworten“, erklärte sie schließlich kühl.
„Dann stell deine Fragen.“ Enapay sah sie abwartend an.
„Wieso kann ich Sandra verletzen, ohne es zu wollen?“, wollte sie wissen.
„Das hängt mit deiner Gabe zusammen, die Zweite Ebene zu beherrschen. Du spürst die Gefühle anderer Menschen. Indem du gegen Sandras Gefühle gekämpft hast, hast du ihr Schmerzen zugefügt. Würde ich dir jetzt jede Einzelheit erklären, würde das zu lange dauern. In der Schule wird man dir beibringen, mit dieser Gabe umzugehen.“
Felicitas ging nicht darauf ein.
„Kann ich diese Fähigkeiten unterdrücken?“
„Wenn du sie besser beherrschst, ja. Aber du kannst sie nie ganz ausschalten. Sie sind ein Teil von dir.“
„Wieso bin ich immer so müde, nachdem ich meine Fähigkeiten eingesetzt habe?“
„Um Materie zu bündeln oder die Gefühle anderer Menschen zu spüren, benötigst du Energie. In der Schule könntest du lernen, deinen Körper an den Energieverbrauch zu gewöhnen.“
„Aha“, meinte Felicitas tonlos.
Enapay sah sie lange an, aus seinen hellen, blauen Augen.
„Pack deine Sachen zusammen, Felicitas.“ Auf einmal klang er müde. „Wir müssen die Stadt verlassen haben, bevor die Dämmerung anbricht.“
„Eine Frage habe ich noch.“ Sie musterte Enapay, versuchte unter der Kapuze die Konturen seines Gesichts zu erahnen. „Wieso ich?“, fragte sie dann leise.
Enapay schwieg lange. „Ich weiß es nicht“, bekannte er schließlich.
Felicitas nickte langsam.
Sie wollte nicht weg von hier. Wollte nicht auf diese Schule, von der Enapay die ganze Zeit sprach, wollte Sandra, Martina und ihre Eltern nicht zurücklassen, ohne ihnen wenigstens eine Erklärung liefern zu können. Andererseits hatte Enapay recht.
Sie war gefährlich. Und sie war anders. Sie konnte ihr Leben nicht in ihrem Zimmer verbringen, ständig in der Angst, jemanden zu berühren und mit dessen Gefühlen konfrontiert zu werden. Ständig in der Angst, jemanden, den sie liebte, zu verletzen. So wie Sandra. „Pack deine Sachen zusammen“, bat Enapay noch einmal.
Schweigend stand Felicitas auf und warf einige Kleidungsstücke in ihre Sporttasche. Enapay sah stumm zu, während sie noch das Foto, ihren MP3-Player und ihr Tagebuch dazu warf.
„Kannst du mich bitte allein lassen?“, fragte Felicitas auf einmal.
Enapay sah Tränen in ihren Augen glitzern und spürte ihre Traurigkeit und ihre Unentschlossenheit. „Ich warte draußen auf dich.“ Er wandte sich um und war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er sich noch einmal umdrehte. „Ich kann dich zu nichts zwingen“, erklärte er plötzlich. „Ob du mit mir kommst oder hierbleibst, ist deine eigene Entscheidung.“
Felicitas nickte.
Enapay wusste, was sie gerade durchmachte. Oft hatte er dieses Prozedere miterlebt. Jugendliche, hin- und hergerissen zwischen ihrem Leben und ihrer Bestimmung. Aber er wusste auch, wie Felicitas sich entscheiden würde. Er spürte ihre Neugier, die sie unter der Trauer vergraben hatte, als ob sie sich dafür schämte. Spürte ihr Verlangen danach, aus dem normalen, aus dem alltäglichen Leben auszubrechen und sich ihrem Schicksal zu stellen. Und er spürte ihre Angst vor ihrer Gabe. Und vor sich selbst.
Als Felicitas die Haustür leise hinter sich schloss, ergriff ein seltsames Gefühl von ihr Besitz. Von jetzt an war sie eine Wandlerin und sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Sie blieb noch einen Moment vor der Haustür stehen und sah hinunter auf den vertrauten Vorgarten und die Straße. Das alles würde sie jetzt hinter sich lassen. Für wie lange?
Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit, als sie daran dachte, wie ihre Eltern und vor allem Sandra reagieren würden, wenn sie am nächsten Morgen ein leeres Bett vorfinden würden.
Obwohl Felicitas ihnen eine Nachricht hinterlassen hatte, dass sie gegangen sei, um anderswo ihr Glück zu finden, und dass diese Entscheidung nichts mit ihnen zu tun hätte, wusste sie doch, dass ihre Eltern sich furchtbare Sorgen um sie machen würden. „Irgendwann werde ich zurückkommen“, versprach sie sich selbst, „dann werde ich ihnen alles erklären und mich entschuldigen.“
Sie atmete ein paarmal tief durch, hängte sich ihre Tasche um und folgte dann dem schmalen, mit Kieselsteinen ausgelegten Weg zur Straße.
Enapay wartete bereits. Reglos wie eine Statue stand er mit geschlossenen Augen im Schatten der Häuser.
„Toll. Und was jetzt?“ Felicitas setzte ihre schwere Tasche ab und sah Enapay erwartungsvoll an. Als er nicht sofort antwortete, redete sie weiter, um die unheimliche Stille, die sie umgab, zu verdrängen. Eigentlich mochte sie die Nacht mit ihren Schatten und Geheimnissen. Doch auf einmal war ihr mulmig zumute. „Also, natürlich können wir auch hier stehen bleiben und darauf warten, dass uns ein Taxi abholt. Oder machen Wandler das irgendwie anders?“
„Still!“, fuhr Enapay sie an. Er hielt die Augen geschlossen, versuchte sich zu konzentrieren. Doch Felicitas' Trauer, ihre Angst und ihre Aufregung waren so stark, dass es ihm schwerfiel, mit Misae Kontakt aufzunehmen.
Plötzlich hörte Felicitas ein Flügelrauschen. Als sie nach oben blickte, entdeckte sie einen kleinen, dunklen Schatten vor dem Mond, der schnell größer wurde.
„Was ...“, murmelte sie noch, als das Tier auch schon einige Meter von ihnen entfernt landete. Völlig geräuschlos legte es seine riesigen Schwingen an und betrachtete Felicitas und Enapay dann erwartungsvoll. Felicitas starrte das Wesen mit offenem Mund an und wich mehrere Schritte zurück. Vor ihr stand ein großer Wolf. Ein Wolf mit Adlerschwingen.
„Ihr habt mich gerufen, Meister.“ Die hohe, weibliche Stimme hallte in Felicitas' Kopf wider.
„Ja, Misae. Danke, dass du so schnell gekommen bist. Wir würden gerne zur Schule zurückfliegen“, erklärte Enapay. Der Wolf neigte den Kopf. Es sah beinahe so aus, als ob er sich verneigte.
„Komm.“ Enapay schritt auf das Wesen zu.
„Aber ...“, protestierte Felicitas. „Das ist doch unmöglich!“, hatte sie sagen wollen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Wie konnte sie nach den letzten vierundzwanzig Stunden noch glauben, dass irgendetwas unmöglich war?
„Du musst keine Angst vor mir haben, Felicitas.“ Wieder hörte sie die Stimme in ihrem Kopf. „Mein Name ist Misae und ich bin ein Nanook Dyami, ein Wolf mit Adlerschwingen. Ich werde euch sicher zur Schule bringen, denn ich stehe in Enapays Diensten.“
„Ach so ... na dann ist ja alles klar.“ Als sie langsam näher an Misae herantrat, lachte Felicitas. Es hörte sich ein bisschen hysterisch an.
Der Nanook Dyami legte sich auf den Boden und wartete, bis Enapay und Felicitas auf seinen Rücken gestiegen waren.
Noch einmal sah Felicitas zurück auf das kleine, weiße Haus, in dem sie so lange gelebt hatte. Hinter einem Busch sah sie unheimliche, grüne Augen aufleuchten. „Dann bist du also der Einzige, der weiß, was wirklich passiert ist“, raunte sie Shadow zu.
Plötzlich setzte Misae sich in Bewegung. Ohne zu überlegen, klammerte Felicitas sich an Enapay, als der Nanook Dyami die Flügel ausbreitete und in den dunklen, nächtlichen Himmel emporschoss. Erst jetzt fiel Felicitas auf, dass etwas nicht stimmte: Obwohl sie Enapay berührt hatte, blieb die Welle von Gefühlen aus. Ja, sie spürte nichts, nur das Kribbeln in ihrem Bauch und die Euphorie, die sich langsam in ihr ausbreitete, als sie die Stadt mit ihren Lichtern immer weiter unter sich zurückließen.
Das war Magie. Sie wusste es.
Ihre langen Haare wehten im lauen Wind und die Sterne schienen auf einmal zum Greifen nah zu sein. Mit gleichmäßigen Flügelschlägen arbeitete Misae sich in die Höhe.
Bald schon ließen sie die Stadt hinter sich zurück und glitten über den nahe gelegenen Wald. Das silbrige Licht des Mondes ließ die Bäume wie ein Meer aus Schatten wirken, das sich gleichmäßig im Wind wiegte.
„Willkommen in meiner Welt.“ Misaes Stimme klang in ihrem Kopf.
Felicitas lachte. Auf einmal fühlte sie sich so leicht und befreit. Am liebsten wäre sie ihr ganzes Leben lang nur geflogen, würde nicht an gestern denken und nicht an morgen.
Völlig lautlos glitt Misae durch die Nacht. Staunend betrachtete Felicitas die Landschaft, die unter ihnen vorüberzog: erst der Wald, dann die Hügel. Und vor ihnen bemerkte sie die dunklen Silhouetten der Berge, die sich gegen den inzwischen heller gewordenen Himmel abzeichneten. Vorsichtig ließ Felicitas Enapay los und streckte die Arme aus. Der Wind fuhr ihr durchs Gesicht und sie schloss die Augen.
Magie. Freiheit.
Das waren die beiden einzigen Worte, die dieses Gefühl beschreiben konnten, das sich auf einmal in ihr breitmachte. Ja, sie war frei. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Keine Eltern, die ihr sagten, was sie zu tun und zu lassen hatte. Keine Verpflichtungen. Keine Langeweile. Von jetzt an würde sich ihr Leben grundlegend ändern. Und in diesem Moment freute sie sich zum ersten Mal wirklich darauf.
„Schau dir den Sonnenaufgang an, Felicitas“, riet Misae auf einmal. Als Felicitas die Augen wieder öffnete, wurden die Berge von einem goldenen Licht angestrahlt und warfen lange Schatten über die Landschaft. Der Schnee auf den Gipfeln glitzerte.
„Es ist wunderschön“, murmelte Felicitas leise.
„Das ist der Zauber der Natur“, meinte Enapay.
Die Berge zogen unter ihnen vorüber, während die Sterne zusehends verblassten.
„Halt dich fest.“ Wieder hallte Misaes Stimme durch ihren Kopf.
Felicitas klammerte sich an das weiche Fell des Nanook Dyami, als dieser auch schon zum Landeanflug ansetzte. Überrascht schrie Felicitas auf, als Misae sich auf einmal wie ein Stein in die Tiefe fallen ließ. Doch bevor sie wirklich wusste, wie ihr geschah, breitete Misae auch schon wieder die Flügel aus und fing den Sturz geübt ab. Nur wenige Meter unter ihnen erstreckte sich ein Wald, der von der Sonne in gleißendes Licht getaucht wurde. Felicitas musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden.
Sie spürte, wie Misae eine enge Kurve beschrieb und dann noch tiefer glitt. Als sie neugierig blinzelte, sah sie vor ihnen zwischen den Bäumen die Türme eines kleinen Schlosses emporragen. Die Wände waren braun und rissig, es schien, als sei es seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden. Und trotzdem war es von einer merkwürdigen Aura umgeben, die Felicitas sofort in ihren Bann zog. Sie spürte, dass irgendetwas mit dem alten Gemäuer nicht stimmte, dass es irgendein Geheimnis barg.
„Es ist die Schule“, murmelte sie leise zu sich selbst.
„Ja.“ Sie hörte, dass Enapay lächelte.
Immer weiter flog Misae auf das Schloss zu, bis sie schließlich direkt darüber schwebten. Jetzt bemerkte Felicitas auch, dass es auf einer großen Lichtung erbaut worden war, am Ufer eines kleinen Sees. Unwillkürlich dachte sie an Etu und an den spiegelglatten See, den sie in ihrem Traum besucht hatte. Hatte diese Schule etwas mit dem Ort in ihrem Traum zu tun?
Sie wollte Enapay gerade fragen, als Misae lautlos landete.
Enapay glitt von ihrem Rücken.
„Das wird für die nächste Zeit dein Zuhause sein.“ Er deutete auf das Schloss.
„Mein Zuhause“, dachte Felicitas und eine tiefe Traurigkeit überkam sie, „mein neues Zuhause.“
Schweigend folgte sie Enapay und Misae über die taufeuchte Wiese hinunter zum See. Das Licht der Sonne ließ die kleinen Wellen glitzern und färbte die Wolken am Himmel rosa. Eigentlich war es ganz schön hier. Neugierig betrachtete Felicitas das Schloss. Von hier aus sah es viel größer aus als aus der Luft. Vier kleine, verzierte Türmchen reckten sich zu jeder Seite des Schlosses in die Höhe und die großen Fensterscheiben waren aus buntem Glas. Es hätte edel wirken können, würden an den Wänden nicht schon der Putz und die Farbe abbröckeln. Ohne zu zögern, schritt Enapay auf das große Eingangstor zu. Er murmelte etwas Unverständliches, woraufhin es lautlos aufschwang. Staunend betrat Felicitas hinter ihm den geräumigen Innenhof.
Eine große Rasenfläche breitete sich vor ihnen aus. Um sie herum erhoben sich die Mauern des Schlosses und nur hinter vereinzelten Fenstern brannte schon Licht.
„Danke für deine Hilfe.“ Enapay verneigte sich förmlich vor Misae.
„Es war mir eine Ehre“, antwortete der Nanook Dyami.
„Komm mit, ich werde dich gleich auf dein Zimmer bringen.“ Enapay drehte sich um und steuerte über die Wiese hinweg auf eine kleine, unscheinbare Tür zu.
Als Felicitas zögerte, stupste Misae sie sanft mit der Schnauze an. „Hab keine Angst, Felicitas.“
„Ich habe keine Angst“, murmelte sie und beeilte sich, Enapay zu folgen.
„Ich habe schon viele Wandler gesehen, Felicitas Wilara, aber darunter keinen einzigen mit solchen Fähigkeiten wie den deinen. Pass auf, dass du nicht vom Weg abkommst, denn du wirst unser aller Schicksal bestimmen!“
Misaes Stimme klang noch einmal in ihrem Kopf, laut und deutlich. Doch als sie sich zu ihr umdrehte, war sie verschwunden.
„Felicitas!“, rief Enapay und sie schloss eilig zu ihm auf.
Hinter der unscheinbaren Tür verbarg sich eine vollkommen andere Welt. Staunend betrachtete Felicitas den mit Teppichen ausgelegten Fußboden und die hölzerne Treppe, die nach oben führte. Fackeln hingen an den Wänden und an der gegenüberliegenden Seite prasselte ein Kaminfeuer.
Ein leises Lächeln huschte über Felicitas' Gesicht. Sie hatte das Gefühl, um Jahre zurückversetzt zu sein. Das hier glich eher einer alten Burg im Mittelalter als einem halb verfallenen Schloss in einer Welt voller Technik und Industrie.
„Gefällt es dir?“, fragte Enapay.
Überrascht fuhr Felicitas herum. Für einen kurzen Augenblick hatte sie Enapay ganz vergessen.
„Äh ... ja“, stammelte sie und starrte den Mann an, der auf einmal vor ihr stand. Enapay hatte die Kapuze zurückgeschoben und erst jetzt konnte Felicitas erkennen, wie alt er eigentlich war. Sein Gesicht war von Falten durchzogen und sein Haar schlohweiß. Doch seine hellen, blauen Augen leuchteten noch immer wie die eines Kindes: voller Kraft und Tatendrang.
„Du wirst dir ein Zimmer mit Ailina teilen“, erklärte Enapay und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Zielsicher führte er Felicitas durch die verlassenen Korridore des Schlosses.
„Das hier sind die Unterrichtsräume“, verkündete er und deutete den Gang entlang, „und dort hinten geht es zu den Schlafräumen. Du darfst dich frei im Schloss bewegen, doch die Kellergewölbe sind für dich, genau wie für alle anderen Schüler, tabu. Erst mit deiner Namenszeremonie und somit der Erhebung in den Lehrer- beziehungsweise Kriegerstatus bist du ein voll ausgebildeter Wandler und darfst den geheimen Ritualen beiwohnen.“
„Aha“, machte Felicitas, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Namenszeremonien, geheime Rituale, verbotene Kellergewölbe ... wo war sie hier nur hineingeraten?
„So, da wären wir.“ Enapay blieb vor einer dunklen, hölzernen Tür stehen, die genauso aussah wie jede andere dunkle, hölzerne Tür in diesem Gang. „Ich wünsche einen angenehmen Schlaf.“ Mit einem freundlichen Nicken ließ er sie zurück. Felicitas beobachtete noch, wie er würdevoll den Gang entlangschritt, bis er hinter einer Biegung verschwand. Auf einmal war sie wirklich allein. Sie spielte mit dem Gedanken, Enapay hinterherzurufen, er solle zurückkommen, ließ es dann aber bleiben.
Das Sonnenlicht, das durch die bunten Glasscheiben schien, ließ farbenfrohe Lichtflecke auf dem Boden tanzen, doch Felicitas starrte sie an, ohne sie wirklich zu sehen. Um sie herum war es vollkommen still. Auf einmal begann sie, unkontrolliert zu zittern. Worauf hatte sie sich nur eingelassen, als sie Enapay einfach gefolgt war? Sie wusste doch gar nicht, was sie hier erwartete!
Zögernd streckte sie die Hand aus und klopfte. Wenn sie hier stehen blieb, würde sie es nie erfahren. Dann wartete sie. Als sich im Zimmer nichts rührte, umfasste sie die Türklinke.
Die Tür quietschte leise, als Felicitas sie aufdrückte und in das Zimmer dahinter spähte. Es war klein, mit nur einem einzigen Fenster und zwei Betten an der hinteren Wand. Auf einem davon lag ein Mädchen. Es war hübsch, hatte langes, blondes, fast weißes Haar und ein Lächeln zierte sein Gesicht. Es sah glücklich aus. Zumindest, wenn es schlief.
Leise schlich Felicitas sich in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Erst jetzt fielen ihr die beiden hohen Schränke an den Seiten und der kleine Schreibtisch, der direkt links neben der Tür stand, auf. Leise stellte sie ihre Tasche neben dem Kopfende des noch freien Bettes ab. Obwohl sie sich gerne hingelegt hätte, zögerte sie. Das Bettzeug war ganz weiß und sowohl die Decke als auch das Kopfkissen waren faltenlos.
„Fast wie in einem Krankenhaus“, dachte Felicitas auf einmal, „in das die kranken Kinder eingeliefert werden, die fremde Gefühle spüren können und vermutlich bald verrückt werden.“
Sie nahm den Raum noch einmal genauer in Augenschein. Sie musste sich eingestehen, dass er sonst relativ wenig mit einem sauberen und nach Desinfektionsmitteln riechenden Krankenzimmer gemeinsam hatte. Der Boden war mit einem hellen, orangefarbenen Teppich ausgelegt und auf dem kleinen Schreibtisch lagen unordentlich mehrere Blätter Papier verteilt. Sogar in die dunklen Schränke waren feine Muster eingearbeitet, die Felicitas auf Anhieb gar nicht aufgefallen waren. Nur die Wände wirkten genauso traurig und farblos wie das Bettzeug. Und die kahle Glühbirne, die von der Decke baumelte.
Felicitas seufzte leise und legte sich schließlich doch hin. Fast sofort fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.