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Das Höhlengleichnis

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Was ist Wahrheit? Früher habe ich mich das oft gefragt. Manchmal frage ich es mich immer noch und die Frage macht mir Angst. Vielleicht, weil es keine Antwort darauf gibt. Vielleicht, weil es so viele gibt.

Felicitas spürte, wie etwas in ihr zusammenbrach. Sie hatte es gewusst. Ja, sie hatte es wirklich gewusst, aber es noch einmal von Ailina zu hören, laut ausgesprochen, war etwas anderes.

Sie ging durchs Zimmer und ließ sich auf ihr Bett fallen. Auf einmal fühlte sie sich seltsam kraftlos.

Ailina summte leise das Lied mit, das ihr Handy noch immer in einer Endlosschleife abspielte. Es klang traurig.

„Erzähle mir von ihr“, bat sie plötzlich.

„Von wem?“

„Von deiner Schwester.“ Ailina setzte sich neben Felicitas auf das Bett und blickte auf das Foto, das auf dem Nachttisch lag.

„Was ... was soll ich denn erzählen?“

„Irgendetwas.“ Ailina zuckte mit den Schultern.

„Okay ...“ Felicitas zögerte noch kurz, dann begann sie. Sie erzählte davon, dass Sandra einmal aus Versehen den Christbaum umgeworfen hatte, als sie dagegen gelaufen war, weil der Teppich unter ihr weggerutscht war. Und sie berichtete von dem großen Fest in der Sporthalle ihrer Stadt, als Sandra oben an der Kletterwand gehangen und sich nicht mehr hinuntergetraut hatte. Sie erzählte von ihrem Urlaub in Italien vor drei Jahren und dass sie vorgehabt hatten, im nächsten Jahr auf die Kanarischen Inseln zu fliegen.

Ailina war eine gute Zuhörerin. Sie unterbrach Felicitas kein einziges Mal, aber manchmal lachte sie leise.

Es war ein schöner Moment inmitten all des Schmerzes und der Fremdheit und Felicitas wünschte sich, er würde ein wenig länger andauern. Doch irgendwann fiel ihr nichts mehr ein, was sie noch erzählen konnte. Wieder war es still im Zimmer, doch dieses Mal war es eine andere Stille. Sie war weder schwer noch drückend, eher samten und schleichend. Sie hüllte Ailina und Felicitas ein, ohne dass die beiden es wirklich merkten, so sehr waren sie in ihre Gedanken vertieft.

„Was ist mit dir?“, fragte Felicitas schließlich leise. „Hast du Geschwister?“ Ailina schwieg einige Augenblicke, als überlegte sie. Gerade als sie antworten wollte, klopfte es laut an der Tür.

Noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet und Jessy platzte in den Raum. Sie grinste. „Ihr solltet ein Namensschild an die Tür hängen! Ich war schon zweimal im falschen Zimmer!“ Sie holte kurz Luft, dann redete sie sofort weiter. „Eigentlich wollte ich euch holen, es gibt nämlich in zehn Minuten Essen. Und wisst ihr was? July wird übermorgen achtzehn und sie dachte, wir könnten morgen die Nacht durchmachen und ... oh“, sie kicherte, „ich meine natürlich, den Tag durchmachen ... was haltet ihr davon?“

„Ich ...“, setzte Felicitas an, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

„Im Gemeinschaftsraum steht eine Musikanlage und wir kriegen bestimmt ein paar Süßigkeiten ... Ich glaube aber kaum, dass man hier an der Schule Alkohol trinken darf, dann werden wir wohl ohne auskommen müssen ... Kommt ihr?“

Felicitas und Ailina schwiegen, während sie Jessy durch die Gänge und Korridore der Schule folgten. Es war sowieso nicht nötig, etwas zu sagen, weil Jessy ununterbrochen redete. Ab und zu begegneten sie anderen Schülern, aber Felicitas fand trotzdem, dass dieses Schloss viel zu leer wirkte.

Als Felicitas nach dem Essen in ihr Bett fiel, fühlte sie sich total erschöpft. Trotzdem nahm sie sich das Foto von ihrem Schreibtisch und betrachtete es. Mit den Fingerspitzen zeichnete sie Sandras Gesicht nach, ihre langen Haare, ihr glückliches Lächeln. Sie hörte das Kratzen von Ailinas Bleistift auf Papier. Draußen schien gerade die Sonne aufzugehen, denn durch die orangefarbenen Vorhänge fiel schummriges Licht auf den Fußboden. Für alle anderen würde der Tag jetzt erst beginnen. Mit einem unterdrückten Seufzer schloss Felicitas die Augen und drückte das Foto an ihre Brust.

Eva.

Eva bedeutet Leben.

Warum musste sie ausgerechnet jetzt wieder daran denken?

Als Felicitas die Augen öffnete, leuchtete um sie herum alles in einem rot-orangefarbenen Licht. Für einen kurzen Augenblick wusste sie nicht, wo sie war, doch dann entdeckte sie die dunkle Silhouette, die vor dem Fenster stand. Ailina. Die Wandler. Die Bibliothek.

Leise stand Felicitas auf und trat neben ihre Zimmergenossin, die ihr inzwischen zur Freundin geworden war. Die Sonne ging gerade unter und tauchte den Himmel in ein helles, orangefarbenes Licht. Weder Felicitas noch Ailina sagten ein Wort, während es draußen immer dunkler wurde. Fasziniert beobachteten sie, wie das Orange einem dunkleren Violett wich und die ersten Sterne aufglommen. Auch der Mond stand bereits am Himmel. Wieder fiel Felicitas auf, dass er hier heller zu leuchten schien als in der Stadt.

„Die Welt versinkt im Feuer“, murmelte Ailina auf einmal. Sie sprach leise, wie zu sich selbst.

Felicitas starrte nur weiter nach draußen, beobachtete, wie die Schatten den kleinen Hof immer weiter eroberten. Wieder musste sie an ihre Familie denken. Was Sandra wohl gerade machte? Ob sie schlafen konnte?

Sie spürte Ailinas Blick auf sich und drehte sich um, sodass sie ihre Freundin ebenfalls ansah. Kurz schwiegen sie.

„Wir sollten uns fertig machen“, meinte Ailina schließlich.

Felicitas nickte nur. Sie hatte Angst, bei dem Versuch zu sprechen laut loszuschluchzen.

Als Ailina die kahle Glühbirne, die von der Decke baumelte, anschaltete, war der ganze Zauber plötzlich vorüber. Nun konnte man nur noch die groben Umrisse der Mauern draußen ausmachen und ein paar einzelne, leuchtende Fenster auf der anderen Seite des Schlosses.

In dem großen Saal herrschte bereits reger Betrieb und Felicitas und Ailina schlug der Duft von frischen Brötchen entgegen. Fröhliches Stimmengewirr erfüllte die Luft und wollte so gar nicht zu Felicitas' melancholischer Stimmung passen. Fast verzweifelt ließ sie ihren Blick durch die Halle schweifen, auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Doch da war nur Ituma, die sich über ihren Teller beugte, und Enapay, der mit einem in einen schwarzen Umhang gekleideten Mann sprach.

„Hallo-ho!“ Plötzlich tauchte Jessy vor ihnen auf. Sie trug ein grünes T-Shirt, dazu eine dunkelblaue Jeans. Ihre Locken hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst. „Habt ihr gut geschlafen? Meint ihr, heute dürfen wir endlich mit dem richtigen Unterricht anfangen?“

„Beides ja“, meinte Ailina und gähnte herzhaft, während Felicitas in sich hineingrinste.

Jessy nickte zufrieden. Anscheinend hatte sie genau das hören wollen. „Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“, kam auch schon die nächste Frage. Doch diesmal wartete sie gar nicht erst auf eine Antwort. Als die drei an ihrem Tisch ankamen, waren ihre Klassenkameraden bereits dort. Felicitas nahm sich ein Brötchen und bestrich es dick mit Nutella, doch bereits nach dem ersten Bissen verging ihr der Appetit.

Während die anderen aßen, versuchte Felicitas, sich an die zugehörigen Namen zu erinnern. Die Blonde war July; die Kleine mit den kurzen Haaren Christiane; der Junge mit dem schwarzen Lockenkopf hieß Alex; und dann waren da noch die Zwillinge ... Leo und Simon. War Leo der mit der Strähne und dem Piercing gewesen? Sie beobachtete die beiden verstohlen und wunderte sich wieder darüber, wie zwei Menschen sich nur so ähnlich sehen konnten.

„Guten Morgen.“ Überrascht fuhr Felicitas herum. Wieder hatte sie Ituma nicht kommen gehört. „Ich freue mich, euch mitteilen zu dürfen, dass eure erste Stunde Philosophie sein wird. Das bedeutet, ihr geht einfach in euer Klassenzimmer, sobald ihr fertig gegessen habt.“

Sie nickte den Schülern noch einmal zu, dann drehte sie sich um und schritt zurück zum Tisch der Lehrer. Felicitas sah ihr nach. Dabei fiel ihr die Art auf, wie Ituma sich bewegte, ihre leicht gebückte und doch Ehrfurcht einflößende Haltung.

Felicitas' Blick schweifte durch die Halle, blieb an Enapay hängen und wanderte dann weiter an den Lehrern entlang. Einige von ihnen wirkten noch ziemlich jung, höchstens zwei Jahre älter als Felicitas selber. Andere hingegen hatten ihre besten Jahre schon längst überschritten.

Felicitas ertappte sich dabei, wie sie sich fragte, was sie wohl schon erlebt hatten. Was man überhaupt so erlebte als Wandler. Fand man sich irgendwann mit seinem Schicksal ab und dachte gar nicht mehr daran, ein normales Leben zu führen? Hatten Wandler Familien? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Enapay eine Frau hatte oder Kinder.

„Hat man so was schon gesehen? Die schläft mit offenen Augen!“ Wie aus weiter Ferne drang Jessys Stimme in Felicitas' Bewusstsein. Dann sah sie plötzlich die Hand, die vor ihrem Gesicht herumwedelte. Jessy lachte. July, Alex und Leo lachten. Felicitas starrte auf ihren Teller und spürte, dass ihr Gesicht anfing zu glühen. Wahrscheinlich wurde sie gerade feuerrot.

Nachdem sie alle fertig gegessen hatten, eilten die acht Schüler die Treppe hinauf und dann den Gang entlang.

Als sie das Klassenzimmer betraten, wartete Ituma bereits. Die Lehrerin hatte wieder ihr übertriebenes Lächeln aufgesetzt und bedeutete ihrer Klasse mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen.

„Guten Abend“, grüßte sie noch einmal, „ich hoffe, ihr habt alle gut geschlafen?“ Sie blickte fragend in die Runde, doch niemand antwortete ihr. Ituma schien das nicht wirklich zu stören. Sie ging einmal um den Kreis aus Stühlen herum, um sich dann auf den freien Platz zwischen July und Simon zu setzen.

„Philosophie“, sagte sie dann und ließ das Wort im Raum verklingen. „Was stellt ihr euch darunter vor?“ Wieder wanderte ihr stechender Blick von einem Schüler zum nächsten. Niemand machte Anstalten, irgendetwas zu sagen. July zupfte ihr knappes Top zurecht, Jessy spielte mit einer Locke ihrer roten Haare und Simon starrte teilnahmslos auf den Boden. „Alex“, sagte Ituma plötzlich, „hast du eine Idee?“

Der Junge räusperte sich. „Ähm, Philosophen, das sind doch die, die so ewig lange Texte schreiben, die keiner versteht, oder?“

Ituma sah ihn einen Augenblick lang ausdruckslos an. „Es ist in der Tat schwer, philosophische Texte zu verstehen“, gab sie schließlich zu. „Man muss sich dafür eingehend mit ihnen beschäftigen.“

„Aber das machen wir hier doch nicht, oder?“ Leo verdrehte die Augen. „Ich meine, wenn ich schon mal hier bin, dann will ich auch etwas Wichtiges lernen, zum Beispiel, wie ich meine Gaben beherrschen kann, und nicht irgendwelche Texte analysieren!“

„So?“ Ituma zog eine Augenbraue hoch. „Und wenn ich dir nun sage, dass du deine Gaben nie beherrschen wirst, wenn du dich nicht mit entscheidenden Fragen auseinandersetzt? Mit philosophischen Fragen? Du kannst deine Kräfte und die Drei Ebenen nicht verstehen, wenn du dich nicht bemühst, die Philosophie zu verstehen.“

„Was hat die Philosophie denn mit unseren Fähigkeiten zu tun?“, fragte Jessy vorsichtig.

„Vieles.“ Ituma lächelte geheimnisvoll. „Es gibt die Physik, mit ihr lässt sich vieles erklären. Die Gesetze der Natur, ja, sogar die Entstehung unseres Universums. Doch es gibt auch Dinge jenseits unserer Vorstellungskraft – und somit jenseits alles Messbarem, jenseits der Physik. Und da kommt die Philosophie ins Spiel. Was kommt nach dem Tod? Was ist Gerechtigkeit? Wo liegt die Grenze zwischen Gut und Böse und was ist der Sinn des Lebens?

Das sind Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Das sind philosophische Fragen, Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Denn was bringt es mir, kämpfen zu können, wenn ich nicht weiß, wofür ich kämpfen will?“

„Ja, ja, schon“, unterbrach July ungeduldig, „aber was ist Philosophie?“

„In der Philosophie sind all die Dinge zusammengefasst, all die Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Philosophen versuchen, die menschliche Existenz zu verstehen, versuchen, die Antworten zu finden, die die Naturwissenschaften uns nie werden liefern können. Die Ethik zum Beispiel ist nur ein kleiner Teil der Philosophie.“

Ituma verstummte und ließ den Schülern ein wenig Zeit, um über ihre Worte nachzudenken.

„Als Einführung in die Welt der Philosophie möchte ich mit euch über ein philosophisches Gleichnis sprechen, das ihr vermutlich alle kennt: über das Höhlengleichnis von Platon. Wer kann kurz zusammenfassen, worum es darin geht?“

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

„Es geht um Menschen, die nebeneinander angekettet in einer Höhle sitzen“, erklärte Ailina schließlich. „Sie sehen nur die Wand vor sich und die Schatten, die sich darauf bewegen. Sie gehen davon aus, dass das die ganze Welt ist. Platon fragt nun, was geschehen würde, wenn einer von ihnen die Höhle verlassen könnte. Das Licht draußen würde ihn blenden, aber wenn sich seine Augen daran gewöhnen würden, sähe er zum ersten Mal in seinem Leben Farben und scharfe Konturen.“

Ailina spielte mit dem Anhänger ihrer Kette. „Er könnte jetzt draußen bleiben oder aber zurückgehen, um den anderen Menschen, die noch in der Höhle sind, klarzumachen, dass die Schattenbilder nur Nachahmungen des Wirklichen sind. Aber die anderen würden ihm nicht glauben. Eher würden sie ihn umbringen.“ Ihre Stimme war immer leiser geworden, bis sie schließlich kaum mehr war als ein Flüstern.

„Genau.“ Ituma nickte. „Ich möchte jetzt“, sie erhob sich und holte ein paar Stifte und Papier von der Fensterbank, „dass jeder von euch seine Gedanken zu dem Höhlengleichnis aufschreibt. Es muss nicht viel sein, ein paar Worte genügen.“ Sie verteilte die Schreibutensilien.

Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte Felicitas auf das leere Blatt auf ihrem Schoß.

Menschen haben Angst vor Dingen, die sie nicht kennen, schrieb sie schließlich. Mehr nicht. Dabei ging ihr so viel durch den Kopf. Wieso hatte Ituma ausgerechnet das Höhlengleichnis als Einstieg ausgesucht? Erwartete sie von ihnen, dass sie etwas Bestimmtes herauslasen? Felicitas sah ihre Lehrerin scheu an, doch Itumas Blick war vollkommen ausdruckslos. Woran sie wohl gerade dachte?

Felicitas zwang sich, ihre Konzentration wieder auf ihre Aufgabe zu richten. Das Höhlengleichnis. Enapay hatte ihr erzählt, dass sie besondere Gaben besaß, dass sie die Drei Ebenen nicht nur verstehen, sondern auch beherrschen konnte. Die Drei Ebenen: Materie, Gefühl und Traum. Sie konnte Menschen verletzen, nur indem sie diese berührte, und da sollte sie sich jetzt mit dem Höhlengleichnis von Platon beschäftigen anstatt damit, ihre Gaben endlich in den Griff zu bekommen?

„Ihr macht den Eindruck, als wärt ihr fertig.“ Itumas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. „Wer möchte beginnen und uns seine Überlegungen mitteilen?“

Als sich niemand freiwillig meldete, richtete sich Itumas Blick auf Felicitas. „Wie wäre es mit dir?“

„Ja, ähm, also ...“ Felicitas starrte auf ihr Blatt. „Ich habe mir gedacht, dass das Gleichnis vielleicht aussagt, dass ... Menschen Angst haben vor Dingen, die sie nicht kennen?“

Ituma setzte wieder ihr übertriebenes Lächeln auf. „Wie kommst du darauf?“

„Na ja ... sie sehen nur die Schatten an den Wänden und denken, sie sind ihre Wirklichkeit, das Einzige, was es gibt. Als sie dann erfahren, dass die wirkliche Welt außerhalb ihrer Höhle existiert, wollen sie das nicht glauben ...“ Felicitas sprach leise.

„Vielleicht wollen sie es ja gar nicht glauben, weil sie Angst davor haben?“

„Sie wollen ihr Leben fortführen wie bisher“, warf July ein, „und haben Angst vor einer Veränderung.“

Ituma nickte. „Was meinst du dazu, Simon?“

„Sie ... glauben, dass sie alles verstehen“, Simon sah unsicher in die Runde, „aber vielleicht tun sie das gar nicht?“ An seiner vorsichtigen Formulierung erkannte Felicitas, dass Simon nicht mehr nur von den Menschen in Platons Gleichnis sprach. „Vielleicht ist da noch mehr, noch so viel mehr, was die Menschen einfach nicht sehen ... weil sie es nicht sehen wollen?“

„Ganz genau.“ Ituma beugte sich ein wenig vor und senkte verschwörerisch die Stimme. „Dieses Gleichnis zeigt die Menschen, wie sie wirklich sind. Sie glauben, dass sie alles wissen, aber in Wahrheit verstehen sie nur einen winzigen Bruchteil alles Möglichen.

Aber ihr – ihr habt daran geglaubt, dass es jenseits der Schatten noch eine andere Welt gibt. Eine Welt voller Farben und scharfer Konturen. Und deshalb seid ihr hier. Deshalb sind wir hier. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen diese Welt wieder zu zeigen. Diese Welt, von der sie sich vor so langer Zeit abgewandt haben.

Aber um diese Welt zu sehen, müssen sie sich erst gegenseitig sehen. Denn einer allein kann keine großen Veränderungen vollbringen. Aber wenn die Menschen sich nicht mehr nur mit Hass und Neid begegnen, wenn sie aneinander glauben und sich aufmachen, die vollkommene Welt zu suchen, dann wird sie auch das grelle Licht nicht mehr aufhalten.“ Ihre stechenden, grünen Augen wanderten von einem Schüler zum nächsten. „Und es ist unsere Aufgabe, die Menschen auf diesen Weg zu führen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich weiß, dass es jetzt gerade nicht leicht für euch ist, ich weiß, dass ihr eure Familien vermisst und euch erst noch an eure Gaben gewöhnen müsst. Aber denkt doch nur mal daran, wie viel Gutes ihr mit euren Fähigkeiten tun könnt! Ihr habt die Möglichkeit, von der so viele andere nur träumen: Ihr könnt dabei mithelfen, die Welt zu verändern!“

Ituma schwieg einige Sekunden und ließ ihre Worte wirken. Felicitas starrte ihre Lehrerin an, ohne sie wirklich zu sehen. So vieles ging ihr in diesem Moment durch den Kopf, und doch wollte es ihr nicht gelingen, einen ihrer Gedanken festzuhalten.

Schließlich stand Ituma auf, wieder ihr aufgesetztes Lächeln auf den Lippen. „Ich glaube, für heute habe ich euch genügend Stoff zum Nachdenken gegeben.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Es ist jetzt elf. Eure nächste Unterrichtsstunde beginnt um halb zwölf, ihr habt also eine halbe Stunde Zeit. Seid aber bitte pünktlich wieder im Klassenzimmer.“ Sie nickte ihren Schülern noch einmal zu, dann drehte sie sich um und eilte zur Tür hinaus. Zurück blieb ein Raum voller Schweigen und Unsicherheit.

„Das kann doch nicht sein.“ Christianes Stimme klang hell und dünn. „Warum sollten wir irgendeine besondere Aufgabe haben? Warum gerade wir?“ Felicitas konnte nicht anders, als das junge Mädchen dafür zu bewundern, dass es das aussprach, was vermutlich alle gerade dachten.

„Wer weiß?“ July betrachtete ihre Nägel. „Inzwischen halte ich nichts mehr für unmöglich.“

Dann herrschte wieder Schweigen. Felicitas starrte auf den Boden, Ailina spielte mit dem Anhänger ihrer Kette, Jessy wickelte sich eine Strähne ihrer Locken um den Finger.

„Ich will nach Hause“, flüsterte Christiane plötzlich.

„Meinst du, wir nicht?“, fuhr July sie an. Christiane zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen.

„Wir sitzen alle im selben Boot“, erklärte Ailina ruhig, „und im Moment bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als das hier einfach durchzustehen.“

„Also, ich finde es ganz cool.“ Alex verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ich meine, keine Eltern, die einem ständig alles verbieten, keine langweiligen Mathestunden mehr ... stattdessen werden wir lernen, die Gefühle von anderen Menschen zu spüren und Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen!“

„Das ist nicht richtig.“ Felicitas war selbst überrascht, wie fest ihre Stimme klang. Sofort richteten sich alle Augen auf sie. „Es ist nicht richtig, dass wir das lernen.“

„Besser als Mathe“, entschied Alex, stand auf und streckte sich. „Ich weiß ja nicht, was ihr in den zwanzig Minuten noch vorhabt, aber ich bleibe nicht die ganze Zeit in diesem stickigen Klassenzimmer.“ Er schenkte seinen Mitschülern noch ein gnädiges Nicken, bevor er aus dem Raum schritt.

„Alex hat recht.“ Nun erhoben sich auch July, Jessy und schließlich Leo und Simon.

Auf einmal waren Christiane, Ailina und Felicitas alleine.

Felicitas hatte keine Lust, nach draußen zu gehen, in die dunklen Gänge. Also blieb sie sitzen, starrte in das kleine Kaminfeuer und dachte über das nach, was Ituma ihnen eben erzählt hatte.

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