Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 21
Das weiße Mädchen
ОглавлениеAls sie am hellsten leuchtete, ging die Sonne unter. Es war kein ehrenvoller Abgang – vielmehr stürzte sie einfach vom Himmel und ich habe zugesehen und noch nicht einmal versucht, sie aufzufangen. Seitdem herrscht ewige Dunkelheit. Aber gerade dann, als ich es am wenigsten erwartete, riss die Wolkendecke auf und offenbarte den Stern. Den einen Stern, der heller leuchtet als alle anderen ringsherum.
„Felicitas!“
Der Ruf schien aus weiter Ferne zu kommen. Verwirrt öffnete Felicitas die Augen. Sie lag auf einer Wiese, über ihr der blaue Himmel.
„Felicitas!“
Sie richtete sich auf. Ihr Blick streifte die bunten Blumen, den kleinen Bach, den Waldrand, ohne dass sie das alles wirklich wahrnahm. Mit schlafwandlerischer Sicherheit setzte sie einen Fuß vor den anderen, steuerte auf das Ufer des Baches zu. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie den Weg. Er verlief quer über die Wiese, schien ihr zu folgen und war mit kleinen Steinchen ausgelegt. War er vorher auch schon dort gewesen? Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts. Weder, wie sie hierher gelangt war, noch, was sie hier tat. Doch sie spürte, dass das alles nicht wichtig war.
„Felicitas!“
Das kleine Mädchen kniete am Ufer, hatte eine Hand in den Bach getaucht und ließ das klare Wasser durch seine Finger fließen. Es war ganz in Weiß gekleidet und lachte leise. Ein einziger, glockenheller Ton, der die Luft um sie herum in Schwingung versetzte.
„Wer bist du?“, fragte Felicitas.
Das Mädchen hatte ihr noch immer den Rücken zugewandt, als es sprach.
„Ich bin gekommen, um dir den richtigen Weg zu zeigen.“
„Welchen Weg?“
„Er wurde dir vorherbestimmt, schon vor endlosen Zeiten. Du weißt das. Er ist deine Bestimmung.“ Die Stimme des Mädchens war leise und melodisch. Es klang fast, als würde es singen. „Wehre dich nicht dagegen.“
Mit Leichtigkeit sprang es über den kleinen Bach und rannte dann über die Wiese. Von Weitem sah es aus, als würde es schweben.
„Warte!“, rief Felicitas. Ihre laute Stimme hörte sich rau und falsch an in dieser Umgebung. „Komm zurück!“
***
Sie riss die Augen auf und fuhr hoch. Durch die beiden kleinen Fenster drangen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die den kleinen Raum in ein überirdisches, orangefarbenes Licht tauchten. Für wenige Augenblicke wusste Felicitas nicht, wo sie war, dann fiel ihr Blick auf ihre Mitschüler. Sie lagen in den großen, gelben Sitzsäcken und schliefen alle tief und fest. Felicitas beobachtete sie eine Weile.
Ailinas Kopf war gegen die Wand gesunken und es sah aus, als würde sie jeden Moment seitlich auf den Boden rutschen. Jessy murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, während Christiane leise wimmerte. Felicitas' Blick wanderte weiter und blieb schließlich an Simon hängen. Dem ruhigen, unauffälligen Simon, der jetzt friedlich lächelte. Was war passiert?
Felicitas erinnerte sich nur noch daran, gelacht zu haben. Gelacht, bis sie keine Luft mehr bekommen und ihr alles wehgetan hatte.
Plötzlich ging irgendwo im Raum Musik an. Erst war sie leise, dann schwoll die Lautstärke immer mehr an. Felicitas' Mitschüler begannen sich zu regen.
„Jetzt stell doch mal jemand den verdammten Wecker aus!“, schrie Alex, ließ sich auf den Boden fallen und vergrub den Kopf unter dem Kissen.
„Wie spät ist es denn?“, murmelte Jessy und blinzelte verschlafen, während July fahrig in ihrer Hosentasche nach dem Handy suchte.
Als sie es endlich fand, wurde es wieder still im Zimmer. Felicitas sah auf ihre Uhr. „Halb neun“, beantwortete sie Jessys Frage. Sie konnte nicht umhin, hinzuzufügen: „Wusstest du eigentlich, dass du im Schlaf redest?“
„Jetzt fang nicht wieder damit an, Andy!“, stöhnte Jessy noch halb im Schlaf.
„Wer ist Andy?“, wollte July wissen und sah Jessy über ihren kleinen Spiegel hinweg neugierig an.
Jetzt riss Jessy die Augen ganz auf und schaute sich gehetzt um. Dann sank sie zurück in ihr Kissen. „Mein kleiner Bruder“, sagte sie.
„Wieso müssen Blondinen immer so früh aufstehen?“, fragte Leo. Sogar er klang müde.
„Weil sie sich noch schminken müssen“, erklärte July, bevor sie aufstand. „Also Leute, wir sehen uns beim Frühstück!“ In der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Nicht wieder einschlafen!“, mahnte sie und warf eine Kusshand in den Raum, bevor sie endgültig aus dem Zimmer rauschte.
„Weil sie so lange brauchen, um den Weg ins Bad zu finden“, antwortete Leo auf seine eigene Frage.
Als Felicitas und Ailina sich umgezogen und geduscht hatten, eilten sie durch die verlassenen Gänge und Korridore des Schlosses. Obwohl Felicitas versuchte, den seltsamen Traum aus ihren Gedanken zu verbannen, wollte es ihr nicht gelingen. Immer wieder sah sie das kleine Mädchen vor ihrem geistigen Auge, hörte seine Worte: Ich bin gekommen, um dir den richtigen Weg zu zeigen. Sie fragte sich, was das zu bedeuten hatte, als sie plötzlich wieder an ihr Gespräch mit Meda in der Bibliothek denken musste. Die Alte hatte irgendetwas gesagt von Licht und Schatten und von Onida.
„Alles okay?“, fragte Ailina auf einmal vorsichtig.
„Ja!“ Felicitas nickte ein wenig zu heftig. „Was ... was sollte denn nicht okay sein?“ Ailina zuckte nur mit den Schultern. Felicitas spürte, wie ihre Freundin sie von der Seite her prüfend musterte, und war sich sicher, dass Ailina ihr diese Antwort nicht glaubte. Aber sie fragte nicht weiter nach, wofür Felicitas sehr dankbar war.
Nach dem Essen hatten sie Kampf. Als die Schüler das Klassenzimmer betraten, wartete Mingan bereits. Er schwieg, bis sie ihre Plätze eingenommen hatten, dann nickte er ihnen freundlich zu. „Guten Abend. Ich hoffe, ihr hattet einen angenehmen Schlaf?“
„Mehr oder weniger“, murmelte Alex.
„Da wir heute gleich die ersten zwei Stunden haben, dachte ich, wir könnten mit den Grundtechniken im Schwertkampf beginnen.“
Felicitas unterdrückte ein Stöhnen. Schwertkampf! Ausgerechnet heute! Dabei tat ihr doch alles weh!
Aber als sie zusammen mit ihren Mitschülern Mingan durch die Korridore des Schlosses folgte, spürte sie doch, wie Aufregung in ihr aufkeimte. Mit den Fingerspitzen fuhr sie an den kalten, rauen Wänden entlang, betrachtete die fremdartigen Symbole und war doch mit ihren Gedanken ganz woanders.
Wie es sich wohl anfühlte, ein richtiges Schwert in den Händen zu halten? Sie schämte sich für ihre Neugierde, denn der Gedanke, dass sie eigentlich zu Hause sein sollte, anstatt hier all die unglaublichen Dinge zu lernen, hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt und ließ sie nicht mehr los. Bestimmt machte ihre Familie sich furchtbare Sorgen um sie ...
Sie traten hinaus in den kleinen Hof. Tief atmete Felicitas die lauwarme Nachtluft ein und genoss den Wind, der ihr übers Gesicht strich. Mingan schaltete eine kleine Lampe an, die an der Wand angebracht war und das erste Drittel des Hofes in ihr kaltes, weißes Licht tauchte. Doch die hohen Mauern auf der anderen Seite blieben im Schatten. „Wartet bitte kurz hier.“ Mingan verschwand noch einmal im Inneren des Schlosses.
„Hätte er gesagt, dass wir heute mit Schwertern kämpfen, hätte ich mir etwas anderes angezogen“, bemerkte July auf einmal bekümmert.
„Also wenn das mein einziges Problem wäre, wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden“, verkündete Jessy.
„Ich achte halt etwas mehr auf mein Äußeres als du!“, konterte July und musterte Jessy herablassend. Ihre einfache, dunkelblaue Jeans, das grüne T-Shirt und ihre wilde rote Mähne, die sie in einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, bedachte July mit einem fassungslosen Kopfschütteln.
„Immerhin ...“, setzte Jessy an, als Mingan wieder in den Hof hinaustrat. In seinen Armen trug er mehrere lange, glatt geschliffene Stecken.
„Äste?“, fragte Alex fassungslos. „Aber ich dachte, wir lernen Schwertkampf!“
„Es wäre zu gefährlich, sofort mit richtigen Waffen zu trainieren. Außerdem sind das keine Äste, sondern Stecken“, antwortete Mingan ruhig und legte die behelfsmäßigen Waffen vor sich auf den Boden. „Sie sind unterschiedlich lang und schwer, so wie richtige Schwerter auch“, erklärte er dann. „Ihr habt jetzt erst mal ein wenig Zeit, die einzelnen Stecken durchzuprobieren und euch dann den rauszusuchen, der euch am besten in der Hand liegt.“
Er trat mehrere Schritte zurück, als wolle er die Schüler auffordern, sich eine der provisorischen Übungswaffen auszusuchen.
Jessy und Alex waren die Ersten, die sich den langen Stecken näherten, dann erst folgte der Rest der Klasse. Felicitas stürzte sich ins Gedränge und angelte sich einen etwa armlangen, dünnen Ast. Bedacht darauf, keinen ihrer Mitschüler damit zu verletzen, kämpfte sie sich zurück, bis sie weit genug von den anderen entfernt war. Dann fuhr sie probehalber mit dem Ast durch die Luft. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass es sich dabei um ein richtiges Schwert handelte.
„Ob ich wohl töten muss?“ Der Gedanke war ganz plötzlich da, als der Stecken die Luft durchschnitt, wieder und wieder. In Filmen hatte sie schon oft Menschen mit Schwertern kämpfen – und töten – gesehen. Dort hatte alles immer so einfach ausgesehen ...
Plötzlich hielt Felicitas inne. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie Mingan. Er lehnte an der Mauer, sein schwarzer Umhang verhüllte fast gänzlich seinen Körper. Aber seine hellen, blauen Augen fixierten Felicitas und auf einmal überkam sie ein seltsames Gefühl. Der dunkle Hof um sie herum, ihre Mitschüler, die mit ihren Ästen in der Luft herumwedelten, Mingan, der dort an der Mauer lehnte, reglos wie eine Statue, und sie selbst, inmitten dieser fremden Welt. Wieder wurde ihr bewusst, wie unwirklich das alles hier doch war. Ein Traum. Es musste ein Traum sein. Und doch wusste sie, dass es mehr war als nur das. Es war ein anderes Leben, aber bestimmt nicht ihres.
Sie wich Mingans stechendem Blick aus, betrachtete die wenigen beleuchteten Fenster in der ansonsten dunklen Fassade des Schlosses.
„Sie beobachten mich!“, dachte sie. „Es sind Augen ...“
Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf. Was war nur los mit ihr?
„Stellt euch bitte hier vorne auf, sodass ich euch alle sehen kann!“ Mingans Stimme zerschnitt die nächtliche Stille wie ein Messer. „Aber achtet darauf, dass ihr genug Abstand von euren Mitschülern haltet, wir wollen schließlich keine Verletzten!“
Felicitas suchte nach Ailina und Jessy und entdeckte die beiden schließlich einige Meter entfernt in der Nähe von Mingan. Ailina lächelte, als sie sich zu ihnen gesellte und Jessy brachte nur ein „Ist das nicht alles total cool!“ zustande, bevor Mingan sie mit einem Blick zum Schweigen brachte.
„Es gibt verschiedene Arten von Schwertern, genau, wie es verschiedene Arten von Menschen gibt “, begann er zu erklären. „Sie unterscheiden sich im Gewicht, in der Länge oder in der Breite der Klinge ...“ Noch eine ganze Weile erklärte Mingan.
Schließlich nahm er sich ebenfalls einen Ast. „Genug der Theorie“, verkündete er endlich. „Ihr sollt schließlich auch lernen, aktiv mit einem Schwert umzugehen.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr.
„Achtet zuerst auf die richtige Stellung. Macht einen Ausfallschritt nach vorne und geht am besten ein wenig in die Knie, so könnt ihr die Hiebe eures Gegners leichter abfedern und seid beweglicher.“
Felicitas versuchte sich darauf zu konzentrieren, die Stellung ihres Lehrers nachzuahmen. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und wedelte dazu ein wenig mit ihrem Stecken durch die Luft.
„Nicht schlecht ...“ Mingan ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen. „Ihr scheint es alle richtig zu machen.“ Er erklärte seinen Schülern, wie sie ein Schwert zu halten hatten, und zeigte ihnen erste Angriffstechniken.
„Es gibt bestimmte Grundtechniken, die ihr beherrschen müsst.“ Obwohl Mingan nicht laut sprach, erfüllte seine Stimme den ganzen Hof. „Aber natürlich achtet in einem richtigen Kampf keiner darauf, ob ihr die Schrittfolgen einhaltet oder ob ihr die Figur zu Ende führt. Nein, was ihr wirklich lernen müsst, ist, mit eurem Schwert zu verschmelzen. Es als einen Teil von euch zu betrachten und instinktiv zu handeln.“ Er blieb vor Felicitas stehen. „Denn in Duellen ... geht alles ganz schnell.“
Plötzlich fuhr er herum und benutzte seinen Stecken als Waffe. Ehe Felicitas sich versah, raste die behelfsmäßige Klinge auf sie zu und es gelang ihr nur geradeso, zur Seite zu springen.
„Was?!“, keuchte sie überrascht, als Mingan sie auch schon von der anderen Seite angriff.
Instinktiv handeln ...
Felicitas sprang zur Seite.
Angreifen ...
Felicitas wirbelte herum, die Finger so fest um den Stecken verkrampft, dass es schmerzte. Ihr Arm zitterte bereits vor Anstrengung und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut loszuschluchzen. Mit einem dumpfen Knacken trafen die Stecken aufeinander. Dann ging alles blitzschnell. Felicitas wusste nicht genau, was sie tat. Wie in Trance bewegte sie sich, wich Mingans Attacken aus, immer wieder.
Ihr Arm war inzwischen taub geworden und ihre Knie zitterten und konnten ihr Gewicht kaum noch tragen. Sie sprang nach hinten, um noch einem Angriff ihres Lehrers auszuweichen, als sie plötzlich über ihre eigenen Füße stolperte und sich rücklings im Gras wiederfand.
Mingan kniete sich neben sie und legte ihr seinen Stecken an den Hals, als wäre er ein richtiges Schwert. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Mingans schmaler Mund verzog sich zu einem Lächeln. Dann richtete er sich auf und hielt Felicitas die Hand hin, um ihr ebenfalls aufzuhelfen. Mit einer erstaunlichen Kraft zog der alte Mann sie auf die Beine.
Felicitas keuchte und stützte sich auf den Knien ab.
Ihre Klassenkameraden klatschten anerkennend.
„Für euch mag es ein Spiel sein“, sagte Mingan auf einmal ernst, „aber das ist es nicht. Ihr seid nicht mehr in eurer Welt. Ihr seid jetzt Wandler. Und ein Schwert ist kein Spielzeug. Es ist eine Waffe. Dessen müsst ihr euch bewusst werden.“ Dann nickte er seinen Schülern zu. „Ich glaube, es reicht für heute. Legt die Stecken wieder zu einem Haufen zusammen und seid bitte pünktlich um zwei Uhr wieder in eurem Klassenzimmer.“
Dann war es still im Hof.
„Ist alles okay?“, fragte Ailina Felicitas leise.
Felicitas nickte langsam. Ihre Arme fühlten sich an wie aus Blei und ihre Knie zitterten.
„Du warst nicht schlecht.“ Mingans Hand legte sich auf ihre Schulter. Unwillkürlich zuckte Felicitas vor der Berührung zurück, aber auch diesmal spürte sie keine fremden Gefühle. Nur ihr eigenes Herz, das lautstark in ihrer Brust pochte und drohte, sie zu zersprengen.
„Du reagierst schnell und instinktiv. Mit ein wenig Übung könnte aus dir durchaus eine gute Schwertkämpferin werden.“
Felicitas zwang sich zu einem Lächeln. „Danke“, brachte sie hervor.
„Geht jetzt und ruht euch ein wenig aus“, riet Mingan Ailina und Felicitas.
Felicitas nickte. Sie legte ihren Stecken auf den kleinen Stapel und hielt dann auf die Tür zu. Ihre Klassenkameraden waren alle schon wieder im Schloss.
In der nächsten Unterrichtsstunde hatten sie Traum. Die Frau, die sich als ihre Lehrerin vorstellte, war ziemlich klein, trug eine Brille mit dicken Rändern und eine viel zu bunte Bluse, die sie fast krankhaft blass wirken ließ.
„Ach, ist das herrlich, so viele junge Gesichter zu sehen! Erst einmal: Herzlich willkommen an unserer Schule! Mein Name ist Angeni und ich freue mich, euch in dem Fach Traum unterrichten zu dürfen.“ In ihrer Stimme schwang ehrliche Begeisterung mit, wofür sie sich einige schräge Blicke einhandelte.
„Die ist ja noch schlimmer als Amitola!“, hauchte Jessy kaum hörbar. Es dauerte einige Minuten, bis Angeni jedem der Schüler den richtigen Namen zuordnen konnte, doch schließlich begann sie mit dem Unterricht.
„Als Erstes möchte ich von euch wissen, was euch zum Thema Träume einfällt.“ Ihr Blick wanderte auffordernd durch die Runde.
„Träume sind Produktionen des menschlichen Unterbewusstseins“, erklärte Alex im Brustton der Überzeugung.
Angeni lächelte. „Sicher“, antwortete sie, „aber sie sind mehr als nur das, findet ihr nicht auch?“
Unwillkürlich musste Felicitas an das Mädchen in dem weißen Kleid denken.
„Träume sind andere Welten“, flüsterte Ailina auf einmal leise. „Sie sind ein Teil von uns, auch wenn wir keinen Einfluss auf sie haben. In Träumen ... kann man Situationen immer wieder durchleben ... sie zeigen unser wahres Gesicht.“
„Was meinst du damit?“, wollte Angeni wissen.
„Ich meine ...“ Ailina schien nach den passenden Worten zu suchen. „Ich meine, dass man erst in Träumen erkennt, was einen wirklich beschäftigt.“
„Träume haben doch eine Bedeutung, oder nicht?“, fragte Simon. „Auch wenn sie konfus und undurchsichtig sind, wollen sie uns irgendetwas sagen.“
Angeni nickte langsam. „Träume spiegeln unsere Wünsche wider. Und unsere Ängste. Sie sind sozusagen der wahre Spiegel unserer selbst.“
„Aber ... wie sollen wir uns auf unsere Träume verlassen, wenn man sie doch manipulieren kann?“, fragte Christiane leise. „Wie kann man sich überhaupt noch auf irgendetwas verlassen?“ Angst verdunkelte ihre grünen Augen. Eine Angst, die plötzlich auf die anderen Schüler überzuspringen schien wie ein Funke, der nur darauf gewartet hatte, endlich entzündet zu werden.
„Wandler können fremde Gefühle wahrnehmen. Sie können Träume manipulieren und Materie“, sagte July langsam, den Blick starr auf Angeni gerichtet.
„Das ist richtig“, unterbrach die Lehrerin sie, „aber ihr könnt euch sicher sein, dass wir diese Gaben nie zu eurem und auch nie zum Nachteil der Menschheit einsetzen werden. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen zu helfen, ihnen mit unseren Gaben den Weg zu erleuchten, sie zu führen.“
Sie sah July eindringlich an. „Das tun wir zum Beispiel durch Träume. Normale Träume kommen aus dem eigenen Unterbewusstsein, deswegen vertrauen Menschen ihnen mehr als allem anderen, auch wenn sie das meist nicht merken. Was wir tun, ist: Wir zeigen den Menschen in ihren Träumen Möglichkeiten. Wir führen sie einfach nur, indem wir ihnen neue Wege zeigen. Wege, auf die sie von alleine nie gekommen wären.“
„Merkt man es, wenn man manipuliert wird?“ Die Frage war laut ausgesprochen, bevor Felicitas sie zurückhalten konnte.
Nun richtete sich Angenis Blick auf sie. „Anfangs nicht“, erklärte sie, „aber auch das werdet ihr mit der Zeit lernen. Und sei unbesorgt: Enapay hat diese Schule mit einem Bann umgeben, der es anderen Wandlern, die sich nicht innerhalb dieses Bannkreises befinden, unmöglich macht, euch zu manipulieren.“
Sie lächelte.
„Gibt es sonst noch irgendwelche Fragen? Nicht? Dann wollen wir mal anfangen ... Um Träume von Menschen oder anderen Wandlern zu manipulieren, müsst ihr es schaffen, eure eigenen Gedanken in den fremden Traum zu übertragen.“
„Telepathie“, murmelte Ailina leise.
„In gewisser Weise, ja.“ Angeni nickte. „Dabei müsst ihr darauf achten, dass der Träumende nicht merkt, dass er manipuliert wird, ansonsten verschließt er seinen Geist.“
„Wie soll man bitte schön seinen Geist verschließen?“, fragte Leo.
Wieder lächelte Angeni. „Das tust du die ganze Zeit unbewusst. Doch während man träumt, kann man seine Gedanken nicht kontrollieren, man öffnet unbewusst seinen Geist, weswegen es Wandlern auch möglich ist, Träume zu manipulieren.“
„Ah ja?“ Leo hob die gepiercte Augenbraue.
Die Lehrerin seufzte. „Ich weiß, dass das alles neu und kompliziert für euch ist. Aber es ist wirklich wichtig, dass ihr so schnell wie möglich lernt, mit euren Gaben umzugehen.“
„Warum denn?“ Julys blaue Augen blitzten Angeni herausfordernd an. „Wenn die Schule wirklich so gut geschützt ist, wie Sie sagen ...“
„Es gibt noch eine Welt außerhalb der Schule“, unterbrach Angeni sie.
„Was Sie nicht sagen!“ Alex' Stimme triefte vor Ironie. „Und ich dachte schon, wir werden für den Rest unseres Lebens hier eingesperrt!“
„Es ist für euch alle sicherer, wenn ihr hierbleibt, bis ihr mehr über eure Gaben wisst und sie einsetzen könnt.“ Plötzlich hatte auch Angenis Stimme an Schärfe gewonnen. „Denn die Welt, wie ihr sie kanntet, existiert für euch nicht mehr.“
Einige Augenblicke war es still im Klassenzimmer. Felicitas spürte, dass ihr Atem schnell und unregelmäßig ging, ihr Herz raste, als wäre sie gerade mehrere Kilometer gerannt.
Denn die Welt, wie ihr sie kanntet, existiert für euch nicht mehr.
Angenis Worte hallten in Felicitas Kopf wider. Was ging hier vor? Was wurde hier gespielt? Wieder stieg die lähmende Angst in ihr empor, griff mit kalten Fingern nach ihrem Herz.
„Ich meine damit, dass ihr die Welt nicht mehr mit denselben Augen sehen werdet, wenn ihr diese Schule wieder verlasst“, erklärte Angeni in versöhnlicherem Ton. „Ihr seid Zeugen geworden von ... Magie ... von wundersamen Dingen, die die Vorstellungskraft der Menschen bei Weitem übersteigen. Ihr habt angefangen, Farben zu sehen, wo die Menschen nur Schatten vermuteten. Und ihr habt die Möglichkeit in den Schoß gelegt bekommen, die Welt zu verändern, sie zu verbessern. Glaubt ihr wirklich, ihr könntet jetzt einfach zurückkehren in euer früheres Leben? Glaubt ihr wirklich, ihr würdet die Menschen, ihr würdet die Welt jetzt noch genauso sehen wie früher?“ Angeni schwieg und sah den Schülern nacheinander in die Augen. „Ihr habt die Welt gesehen. Wollt ihr wirklich zurück in die Höhle, ohne auch nur zu versuchen, den Menschen die Wirklichkeit zu zeigen?“
Felicitas starrte auf den Boden, um dem Blick der Lehrerin nicht begegnen zu müssen. Sie wollte zurück, zu Sandra und zu ihrer Familie, doch ein Teil von ihr wusste auch, dass Angeni recht hatte. Dass sie diese Schule nicht einfach verlassen und weiterleben konnte wie zuvor.