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Das Tokahe-Spiel
ОглавлениеVielleicht war das, was ich getan habe, falsch. Aber sie muss ihr Schicksal annehmen. Um jeden Preis.
Nach der Pause stand Energielehre auf dem Stundenplan. Felicitas musterte den groß gewachsenen, braun gebrannten Mann abschätzend, der nun in der Mitte des Klassenzimmers stand und ihnen erklärte, er hieße Ouray und sei ihr Lehrer in Energie.
Er schien kaum älter zu sein als fünfundzwanzig, vielleicht sogar jünger. Seine kurzen, schwarzen Haare hatte er mit Gel aufgestellt und er trug ein weites, weißes Hemd, dazu eine ausgewaschene Jeans. Eigentlich machte er einen ganz netten Eindruck.
„Er sieht gut aus“, flüsterte Jessy etwas zu laut.
Ouray gab vor, es nicht zu hören. „Energie ist die Grundlage unserer Kräfte. Um Materie, Gefühle oder Träume zu manipulieren, brauchen wir Energie“, erklärte Ouray.
„Deswegen war ich immer so müde, nachdem ich Sandras Gefühle gespürt habe!“, schoss es Felicitas durch den Kopf.
„Es wird einige Zeit dauern, bis euer Körper sich an die Mengen von Energie gewöhnt haben wird, die wir jedes Mal bezahlen müssen, wenn wir unsere Kräfte gebrauchen.“ Er schwieg kurz. „Alles besteht aus Energie: die Luft, die wir atmen, andere Lebewesen und wir selbst.“ Er lächelte. „Ich möchte euch bitten, kurz die Augen zu schließen und euch zu konzentrieren. Auf euren Atem, auf den gleichmäßigen Rhythmus eures Herzens. Alles besteht aus Energie. Sie strömt durch euren Körper wie Blut, versorgt euch mit der Kraft, die ihr zum Leben braucht. Spürt ihr sie?“
„Nein“, antwortete Jessy resigniert.
„Dann versuch es“, wies Ouray sie an. Nun schloss auch Felicitas die Augen. Um sie herum wurde es still und bald hörte sie nur noch ihren eigenen, gleichmäßigen Atem. Sie versuchte, sich die Energie vorzustellen, die mit jedem Herzschlag durch ihren Körper gepumpt wurde. Die Kraft. Die Wärme. Doch da war nichts. Nur undurchdringliche Schwärze, die sie einhüllte und jedes Gefühl erstickte.
„Wir können unsere Energie nicht nur einsetzen, um die Drei Ebenen zu beherrschen“, erklärte Ouray schließlich, „sondern können sie auch zu einer Art Energieball formen. Dazu müsst ihr euch weiter konzentrieren. Spürt die Energie, die mit jedem Atemzug durch euren Körper pulsiert ... verschmelzt mit ihr.“ Einige Augenblicke lang war es still, bis Ouray weitersprach: „Streckt nun die Hände aus und versucht, eure Energie zu bündeln. Stellt euch vor, ihr könntet sie aus eurem Körper heraus in eure Hände fließen lassen ...“
Felicitas formte die Hände zu einer Schale und bemühte sich, sich zu konzentrieren. Sie spürte ihren eigenen Herzschlag, ruhig und regelmäßig. Poch poch. Poch poch. Poch poch.
„Sehr gut! Sehr gut!“ Ourays Stimme riss sie aus ihren Versuchen. Überrascht öffnete sie die Augen. In Ailinas geöffneten Händen schwebte eine leuchtende Kugel.
„Wow!“ Jessys Augen wurden groß. „Wie hast du das gemacht?“
Ailina antwortete nicht. Sie starrte nur auf die Kugel, als könne sie selbst nicht glauben, was sie sah.
„Ich ... ich weiß es nicht“, stammelte sie dann, ohne den Blick von dem Energieball zu wenden, der nun langsam kleiner wurde und in sich zusammenfiel. Erschöpft ließ Ailina die Arme sinken.
Wieder war es still im Klassenzimmer.
„Ich möchte die Stunde an dieser Stelle beenden“, erklärte Ouray und wandte sich in Richtung Tür, um zu gehen.
Jessy sah ihm nach. „Wie alt, meint ihr, ist er?“, wollte sie wissen.
„Wer?“ Ailina schreckte hoch.
„Na Ouray, wer denn sonst?“
„Zu alt für dich“, murmelte Ailina und sank auf ihrem Stuhl wieder in sich zusammen. Felicitas musterte sie besorgt.
Die Tage vergingen langsam und schleppend. Felicitas kam sich vor wie in einer Art Trance. Sie redete zwar mit den anderen, saß im Unterricht und bemühte sich, all das neue Wissen in sich aufzunehmen, doch sie nahm das alles nicht wirklich wahr.
Die Zeit verging unendlich langsam und zugleich so schnell, dass sie sich einer Stunde erst dann richtig bewusst wurde, wenn sie vorüber war. Fast jeden Abend nahm sie sich vor, noch in die Bibliothek zu gehen, aber nach dem Unterricht war sie jedes Mal so müde, dass sie wie ein Stein ins Bett fiel.
Sie übte und übte. Bald schon gelang es Felicitas, Energiebälle entstehen zu lassen und sich vor fremden Gefühlen zu schützen. Das Mädchen in dem weißen Kleid tauchte nicht mehr in ihren Träumen auf.
Felicitas starrte an die Zimmerdecke. Sie wusste nicht genau, wie viele Wochen vergangen waren. Vielleicht vier. Vielleicht fünf oder sogar sechs. Durch einen Spalt im Vorhang fiel helles Sonnenlicht und tanzte auf ihrer Bettdecke. Ailina saß am Schreibtisch und zeichnete, das Kratzen ihres Bleistifts auf dem Papier war das einzige Geräusch in der Stille. Felicitas wälzte sich auf die andere Seite.
Sie hatte sich noch nicht damit abgefunden, eine Wandlerin zu sein. Nicht wirklich. Doch das merkte sie nur morgens, wenn sie auf einmal allein war und es nichts mehr gab, was die Gedanken zurückhielt, die sie nachts verdrängte. Nachts verdrängte ...
Wie sehr sie sich schon daran gewöhnt hatte, jeden Abend aufzustehen und zu frühstücken. Zuzusehen, wie die Sonne unterging und es draußen dunkel wurde. War es nicht seltsam, wie schnell sich die Gewohnheiten eines Menschen ändern ließen?
Felicitas seufzte leise und drückte ihren Kopf in das Kissen. Wie sehr sie diese Stunden doch hasste! Diese Stunden, die sie noch vor wenigen Wochen so geliebt hatte. In denen sie am Fenster gesessen und auf die leere, stille Straße geschaut hatte. Irgendwann wurde Felicitas doch vom Schlaf übermannt und glitt in einen konfusen, wirren Traum.
***
„Wir kamen aus dem Land der Träume,
um den Weg zu weisen
in eine bessere Welt.“
Die Stimmen klangen leise, wie aus weiter Ferne.
„Die Schatten sind unsere Heimat,
der Tod unsere Zuflucht.
Fällt das Sonnenlicht der Menschen auf uns,
so ist dies unser Ende ...“
Die Worte verschmolzen zu einem fremdartigen Singsang, wurden mal lauter, mal leiser.
„Niemand darf von uns wissen,
von der Macht der Wandler.“
***
Felicitas schreckte hoch. Einige Augenblicke lang saß sie aufrecht im Bett und hörte nur das Pochen ihres Herzens und ihren eigenen keuchenden Atem. Sie warf einen schnellen Blick hinüber zu Ailinas Bett, auf dem ihre Freundin ruhig schlief, den bronzefarbenen Anhänger ihrer Kette mit einer Hand fest umschlossen.
Felicitas atmete langsam aus und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Sie schloss die Augen und war gerade dabei, zurück in den Schlaf zu sinken, als sie die Stimmen erneut vernahm. Lauter und deutlicher diesmal.
„Ich will für die Träume kämpfen,
für eine bessere Welt.
Denn das ist meine Aufgabe ...“
Die Worte an sich waren leise, kaum mehr als ein Flüstern, doch sie schienen von den Wänden zurückgeworfen zu werden, wurden lauter und lauter. Felicitas verkroch sich tiefer unter ihrer Bettdecke. Sie wusste nicht, ob sie sich die Stimmen nur einbildete oder tatsächlich hörte, aber es ging eine starke Faszination von ihnen aus.
„Bis unsere Mission vollendet ist
und wir zurückkehren
in das Land der Träume ...“
Die Worte verschmolzen ineinander, wurden zu verschlungenen Melodien, die fremd und zugleich vertraut klangen. Felicitas gab sich ihnen hin, spürte, wie sie von ihnen fortgetragen wurde und Dunkelheit sie umfing.
Lautes Pochen an der Tür schreckte Felicitas aus dem Schlaf.
„Ja?“, rief Ailina und richtete sich auf. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Augen noch klein und voller Schlaf.
Wieder klopfte es.
„Kommt so schnell wie möglich in den großen Saal“, rief jemand von draußen, dann klackerten Absätze auf dem steinernen Boden.
Felicitas erkannte die Stimme sofort.
„Wie spät ist es?“, fragte sie.
Ailina angelte sich ihr Handy. „Sieben.“
Einige Momente lang herrschte Schweigen.
„Was will Ituma von uns?“ Ailina sprach die Frage laut aus, die sie beide beschäftigte.
Felicitas zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht ...“
Felicitas wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber bestimmt nicht, dass die ganze Schule im großen Saal versammelt war und frühstückte, als wäre alles wie immer.
„Geht deine Uhr falsch?“, fragte sie Ailina, während sie sich einen Weg zum hintersten Tisch bahnten.
„Da seid ihr ja endlich! Wisst ihr, was hier los ist?“, überfiel Jessy sie sofort, nachdem sie Platz genommen hatten. Sie ließ Felicitas und Ailina gar keine Zeit, um zu antworten, sondern fuhr gleich fort: „Alle hier sind so angezogen, als ob ...“ Sie verstummte, als Enapay sich erhob. Felicitas fiel auf, dass der Meister ein festliches, schwarzes Gewand trug. Auf seiner Brust waren zwei gleich große Kreise aufgestickt, ein silberner und ein goldener. Der goldene verbarg den silbernen zur Hälfte und mehrere einzelne Fäden erstreckten sich von ihm aus über den Rest des Gewandes.
„Wie die Strahlen einer Sonne“, schoss es Felicitas durch den Kopf. Dann erst erkannte sie, dass der goldene Kreis anscheinend genau das darstellen sollte: eine Sonne. Mit dem silbernen Kreis dahinter wirkte es, als würde sie sich gerade vor den Mond schieben.
„Guten Abend.“ Enapay lächelte freundlich in die Runde. „Ich freue mich sehr, euch in dieser besonderen Nacht, der Nacht der Sommersonnenwende, zu begrüßen.“
„Sommersonnenwende also“, murmelte Jessy. „Das soll der Grund sein, weswegen wir nicht ausschlafen durften? Eine ziemlich miese Ausrede, wenn ihr mich fragt!“
„Darf ich um Ruhe bitten?“ Obwohl Enapay nicht laut sprach, füllte seine Stimme die gesamte Halle aus. Er wartete einige Augenblicke, bis er wieder die volle Aufmerksamkeit der Schüler genoss. Erst dann fuhr er fort. „Es ist mir eine Ehre, euch Pavati vorstellen zu dürfen.“
Enapay deutete mit einer eleganten Handbewegung auf eine junge, schwarzhaarige Frau, die ganz am Rand des Lehrertisches saß. Sie hatte den Kopf geneigt, sodass ihre Haare wie ein Vorhang ihr Gesicht verbargen. „Sie hat heute Nacht den heiligen Schwur abgelegt und ist dem Kreis der Lehrer beigetreten.“ Er neigte seinen Kopf vor der jungen Frau und Ituma begann, höflich zu klatschen. Schüler sowie weitere Lehrer stimmten mit ein.
„Zudem freue ich mich, heute Nacht wieder das Tokahe-Spiel zu leiten.“ Er wurde von dem Applaus einiger älterer Schüler und Lehrer unterbrochen und wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. „Ich fordere die jüngeren Schüler daher auf, nach dem Essen mit Ituma in ihr Klassenzimmer zu gehen, die älteren versammeln sich wie gewohnt im Hof.“
Ituma trug mehrere Gewänder über dem Arm, in der Hand hielt sie einige Ketten, an denen schwarze oder grüne Federn baumelten.
„Nehmt Platz“, bat sie, als sie das Klassenzimmer erreicht hatten. „Das Tokahe-Spiel ist seit jeher eine Tradition an unserer Schule. Zu Ehren von Etu veranstalten wir einmal im Jahr zur Sommersonnenwende eine Art Turnier. Dazu werden alle Schüler in insgesamt zwei Gruppen aufgeteilt und erhalten eine Fahne. Ihre Aufgabe ist es, an die Fahne der gegnerischen Gruppe heranzukommen. Dazu reicht es, wenn einer der eigenen Gruppe sie berührt. Gleichzeitig ist es wichtig, die eigene Fahne zu beschützen. Sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung sind alle Mittel erlaubt, man darf seine Gaben in allen drei Ebenen anwenden.“
„Ist ja krass!“ Alex' Augen leuchteten.
Ituma räusperte sich. „Natürlich gibt es gewisse Regeln. Ein Energieball darf die Größe von vier Zentimetern nicht überschreiten, sonst könnte er den Getroffenen ernsthaft verletzen. Greift man einen Kontrahenten auf Ebene Zwei an, reicht es, dessen Schutzschild zu durchbrechen, mehr ...“
„Aber wir haben noch gar nicht gelernt, wie man auf Ebene Zwei angreift“, warf July ein.
„Das macht nichts.“ Ituma machte eine abwertende Handbewegung.
„Aber dann können wir ...“, begann Jessy, wurde aber von Ituma unterbrochen.
„Lasst mich bitte erst zu Ende erklären, bevor ihr Fragen stellt.“ Sie schien kurz zu überlegen, wo sie stehen geblieben war, bevor sie fortfuhr: „Und auch in Ebene Eins gibt es Grenzen. Es ist verboten, spitze Gegenstände zu erschaffen, die dem Gegner wirklich gefährlich werden könnten. Wird eine dieser Regeln verletzt, scheidet der Betroffene aus dem Spiel aus.“ Sie schwieg kurz, um ihren Worten eine größere Wirkung zu verleihen. „Was das Spiel zusätzlich erschwert, ist das hier“, erklärte sie schließlich weiter und hob die Federn hoch. „Jeder von euch erhält eine Kette mit einer Feder in jeweils einer Farbe – entweder grün oder schwarz. Diese Farbe bestimmt, in welcher Gruppe ihr seid. Gelingt es einem Schüler aus der gegnerischen Gruppe, euch während des Spiels die Feder von der Kette zu reißen, scheidet ihr ebenfalls aus. Noch Fragen?“
„Ja“, antwortete Leo sofort, „wir haben weder gelernt, Gegenstände zu erschaffen noch auf Ebene Zwei anzugreifen. Wie sollen wir uns und die Fahne dann verteidigen?“
„Jeder kämpft mit dem Wissen und dem Können, das er bereits erlangt hat. Es ist die Aufgabe der älteren Schüler, die Gruppen zu organisieren und dafür zu sorgen, dass die Kräfteverhältnisse gut verteilt sind. Ich weiß, dass es euch ungerecht erscheinen mag, aber ihr müsst es als Übung betrachten. Als Übung, eure Kräfte einzusetzen wie in einem echten Kampf, als Übung, eine Aufgabe im Team zu bewältigen. Und ihr werdet sehen: Mit jedem Jahr lernt ihr mehr dazu, mit jedem Jahr werdet ihr stärker ...
Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Gespielt wird draußen, in einem Teil des Waldes. Enapay hat einen Bann um das Spielfeld gelegt, der es für die Menschen unauffindbar macht. Wir Lehrer werden am Rand des Feldes stehen und darauf achten, dass keiner von euch den Bannkreis verlässt und dass alles mit rechten Dingen zugeht.“ Sie lächelte ihr übertriebenes Lächeln. „Gibt es sonst noch irgendwelche Fragen?“
Als keiner der Schüler Anstalten machte, etwas zu sagen, trat sie in den Stuhlkreis und reichte als erstes July ein schwarzes Gewand, auf dem ebenfalls eine Sonne und ein Mond aufgestickt waren, dünne Handschuhe und eine Kette mit einer grünen Feder.
„Muss ich das wirklich anziehen?“, fragte July verzweifelt, hielt das Gewand vor sich und betrachtete es von allen Seiten.
„Ja“, antwortete Ituma knapp. „Aufgrund einer Abmachung mit Hakan sind wir verpflichtet, diese Gewänder zu tragen, sobald wir die Schule verlassen.“
Als sie hinaus in den Hof traten, wurden sie von den älteren Schülern bereits erwartet. Immer wieder zupfte Felicitas an ihrem Gewand herum, das fast bis auf den Boden reichte und sie von Kopf bis Fuß verhüllte. Es war unbequem und sie bekam darin kaum Luft, da es nur einen schmalen Spalt für die Augen freiließ.
„Alle mit grünen Federn bitte zu mir!“, rief eine junge, dunkelhaarige Frau und winkte mit einer grünen Fahne. Felicitas, July, Simon und Christiane eilten auf ihre Gruppe zu.
Der Name der Dunkelhaarigen war Anne und sie machte es sich zur Aufgabe, ihre Gruppe zu organisieren. Felicitas und die insgesamt dreiundzwanzig anderen Schüler folgten ihr durch den Wald, bis sie einen geeigneten Platz gefunden hatten, um ihre Fahne aufzustellen. Ein blonder, großer Junge, etwa zwei Jahre älter als Felicitas, hatte die kleine Senke als Erster entdeckt und der Rest der Gruppe, allen voran Anne, war begeistert.
„Wir stellen einen Ring aus Schülern dort oben auf“, verkündete Anne und deutete auf den Rand der Senke, „und noch einmal ein paar hier unten. Der Rest unserer Gruppe verstreut sich erst einmal im Wald und sucht nach der Fahne der anderen.“ Sie überlegte kurz und ließ ihren Blick über ihre Teammitglieder wandern. „Josh und Magdalena“, wandte sie sich schließlich an zwei ältere Schüler, „ihr koordiniert den äußeren Ring. Nina, du kümmerst dich um die Verteidigung innerhalb der Senke. Ich leite den Angriff.“ Die von ihr angesprochenen Schüler nickten.
„Okay.“ Der blonde Junge, anscheinend Josh, trat vor. „Wir brauchen Freiwillige für den äußeren Ring.“
Einige Gruppenmitglieder meldeten sich und Josh schickte sie zu einem großen Mädchen mit kurzen, blonden Haaren, bei dem es sich um Magdalena handeln musste. „Wir können auch noch ein paar von den Jüngeren nehmen“, verkündete er.
Felicitas wechselte einen hilflosen Blick mit July. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte und in diesem furchtbaren Gewand war ihr total warm.
„Ihr beide“, entschied Josh schließlich und deutete auf Felicitas und Simon, „ihr kommt noch zu uns.“
Felicitas und die anderen ließen sich von Magdalena und Josh zum Rand der Senke führen. Dort wiesen diese ihnen Positionen zu. Felicitas wurde zwischen zwei ältere Schüler gestellt, die den Auftrag erhielten, ihr wenn nötig zu Hilfe zu eilen. Dann wurde sie auf ihrem Platz allein gelassen, und als Josh und die anderen weiter am Rand der Senke entlanggingen, hörte sie plötzlich das Zwitschern der Vögel und das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz. Die Sonne stand knapp über dem Horizont, tauchte den Waldboden aber noch immer in ein goldenes Licht.
„Wie lange ich wohl schon nicht mehr bei Tageslicht draußen war?“, wunderte Felicitas sich.
Für einen kurzen Augenblick genoss sie einfach nur das helle Sonnenlicht und die Geräusche des Waldes um sich herum, doch dann wurde ihr wieder bewusst, warum sie hier war und eine Welle aus Angst und Aufregung erfasste sie. Gerne hätte sie die beiden älteren Schüler neben sich noch etwas über dieses Tokahe-Spiel ausgefragt, doch sie hatte keine Gelegenheit dazu, da plötzlich Enapays Stimme unnatürlich laut durch den Wald schallte.
„Das Spiel beginnt!“
Augenblicklich verteilten sich Anne und ihr Teil der Gruppe im Wald. Felicitas sah sich um und entdeckte Christiane, die einige Meter entfernt stehen geblieben war und nicht zu wissen schien, was sie machen sollte. Dann drehte sie sich um und rannte tiefer in den Wald hinein.
Es folgte eine unnatürliche Stille.
Unruhig wanderte Felicitas' Blick durch den Wald. Die Bäume standen eng beieinander und die Dämmerung hatte sich bereits knapp über dem Waldboden eingenistet. Sie glaubte, einen schwarzen Umhang zu sehen und zuckte zusammen, erkannte dann jedoch Mingan, der in einigen Metern Abstand zwischen den Bäumen stand.
„Er überwacht uns“, schoss es Felicitas durch den Kopf, „damit niemandem etwas passiert.“
Dennoch zitterte sie vor Anspannung. War dieses Spiel wirklich so gefährlich? Was würde sie tun, wenn die andere Gruppe ihre Fahne fand? Sie zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen. Es war nur ein Spiel.
„Hier drüben!“, rief jemand, ganz in der Nähe.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte Felicitas in den Wald. Es dauerte einige Momente, bis sie die Gestalten ausmachte, die zwischen den Bäumen auf sie zukamen. Sie trugen alle dasselbe lange Gewand wie sie und Felicitas musste sie nicht genauer sehen, um zu wissen, dass sie schwarze Federn um ihre Hälse trugen.
„Was soll ich denn jetzt tun?“, fragte sie, bemüht, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.
„Die Fahne verteidigen“, antwortete ein Mädchen neben ihr, „und deine Feder.“ Felicitas bekam den Rest des Satzes gar nicht mehr mit, da sie plötzlich heftiger Schmerz durchzuckte. Sie schrie auf und krümmte sich vornüber.
„Ruhig!“ Das Mädchen warf einen prüfenden Blick in den Wald, bevor sie ihren Posten verließ und näher an Felicitas herantrat. „Es ist nicht dein Gefühl! Konzentriere dich auf deine eigenen Gefühle!“
Ihre Stimme klang gedämpft, als würde sie durch Watte an Felicitas' Ohr dringen.
Konzentriere dich auf deine eigenen Gefühle ...
Felicitas schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. Ihre eigenen Gefühle ... Da waren Panik, Angst, Aufregung. Sie bemühte sich, sich nur auf ihre eigenen Gefühle zu konzentrieren, genauso, wie sie es bei Amitola gelernt hatten, und merkte, dass der Schmerz abebbte. Einige Sekundenbruchteile lang hielt sie die Augen noch geschlossen und traute sich nicht, sie zu öffnen, aus Angst, er würde zurückkehren.
„Pass auf!“, schrie das Mädchen neben ihr auf einmal.
Felicitas riss die Augen auf und sprang zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um einem Energieball auszuweichen. Eine Person aus der gegnerischen Gruppe – aufgrund des Gewandes konnte Felicitas nicht einmal erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte – rannte auf sie zu. Am liebsten hätte Felicitas sich umgedreht und wäre weggerannt. Es war doch nur ein Spiel, oder? Ein Spiel, bei dem sie sowieso keine Chance hatte, ein Spiel, das nur in unnötigen Verletzungen enden würde. Sie könnte weglaufen oder sich die Feder abreißen lassen, dann müsste sie nicht hier stehen und eine dämliche, grüne Fahne verteidigen, als wäre sie ein wertvoller Schatz.
Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr und anstatt wegzulaufen, stellte sie sich ihrem Gegner in den Weg. Sie wusste selbst nicht, warum sie es tat, aber das war ihr auf einmal egal.
***
Mingan beobachtete die Kämpfenden. Sein Blick fiel auf Felicitas. Er erkannte sie sofort, trotz des langen Gewandes, und er konnte nicht leugnen, dass er neugierig war. Neugierig, wie sie sich schlagen würde, neugierig, wie lange sie durchhalten würde. Eigentlich wusste er, dass die Schüler im ersten Jahr kaum eine Chance hatten, aber er wusste auch, dass Felicitas ein besonderes Talent besaß. Schweigend beobachtete er, wie ein Schüler nach dem anderen die Hände hob und seine Feder durch die Luft schwenkend in Richtung der Schule lief, als Zeichen dafür, dass er ausgeschieden war. Der Ring am Rand der Senke wurde immer durchlässiger, je mehr Gruppenmitglieder ihre Feder verloren, und immer mehr Schülern aus der gegnerischen Gruppe gelang es, in die Senke vorzudringen.
Felicitas hielt sich erstaunlich lange. Mingan konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Dafür, dass sie erst knapp einen Monat an der Schule war, verstand sie sich schon sehr gut darauf, Energiebälle zu erzeugen, und anscheinend konnte sie sich auch gegen Angriffe auf Ebene Zwei ganz gut verteidigen.
***
Felicitas warf sich auf den Boden, um einem Energieball auszuweichen. Sie hatte gesehen, wie das Mädchen neben ihr von einem getroffen worden und für einige Augenblicke unfähig gewesen war, sich zu verteidigen. Ihr Gegner hatte ihr die Feder von der Kette gerissen, bevor sie sich erholen konnte.
Jetzt war ein leerer Platz neben ihr und schon seit einer ganzen Weile kämpfte Felicitas nicht mehr darum, alle Mitglieder der gegnerischen Gruppe daran zu hindern, in die Senke zu kommen, vielmehr versuchte sie, selbst so lange wie möglich im Spiel zu bleiben. Und es ihren anderen Gruppenmitgliedern etwas leichter zu machen, indem sie so vielen Gegnern wie möglich die Federn abriss.
Ein weiterer Energieball schoss auf sie zu und Felicitas wälzte sich zur Seite. Sie versuchte ihrerseits einen Energieball entstehen zu lassen, doch sie war zu erschöpft, um ihre Energie zu bündeln. Hastig sah sie sich nach einer anderen Möglichkeit um, ihrem Kontrahenten etwas entgegenzusetzen, und streckte sich kurzerhand nach einem langen Ast, der nicht weit von ihr entfernt lag. Es dauerte einige Herzschläge, bis es ihr gelang, sich auf die Beine zu kämpfen. Dann stand sie kurz einfach nur da und beobachtete mit einer Mischung aus Angst und Faszination, wie sich in den Händen ihres Gegners ein mindestens genauso langer Ast materialisierte. Zuerst konnte sie nur durchsichtigen Nebel erkennen, der sich langsam zusammenballte und immer dichter wurde.
Es war das eine, im Unterricht zu erfahren, dass Wandler die Kräfte besaßen, Materie zu bündeln und so Gegenstände zu erschaffen. Doch etwas anderes war es, diese Fähigkeit angewendet zu sehen, direkt vor ihren Augen.
Staunend beobachtete sie, wie der Ast Gestalt annahm. Es waren nur wenige Sekunden, in denen sie abgelenkt war, doch es reichte für ein anderes Mitglied der gegnerischen Gruppe, ihr von hinten die Feder von der Kette zu reißen. Gerade als Felicitas sich auf den Weg zurück zur Schule machen wollte, hörte sie Mingans Stimme.
„Die schwarze Gruppe gewinnt!“
Überall um sie herum brach Jubel aus. Als Felicitas sich umdrehte, sah sie, dass sich ihre Fahne im Besitz der feindlichen Gruppe befand und als Zeichen des Sieges von einer Hand in die nächste wanderte. „Vorbei“, schoss es ihr durch den Kopf, als sie ihren Mitschülern schließlich in die Richtung des kleinen Schlosses folgte. Ihre Knie zitterten und drohten unter ihrem Gewicht nachzugeben und sie hatte Angst, jeden Moment zusammenzubrechen.
„Das ist der Preis“, dachte sie bitter, „für meine Fähigkeiten, die ich in diesem Spiel angewendet habe.“