Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 9
Der Traum
ОглавлениеDie Dunkelheit ist undurchdringlich. Das macht mir Angst. Normalerweise steht der Mond am Himmel und verströmt sein silbriges Licht. Oder es leuchten die Sterne. Sie sind zwar nicht so hell, aber sie sind da, weit entfernt, unerreichbar. Einst habe ich gedacht, ich könnte nach ihnen greifen. Doch inzwischen weiß ich, dass es unmöglich ist.
Sie rannte. Immer schneller und schneller, doch die Schatten verfolgten sie. Die Bäume um sie herum standen so dicht, dass kaum Licht auf den Waldboden fiel. Überall Dunkelheit. Überall Angst.
Sie rannte schneller. Etwas Großes, Schwarzes war hinter ihr her. Es verschmolz mit den Schatten und jagte sie unbarmherzig weiter. Auf einmal begann der Boden unter ihren Füßen zu beben und sie strauchelte.
„Weiter!“ Nur das eine Wort pulsierte in ihrem Kopf. „Weiter! Weiter!“ Sie wusste nicht, was sie verfolgte. Sie wusste auch nicht, wohin sie lief. Sie wusste nur, dass sie nicht hier bleiben konnte. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie sich wieder auf die Füße kämpfte und weiterrannte.
Plötzlich lichteten sich die Bäume um sie herum und sie stand am Rand einer großen Lichtung. Vor ihr, auf dem Boden, lag der Himmel.
Nein, es war gar nicht der Himmel. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es sich um einen kleinen See handelte, dessen Oberfläche so glatt war, dass sich die weißen Wölkchen darin spiegelten.
Langsam, wie in einer Art Trance, schritt sie vorwärts, auf den See zu. Auf einmal war die Angst vergessen und alle Erschöpfung aus ihrem Körper gewichen. Wie von selbst gaben ihre Beine unter ihr nach, sodass sie am Ufer zusammensank.
Sie berührte die spiegelglatte Wasseroberfläche mit einem Finger und verursachte kleine Wellen, die immer größer wurden und die Sonnenstrahlen in alle Richtungen zurückwarfen.
Dies war ein magischer Ort. Sie spürte es an allem, was sie umgab. Das helle Licht, der klare See, sogar die Luft wirkte hier frisch und unverbraucht.
„Wo bin ich?“ Erst jetzt wunderte sie sich darüber.
„Du bist im Land der Träume.“ Die tiefe Stimme hallte plötzlich durch ihren Kopf. Sie zuckte zusammen und sah sich ängstlich um, konnte jedoch niemanden entdecken.
„Schau nach oben.“ Wieder die Stimme.
Sie legte den Kopf in den Nacken und schützte ihre Augen mit den Händen vor dem grellen Licht. Da sah sie ihn: einen Drachen, dessen Schuppen im Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben leuchteten. Er war groß – nein, gigantisch. Doch obwohl er direkt auf sie zuflog, hatte sie keine Angst. Da war nur eine tiefe Ehrfurcht, gemischt mit Faszination, die sie vollkommen ausfüllte.
Magie. Ein anderes Wort, das diese Szene besser hätte beschreiben können, fiel ihr nicht ein.
„Wir haben lange auf dich gewartet, Felicitas.“ Der Drache landete ein paar Meter von ihr entfernt im Gras. Jetzt, als er direkt vor ihr stand, wurde Felicitas auf einmal doch ein wenig mulmig zumute. „Wir haben aufgehört, die Jahrhunderte zu zählen, seitdem wir in dieser Welt gefangen sind und auf dich warten.“
„Wir?“ Felicitas wich ein paar Schritte zurück und sah sich unsicher um. Doch sie konnte nirgendwo einen weiteren Drachen entdecken. „Wer bist du?“, wagte sie schließlich zu fragen. „Und wieso kennst du meinen Namen?“ Der Drache lachte, doch seine Augen blickten sie weiterhin so unendlich traurig an.
„Wir sind Etu, viele Drachen, eingesperrt in einem einzigen Körper. Als die Menschen aufhörten, an Magie zu glauben, jagten und vertrieben sie uns. Wir haben gekämpft, mussten am Ende jedoch zusehen, wie die Menschen die Erde für sich beanspruchten und nach und nach alle magischen Geschöpfe ausrotteten. Da haben wir uns zusammengeschlossen, vereint in einem einzigen Körper, um unsere Magie zu bündeln. Wir erschufen eine neue Welt, eine andere Welt. Das Land der Träume. Doch noch immer haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, den Menschen die Augen öffnen und auf die Erde zurückkehren zu können.“
Felicitas sah den Drachen verwirrt an und versuchte, den Sinn seiner Worte zu begreifen. „Aber ... was hat das Ganze mit mir zu tun?“, brachte sie schließlich mühsam hervor.
„Du bist einer der wenigen Menschen, die noch an Magie glauben. Und du hast die seltene Gabe, die Drei Ebenen sowohl zu verstehen als auch zu beherrschen. Felicitas, du bist eine Wandlerin.“
„Eine Wandlerin? Was ist das? Und was sind die Drei Ebenen?“ Jetzt wurde sie doch neugierig.
„Es würde zu lange dauern, dir das alles zu erklären. Aber sei dir bewusst, dass deine Zukunft weit weg von den anderen Menschen, weit weg von einem normalen Leben liegt. In Kürze wirst du deine Kräfte freisetzen und unglaubliche Dinge vollbringen können. Wenn es so weit ist, wird Enapay dich in seine Schule aufnehmen und dir alles Notwendige beibringen.“
Für einen kurzen Augenblick herrschte unangenehmes Schweigen. Ungläubig starrte Felicitas den Drachen an.
Magie. Wandler.
„Knie nieder, Felicitas Wilara.“
In diesem Moment wunderte Felicitas sich über gar nichts mehr. Der Drache hatte schließlich ihren Vornamen gekannt, also wieso nicht auch ihren Nachnamen? Dennoch zögerte sie kurz, bevor sie sich an das Ufer des Sees kniete.
„Hier und heute, im Land der Träume, wo dich kein menschliches Auge erblicken kann, verleihe ich dir vor dem See der Wahrheit deine Kräfte. Nutze sie stets zum Guten und kämpfe für die Träume und für eine bessere Welt. Denn das ist deine Aufgabe.“
Plötzlich bekam Felicitas einen heftigen Stoß in den Rücken. Sie schrie erschrocken auf und versuchte noch, ihr Gleichgewicht zu halten, da umfing sie auch schon das kalte, klare Wasser des Sees.
***
Mit einem Ruck fuhr Felicitas hoch. Draußen war es noch dunkel und die Lichter der Straßenlaternen ließen unheimliche Schatten an den Wänden tanzen. Mit einem erleichterten Seufzer ließ sie sich zurück in die Kissen sinken. Sie hatte nur geträumt.
Schnell warf sie einen Blick auf die Leuchtziffern ihres Weckers. Es war zehn vor vier in der Nacht.
Langsam stand Felicitas auf und schritt auf das Fenster zu. Dann stützte sie sich auf das Fensterbrett und starrte nach draußen auf die dunkle, menschenleere Straße. Ein lauer Wind blies ihr ins Gesicht und sie fröstelte. Nicht wegen des Windes, eher wegen der Einsamkeit und der Stille, die nachts über ihrer Straße lagen. Es war unheimlich und faszinierend zugleich, dass es eine Tageszeit gab, in der die Schatten und nicht mehr die Menschen ihre Stadt beherrschten. Seit jeher hatte die Dunkelheit einen gewissen Sog auf Felicitas ausgeübt. Sie offenbarte eine neue Welt, eine finstere Welt, wie sie kaum jemand kannte.
Dünne Wolkenschleier zogen schnell vor dem blassen Mond vorbei und offenbarten hin und wieder kleine, leuchtende Sterne. So unendlich weit entfernt ...
Felicitas spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden und ihr Kopf auf ihre Hände sank. Als ihre Beine begannen, unter ihrem Gewicht nachzugeben, schreckte sie hoch. Etwas verwirrt zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich, den Blick noch immer auf die leere Straße gerichtet. Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung im Schatten des Hauses. Sie zuckte zusammen, erkannte dann jedoch, dass es sich nur um Shadow, den Nachbarskater, handelte. Aus unheimlichen, grünen Augen starrte er sie an. Sie starrte zurück. Der Schwanz des Katers peitschte hin und her. Dann drehte das Tier sich um und verschwand wieder in den Schatten.
Wandler.
Plötzlich musste Felicitas wieder an ihren Traum denken und eine seltsame Angst erfasste sie, die sie sich nicht erklären konnte.
***
Muraco schlug die Augen auf. Sofort umfing ihn wieder die gewohnte Dunkelheit.
„Er ist wach!“, hörte Muraco Patamon aufgeregt flüstern.
Patamon war der jüngste Meister, erst vor wenigen Monaten hatte das traditionelle Ritual stattgefunden, das ihm diesen Status verlieh.
„Was hat er Euch mitgeteilt?“, fragte Enapay.
Muraco hörte das Rascheln seines Gewandes, als der fünfte Meister auf ihn zukam.
„Etu hat gesagt, dass Onida bald kommen wird“, erklärte Muraco leise. Er spürte die Aufregung, die von Patamon und den anderen ausging. Aber da war noch ein anderes Gefühl ... Angst.
„Wovor fürchtest du dich?“
Enapay zuckte zusammen, als sich Muracos sichtloser Blick auf ihn heftete.
„Vor ...“, der fünfte Meister zögerte, „vor Onida“, sagte er schließlich. „Laut der Prophezeiung soll sie mächtiger werden, als je ein Wandler zuvor. Was also, wenn sie sich unseren Feinden anschließt?“
„Das werden wir nicht zulassen“, warf Songan ein.
„Und wie willst du es verhindern?“ Niyol, der zweite Meister, erhob sich. „Jeder Wandler ist frei, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.“
„Da hast du recht.“ Muraco nickte gedankenverloren.
„Aber Etu hat sie doch ausgewählt“, bemerkte Patamon, „also wird sie sich uns anschließen!“
„Ich weiß nicht, ob Etu ihr schon ihre Kräfte verliehen hat. Er sprach nur davon, dass Onida bald kommen wird, nicht, dass sie schon da ist.“ Muraco klang erschöpft.
„Er wird Euch wohl kaum umsonst vor Onida gewarnt haben?“, fragte Enapay.
„Nein. Umsonst bestimmt nicht. Irgendetwas wird geschehen. Ein großer Wandel steht uns bevor und wir sollten beten, dass er zu unseren Gunsten sein wird.“
***
Felicitas öffnete die Augen und stöhnte vor Schmerzen auf, als sie versuchte, sich aufzurichten. Alles tat ihr weh. Nachdem sie ein paarmal geblinzelt hatte, erkannte sie auch, woran das lag: Sie war am Fenster eingeschlafen.
Jetzt, im Tageslicht, war ihre Straße kaum wiederzuerkennen: Vögel zwitscherten, die Sonne schien und die Schatten waren verschwunden. Ein einzelner Jogger lief an ihrem Haus vorüber und grinste sie an, woraufhin sie sich schnell vom Fenster zurückzog.
Weil sie noch keine Lust hatte, sich fertig zu machen und zu frühstücken, legte sie sich noch ins Bett, um zu lesen. Auch wenn sie es am Anfang der Ferien nie geglaubt hätte, freute sie sich jetzt doch wieder auf die Schule. Die Tage zogen sich in die Länge, während Martina, ihre beste Freundin, in Italien am Strand lag. Aber Felicitas' Familie konnte sich keinen Urlaub leisten. Also saß sie hier fest.
„Felicitas!“ Die Tür wurde aufgerissen und Sandra, ihre kleine Schwester, stürmte herein.
„Was ist denn los?“, murmelte Felicitas und richtete sich mühsam auf.
„Jetzt sag nicht, du hast noch geschlafen!“, schrie Sandra.
„Ganz ruhig!“ Felicitas hob beschwichtigend die Hände. „Was ist denn los?“
„Ich habe um zehn Uhr ein Date mit Tom und du hast versprochen, mir eine hübsche Frisur zu machen!“
„Oh ja, natürlich!“ Felicitas schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sandras Date mit Tom! Wie hatte sie das nur vergessen können? Dabei redete ihre Schwester doch seit Tagen von nichts anderem mehr.
„Wie sehe ich aus?“ Sandra drehte sich ein paarmal im Kreis und setzte dabei ein übertriebenes Lächeln auf.
„Soll ich ehrlich sein?“, fragte Felicitas vorsichtig.
„Ja.“
„Du siehst aus, als hättest du heute Morgen zum ersten Mal in deinem Leben einen Kajal benutzt.“
„Aber Felicitas, ich habe heute Morgen zum ersten Mal in meinem Leben einen Kajal benutzt!“
Felicitas seufzte. „Los, hol die Abschminktücher. Ich mach das.“
Sandra wirbelte aus dem Zimmer, streckte jedoch nur Sekunden später wieder ihren Kopf durch die Tür. „Ääh ... wo sind denn die Abschminktücher?“
„Im Schrank unter dem Waschbecken.“
Und weg war sie.
Felicitas seufzte. Auch wenn sie es nicht gerne zugab, beneidete sie ihre kleine Schwester ein wenig. Seit ihrem letzten Date waren zwei Jahre vergangen. Obwohl ... eigentlich war es nie zu einem richtigen Date gekommen, schließlich hatte Stefan sie sitzen lassen.
„Ich bin wieder da-ha!“ Sandra kam ins Zimmer gerannt und krachte gegen das Bett, als der Teppich unter ihr wegrutschte.
„Oh Gott! Alles in Ordnung?“ Felicitas half ihrer kleinen Schwester auf.
Sandra stöhnte. „Habe ich irgendwo hässliche blaue Flecken?“
Felicitas lachte, froh darüber, dass das Sandras einziges Problem zu sein schien. „Nein. So, und jetzt setz dich hin und halt still.“
Während sie mit einem Abschminktuch vorsichtig den viel zu dick aufgetragenen Puder und den verschmierten Kajal abwischte, redete Sandra wie ein Wasserfall. Obwohl Felicitas sich bemühte, ihr zu folgen, musste sie sich doch viel zu sehr auf das Schminken konzentrieren, und so verschmolzen die Worte ihrer kleinen Schwester immer mehr zu einem gleichmäßigen, nervenden Summen.
Felicitas fluchte leise, als sie mit dem Lippenstift daneben malte, weil Sandra noch nicht einmal für ein paar Sekunden den Mund halten konnte. Mit ihrem Finger wollte sie den roten Fleck auf der Wange ihrer kleinen Schwester wegwischen, als etwas Seltsames geschah: Kaum berührte sie Sandras Haut, durchfuhr sie ein heftiger Energieschub. Auf einmal empfing sie so viele Gefühle: Angst, Neugier, Nervosität, Aufregung. Sie kamen wie eine riesige Welle, die über ihr zusammenbrach und sie zu ertränken drohte. Ihr Kopf pochte vor Schmerz und die Welt verschwamm vor ihren Augen. Der Lippenstift fiel ihr aus der Hand und kam mit einem klackernden Geräusch auf dem Boden auf.
Und plötzlich war alles wieder vorüber.
„Felicitas? Ist alles in Ordnung?“
„Ja ... es war nur ... ein Schwindelanfall.“ Felicitas' Hand zitterte, als sie den Lippenstift aufhob. „Halt jetzt einfach still, okay?“
Sandra nickte gehorsam. Auf einmal war es seltsam still im Zimmer. Draußen auf der Straße lachten Leute. Felicitas hatte das Gefühl, alles nur noch wie durch eine dünne, durchsichtige Wand wahrzunehmen. Das Gelächter klang seltsam verzerrt, das Ticken der Uhr empfand sie als unregelmäßig. Was war nur los mit ihr?
„Felicitas, ich glaube, das reicht.“
Mit Entsetzen bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit mit dem Lippenstift über Sandras Lippen gefahren war, die jetzt knallrot waren.
„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Ich kann mein Date auch verschieben, wenn es dir nicht gut geht“, bot Sandra an.
„Natürlich geht es mir gut!“ Das Letzte, was Felicitas wollte, war, Sandra ihr erstes Date zu versauen.
„Dann sollten wir uns beeilen.“ Sandra warf einen vielsagenden Blick auf die Uhr.
„Okay, ich mache dir jetzt eine Frisur. Was möchtest du?“
„Keine Ahnung.“
Felicitas seufzte und machte sich daran, Sandras Haare zu kämmen. Immer wieder fuhr sie mit der Bürste durch das seidige, braune Haar ihrer Schwester, bis sie es schließlich zu einem einfachen Dutt zusammenfasste.
„Das müsste reichen. Tom wird begeistert von dir sein!“
„Danke!“ Sandra fiel ihr um den Hals. „Ich wüsste echt nicht, was ich ohne dich machen würde!“
Dann erst stand sie auf, drehte sich ein paarmal vor dem großen Spiegel und rannte schließlich aus dem Zimmer. Ein dumpfer Schlag folgte. „Sandra!“ Felicitas stürzte aus dem Zimmer.
„Es ist ... alles in Ordnung!“ Sandra rappelte sich gerade wieder auf und polterte die Treppe hinunter.
„Vielleicht solltest du lieber deine Ballerinas anziehen!“, rief sie ihrer kleinen Schwester nach. Die Haustür fiel ins Schloss.
„Als meine High Heels“, murmelte Felicitas noch, dann ließ sie sich wieder auf ihr Bett fallen. Auf einmal fühlte sie sich seltsam erschöpft. Ohne dass sie es wirklich merkte, schweiften ihre Gedanken ab und sie sah wieder den kleinen See vor sich und den Drachen. Er hatte von Wandlern gesprochen. Was waren Wandler?
„Es war nur ein Traum, Felicitas!“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, doch es wollte nicht funktionieren. Was war eben mit ihr los gewesen, als sie all diese Gefühle gespürt hatte, die nicht die ihren gewesen waren? Hätte sie nicht so viel Angst gehabt, hätte sie wahrscheinlich über sich selbst gelacht. Fing sie jetzt schon an, verrückt zu werden? Mit siebzehn Jahren? War das nicht ein bisschen früh?
Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett herum und starrte an die Decke. Irgendwann fielen ihr die Augen zu.
***
Felicitas schreckte hoch. Im Zimmer war es dunkel und still. Sie hörte nur das Ticken der Wanduhr.
„Felicitas.“ Sie schrie erschrocken auf, als sie die dunkle Gestalt bemerkte, die nahe der Tür stand.
„Du musst keine Angst vor mir haben.“ Langsam kam sie auf Felicitas zu. „Mein Name ist Enapay und ich bin wie du: ein Wandler.“
Immer weiter kroch Felicitas zurück, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß.
„Ich bin keine Wandlerin“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, „Sie müssen sich irren!“
„Wieso bist du dann Etu, dem goldenen Drachen, in deinen Träumen begegnet? Und wieso konntest du Sandras Gefühle spüren, als wären es deine eigenen? Ich will es dir sagen: weil du anders bist als die anderen Menschen. Du bist eine von uns. Eine Wandlerin.“
„Das kann nicht sein!“, murmelte Felicitas immer wieder.
„Hier kannst du nicht mehr bleiben. Komm mit mir!“ Als Enapay weiter auf sie zukam, bemerkte sie, dass er ein langes, schwarzes Gewand trug. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht.
„Wer sind Sie?“, fragte sie leise.
Enapay antwortete nicht sofort.
„Ich bin ein Wandler, genau wie du“, sagte er schließlich, „und einer der fünf Meister.“
„Der was?“
„Es gibt fünf Meister, mehrere Lehrer und Krieger und jedes Jahr einige Schüler. Du wirst eine von ihnen sein. Sie bekommen ihre Kräfte meist in ihren Träumen, verliehen von Etu, dem goldenen Drachen. Er hat dir doch bestimmt schon von uns erzählt, oder etwa nicht?“
„Doch“, murmelte Felicitas, „er hat etwas von Kräften gesagt“, erinnerte sie sich. „Und davon, dass es unsere Aufgabe sei, den Menschen die Augen zu öffnen.“
„Genau.“ Enapay nickte. „Vor langer Zeit vertrieben die Menschen die Drachen aus ihrer Welt, weil sie nicht mehr an die Fantasie glaubten. Die Drachen vereinigten sich in einem Körper und erschufen aus ihren magischen Kräften eine neue Welt: das Land der Träume. Dort warten sie, gefangen im Körper des Drachen Etu, auf ihre Rückkehr. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen die Augen zu öffnen.“
„Das ist doch Quatsch.“ Felicitas lachte leise. „Es gibt weder Wandler noch Drachen.“ Das alles hier war nur ein Traum. Tief in ihrem Inneren wusste sie das.
„Dann erklär mir doch mal, wieso du Sandras Gefühle so deutlich gespürt hast.“
„Das ... das ...“ Felicitas brach ab. „Sie ist meine Schwester!“, fuhr sie Enapay schließlich an. „Natürlich weiß ich, wie sie sich fühlt.“
Enapay kam weiter auf sie zu und ließ sich auf die Kante ihres Bettes sinken. „Sei nicht albern, Felicitas. Du weißt, dass ich recht habe.“ Als Felicitas nur trotzig den Kopf schüttelte, seufzte Enapay.
„Es war wie ein Sturm, nicht wahr?“
Seine Stimme klang sanft und ruhig, als spräche er mit einem kleinen Kind. „Ein Sturm aus Gefühlen, der urplötzlich in dir losbrach. Du wusstest, dass diese Gefühle nicht zu dir gehören, konntest sie in diesem Moment allerdings nicht von deinen eigenen unterscheiden. Es tat weh. Du bekamst Kopfschmerzen und vor deinen Augen verschwamm alles. Dann hörte es wieder auf. So plötzlich, wie es begonnen hatte. Und du fühltest dich nur noch unendlich müde.“
„Woher ...“, murmelte Felicitas leise, doch Enapay unterbrach sie.
„Woher ich das weiß? Weil ich das alles unzählige Male selbst durchgemacht habe. Das ist unser Schicksal als Wandler. Wir besitzen die Gabe, die Drei Ebenen Materie, Gefühl und Traum nicht nur zu verstehen, sondern auch zu beherrschen. Aber sie zu kontrollieren, erfordert viel Übung. Felicitas“, er beugte sich zu ihr vor, „deine Gaben sind gefährlich, solange du sie noch nicht richtig einsetzen kannst. Sowohl für dich als auch für deine Mitmenschen.“
Felicitas zögerte. Sie wusste, dass Enapay zumindest teilweise die Wahrheit sprach. Schließlich hatte sie Etu in ihren Träumen getroffen und sie hatte Sandras Gefühle gespürt, als wären es ihre eigenen. Und zwar in derselben Weise, wie Enapay es beschrieben hatte.
„Du kannst die Drei Ebenen manipulieren, die Träume und Gefühle der Menschen. Und die Materie. Du kannst Gegenstände aus dem Nichts erschaffen, und solange du deine Gaben noch nicht unter Kontrolle hast, bist du gefährlich, Felicitas!“
„Ich bin gefährlich?“ Felicitas‘ Stimme zitterte.
Er nickte. „Ja, solange du deine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle hast. Ja.“
„Was soll ich tun?“, fragte Felicitas.
„Komm mit mir. Es gibt eine Schule, an der du lernen kannst, deine Fähigkeiten zu beherrschen.“
„Aber dann müsste ich meine Familie verlassen.“
Enapay sah sie an und erst jetzt fiel ihr auf, wie strahlend blau seine Augen waren. „Ja. Das ist der Preis für deine Gaben. Und die beste Möglichkeit, die Menschen, die du liebst, zu beschützen.“
„Das ist doch Unsinn!“ Plötzlich schrie Felicitas. Sie wusste selbst nicht, woher diese plötzliche Wut kam. „Es gibt keine Drachen und auch keine Wandler!“
Enapay sah sie lange an. „Ich werde es dir beweisen“, meinte er schließlich und sah sich neugierig in ihrem Zimmer um. „Was in diesem Zimmer ist dir besonders wichtig?“
Unbewusst sah sie auf das Foto, das auf ihrem Schreibtisch stand. Darauf waren Sandra und sie zu sehen, bei ihrem letzten Urlaub vor drei Jahren.
Enapay folgte ihrem Blick und lächelte. „Und jetzt schließe deine Augen“, wies er sie an. Felicitas tat, wie ihr geheißen.
„Strecke die Hand aus und versuchte, dir das Bild vorzustellen. Denke an jedes kleine Detail und ...“
Felicitas hörte schon längst nicht mehr zu. Zu sehr konzentrierte sie sich auf das Foto. Sandras Lächeln. Ihr orangefarbener Bikini. Das endlose, blaue Meer im Hintergrund, auf dem weiße Schaumkronen tanzten. Sie erinnerte sich an diesen Augenblick. Spürte wieder den salzigen Wind in ihrem Gesicht, die Wellen, die kühl ihre Füße umspülten.
Plötzlich spürte sie ein leichtes Gewicht auf ihrer Hand. Erstaunt öffnete sie die Augen – und starrte entsetzt auf das Foto in ihrer Hand. Dann wieder auf das eingerahmte Bild auf dem Schreibtisch.
„Ich habe dir gesagt, dass du Gegenstände erschaffen kannst.“ Enapays Mundwinkel zuckten verräterisch. „Glaubst du mir jetzt?“
Felicitas' Stimme zitterte wieder, als sie antwortete: „Ja, ich glaube Ihnen.“ Plötzlich begann sich ihre Umgebung aufzulösen und Felicitas stürzte in eine endlose Dunkelheit.
***
Als sie die Augen aufschlug, herrschte um sie herum Dunkelheit. Die Gardinen vor ihrem Fenster flatterten im lauen Wind und ein schneller Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass es zehn vor zwei Uhr in der Nacht war. Trotzdem knipste sie ihre Nachttischlampe an und sah sich im Zimmer um. Nichts bewegte sich. Niemand war hier. Dennoch ließ sie der seltsame Traum nicht mehr los.
Unbeabsichtigt fiel ihr Blick auf das Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Sie und Sandra vor drei Jahren. Felicitas schloss die Augen und versuchte, sich das Bild möglichst detailliert vorzustellen. Jede Einzelheit. Sandras orangefarbener Bikini, die einzelne, weiße Wolke und das unglaublich blaue Meer.
Beinahe hätte sie laut aufgeschrien, als sie auf einmal ein leichtes Gewicht auf ihrer ausgestreckten Hand spürte. Trotzdem war sie nicht wirklich überrascht, als sie die Augen wieder öffnete und erkannte, dass sie das Foto in der Hand hielt. Nein, nicht das Foto. Nur eine detailgetreue Kopie.
***
„Was siehst du?“ Der große, hagere Mann schritt ungeduldig auf und ab.
„Gar nichts, wenn Ihr nicht endlich still seid!“, fauchte die schwarzhaarige Frau und beugte sich erneut über die silberne Schale.
„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“ Der Mann holte mit der rechten Hand aus, doch die Frau duckte sich routiniert unter dem Schlag hindurch.
„Ich rede mit Euch, wie es mir gefällt, schließlich seid Ihr auf mich angewiesen und nicht andersherum, wenn ich mich richtig entsinne!“
Der Mann ballte die Hände zu Fäusten. Das Schlimme war ja, dass sie recht hatte.
Nur mühsam gelang es ihm, seine Wut zu unterdrücken und ruhig stehen zu bleiben. Er musterte die Frau, versuchte, in ihrem Gesicht irgendwelche Regungen zu entdecken, doch da war nichts. Es schien, als sei sie aus Wachs, still und bewegungslos, während ihre Augen starr auf das Wasser in der Schale gerichtet waren. Die schwarzen Haare fielen ihr lang und glatt über den Rücken.
Eigentlich war sie hübsch. Auf ihre Art. Doch der Mann hatte schon lange nichts mehr für Schönheit übrig.
„Sie hat ihre Kräfte genutzt.“ Die Stimme der Frau riss ihn aus seinen Gedanken. „Enapay war bei ihr.“
„Verdammt!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Er war mal wieder schneller als ich!“
„Er hat sie nur im Traum besucht, aber morgen Nacht wird er zurückkommen.“
Völlig entkräftet ließ der Mann sich auf einen rot gepolsterten Stuhl sinken. „Scheint so, als hätten sie etwas geahnt“, murmelte er. Lauter fuhr er fort: „Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit ...“
„Ihr wisst, dass Enapay die Schule mit einem Bannkreis umgeben hat, der Euch daran hindert, sie zu finden?“
„Natürlich weiß ich das.“
„Wie wollt Ihr dann ...“
Der Mann hob die Hand. „Lass das nur meine Sorge sein, Seherin.“
***
Fassungslos starrte Felicitas auf das Foto. Wie war das möglich? Sie konnte doch nicht wirklich eine ... Wandlerin sein? Das würde dann ja bedeuten, dass die beiden Träume in den letzten Nächten mehr als nur Träume gewesen waren – und dass sie tatsächlich gefährlich war. Aber das Ganze war doch vollkommen unmöglich! Wie konnte ein Mensch auf einmal die Gabe besitzen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen? Oder die Gefühle eines anderen zu spüren, als seien sie die eigenen?
Wieder und wieder blinzelte Felicitas und starrte dann erneut auf das Foto in ihrer Hand. Es war immer noch da.
Langsam ließ sie sich zurück auf das Bett sinken. Sie musste noch träumen. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Auf einmal überfiel sie wieder diese plötzliche Müdigkeit. Als hätte jemand alle Lebensfreude und Energie aus ihrem Körper gesogen und nur noch eine leere Hülle zurückgelassen. Ohne nachzudenken, schloss Felicitas die Augen und glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
„Felicitas!“ Irgendjemand rüttelte sie heftig an der Schulter. „Felicitas! Felicitas! Wach auf!“
Verschlafen öffnete Felicitas die Augen und sah geradewegs in Sandras besorgtes Gesicht.
„Was ist denn los?“, murmelte sie. „Wieder ein Date?“
Sandra antwortete nicht. Sie musterte ihre große Schwester nur prüfend, als wüsste sie ganz genau, dass irgendetwas nicht stimmte. „Du hast gestern den ganzen Tag geschlafen! Und jetzt immer noch! Ich habe wirklich gedacht ...“ Sie senkte den Blick und musterte konzentriert Felicitas' geblümte Bettdecke.
„Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“ Felicitas versuchte, überzeugter zu klingen, als sie sich fühlte. Sie warf einen schnellen Blick auf ihren Wecker und stellte entsetzt fest, dass es bereits Viertel nach eins war. Wie hatte sie nur so lange schlafen können?
Schlagartig fiel ihr Enapay wieder ein und das Foto. Unauffällig beugte sie sich ein wenig vor und suchte den Boden ab. Erleichterung durchflutete sie, als sie das Foto nirgendwo entdecken konnte.
„Suchst du etwas?“, wollte Sandra wissen.
„Ja ... ein Foto.“
„Das hier vielleicht?“ Ihre kleine Schwester stand auf und angelte das Bild vom Schreibtisch. „Es lag auf dem Boden, deswegen habe ich es hochgelegt.“
„Oh nein!“, murmelte Felicitas und starrte auf das Foto, das Sandra ihr entgegenstreckte. Ihr Blick huschte hinüber zum Schreibtisch. Das Original stand noch immer dort. „Es war kein Traum“, schoss es Felicitas durch den Kopf. „Das alles muss wirklich passiert sein ...“
„Ist wirklich alles in Ordnung?“ Sandra wirkte ernsthaft besorgt.
„Ja ... wie war es eigentlich mit Tom?“, bemühte Felicitas sich, das Thema zu wechseln.
Sandra ging darauf ein.
„Ach“, sie verdrehte die Augen, „du weißt doch, wie Jungs so sind. Ich war nicht gut genug für ihn.“
Trotz ihres abfälligen Tons entging Felicitas nicht, dass die Augen ihrer kleinen Schwester feucht wurden.
„Mach dir nichts draus. Irgendwann findest du bestimmt noch den Richtigen.“ Sie beugte sich vor, um Sandra in den Arm zu nehmen, doch als sie ihre kleine Schwester berührte, stürzte wieder eine Welle von Gefühlen auf sie ein. Trauer, Enttäuschung, Schmerz und Zorn. So großer Zorn. Verzweifelt schnappte Felicitas nach Luft und rollte sich auf die Seite, doch es half nichts. Ihr Kopf pochte, die Welt verschwamm vor ihren Augen, löste sich auf in eine Vielzahl bunter, tanzender Punkte.
Kämpfe dagegen an! Lass nicht zu, dass sie dich beherrschen! Die Stimme war plötzlich in ihrem Kopf, laut und klar. Konzentriere dich auf deine eigenen Gefühle!
Felicitas ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass es wehtat. Es sind nicht deine Gefühle! Es sind die von Sandra! Sie gehören nicht zu dir! Stumm wiederholte sie die Sätze. Krampfhaft versuchte sie, sich zu konzentrieren und gegen die Welle aus Gefühlen anzukämpfen, sie zurückzudrängen und zu ersticken.
Nicht wegspülen lassen ... Standhaft bleiben ... Die Stimme in ihrem Kopf war kaum noch zu hören über dem lauten, schmerzhaften Pochen, das jetzt alles andere dominierte.
Plötzlich drang ein schriller, schmerzerfüllter Schrei in ihr Bewusstsein und brachte sie wieder zur Besinnung. Die Gefühle verebbten und auf einmal war alles wieder wie immer. Nach Luft japsend richtete sie sich auf - und erstarrte.
„Sandra?“ Ihre Schwester lag reglos auf dem Boden. „Sandra!“
Felicitas kniete sich neben sie und streckte eine Hand aus, um sie an der Schulter zu rütteln, ließ es dann aber bleiben. Sandra murmelte etwas Unverständliches. „Sandra! Sandra!“, schrie Felicitas immer wieder. Was war los mit ihr? Hatte sie diese Gefühle etwa auch gespürt? Oder ... sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu denken.
„Felicitas!“, flüsterte Sandra plötzlich.
„Oh, Sandra! Bin ich froh, dass es dir gut geht! Alles okay?“ Sie hätte ihrer kleinen Schwester gerne dabei geholfen, sich aufzurichten, hatte aber Angst vor dem unvermeidlichen Körperkontakt.
„Was ist passiert?“, wollte Felicitas leise wissen.
„Ich ... ich weiß es nicht ...“, murmelte Sandra, „auf einmal war mir so schwindelig und ... dann habe ich keine Luft mehr bekommen ... ich hatte so furchtbare Schmerzen ...“
Felicitas starrte ihre Schwester nur an. Konnte es wirklich sein, dass sie, Felicitas, ihr diese Schmerzen zugefügt hatte? Konnte es sein, dass sie Sandra fast umgebracht hätte bei dem Versuch, die Gefühle ihrer Schwester zu bekämpfen?
„Enapay hatte recht“, hauchte Felicitas, „ich bin gefährlich.“
„Was hast du gesagt?“
„Nichts. Geht es dir wieder besser?“
„Ja ...“
„Vielleicht ist es besser, wenn du dich ein bisschen hinlegst. Ich glaube, die Aufregung gestern war ein bisschen viel für dich.“
Sandra nickte nur. „Du erzählst Mum doch nichts, oder? Sonst will sie noch, dass ich früher ins Bett gehe.“
Gegen ihren Willen musste Felicitas lächeln. „Ich erzähle ihr nichts. Versprochen.“
Sandra erwiderte müde ihr Lächeln, als sie das Zimmer verließ und Felicitas allein ließ. Allein mit ihren Gedanken. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett fallen.
Jetzt hatte sie den Beweis. Den Beweis dafür, dass sie gefährlich war, genau, wie Enapay es gesagt hatte.
Sie konnte Gegenstände aus dem Nichts erschaffen und Sandras Gefühle wahrnehmen. Und sie hatte ihre Schwester verletzt. Hatte ihr furchtbar wehgetan, als sie versucht hatte, ihre Gefühle aus ihrem Körper zu verdrängen.
Unwillkürlich musste sie an Enapay denken und an sein Angebot, in einer speziellen Schule zu lernen, ihre Fähigkeiten unter Kontrolle zu bekommen. Aber dafür würde sie ihre Familie verlassen müssen.
„Warum, verdammt noch mal?“ Auf einmal hielt sie es nicht mehr aus. „Was geht hier vor? Und warum ich?“ Felicitas kannte die Antworten nicht. Wahrscheinlich kannte sie keiner. Außer Enapay. Aber woher wollte sie wissen, dass er überhaupt existierte? Sie hatte ihn bisher nur in einem Traum getroffen.
„Enapay?“, brüllte Felicitas. „Enapay, falls Sie wirklich existieren, dann kommen Sie jetzt sofort hierher!“
Plötzlich öffnete sich ihre Tür. Für einen kurzen Augenblick dachte sie tatsächlich, es wäre Enapay, doch es war nur Sandra. „Kannst du bitte aufhören, so herumzuschreien? Ich versuche zu schlafen.“
„Ja ... natürlich. Tut mir leid.“ Felicitas konnte ihrer kleinen Schwester nicht in die Augen sehen.
„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, wollte Sandra besorgt wissen.
„Ganz sicher. Mach dir um mich keine Sorgen.“
Sandra sah ihre große Schwester lange an. Felicitas war noch nie gut im Lügen gewesen. Aber wenn sie nicht darüber reden wollte, hatte es keinen Sinn, weiter nachzufragen. Also schloss Sandra leise die Tür.
***
Felicitas schreckte hoch. Im Zimmer war es dunkel und still. Sie hörte nur das Ticken der Wanduhr. War sie etwa schon wieder eingeschlafen?
„Felicitas.“
Sie schrie erschrocken auf, als sie die dunkle Gestalt bemerkte, die nahe der Tür stand.
„Enapay“, sagte sie dann leise.
Seltsamerweise war sie nicht überrascht. Nein, vielmehr schien es, als hätte sie ihn schon erwartet. Als hätte sie schon seit Langem gewusst, dass er kommen würde.