Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 19
Unterricht
ОглавлениеMir leuchteten viele Kerzen, die die Dunkelheit vertrieben. Doch sie sind alle erloschen in dem starken Sturm. Wie hatte ich auch geglaubt, ihm standhalten zu können?
Die anderen kamen um kurz vor halb zwölf. Schon von Weitem konnte man Leo hören.
„Kennt ihr den Witz mit der Blondine und der Mauer?“ Seine Stimme hallte in den Korridoren seltsam wider. „Eine Blondine lehnt sich gegen eine Mauer. Die Mauer fällt um. Warum?“
„Weil der Klügere nachgibt!“, rief Jessy und lachte. Etwas zu laut.
July führte den kleinen Trupp ins Klassenzimmer an. Als ihr Blick kurz den von Felicitas traf, verdrehte sie die Augen und strich sich mit einer eleganten Bewegung eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr.
„Eine Blondine und eine Brünette springen aus dem Hochhaus. Wer ist schneller unten?“, fragte Leo in die Runde. Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. „Die Brünette, weil die Blondine erst nach dem Weg fragen muss!“ Er prustete laut los. Julys Mundwinkel zuckten verräterisch. Die anderen Schüler waren alle zu angespannt, um zu lachen.
Als sich die Tür öffnete, ging Leos Lachen in ein unkontrolliertes Husten über. Eine große, schlanke Frau betrat das Klassenzimmer. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar, das von lila und pinkfarbenen Strähnen durchzogen wurde. Dazu trug sie ein langes rotes Kleid und hohe Schuhe. July starrte sie entsetzt an.
„Wenn das unsere Lehrerin ist, fresse ich einen Besen“, murmelte Jessy deutlich hörbar in die entstandene Stille.
„Dann wünsche ich dir einen guten Appetit.“ Die Frau nickte Jessy freundlich zu.
Jessy wurde blass und sagte erst einmal nichts mehr. Der pinkfarbene Mund der Lehrerin verzog sich zu einem Lächeln und sie zog die Tür hinter sich zu. Die Blicke der Schüler folgten ihr, als sie durch den Raum schritt.
„Erst einmal: Herzlich willkommen an unserer Schule!“ Sie schenkte jedem einen kurzen Blick. „Mein Name ist Amitola und ich werde in der nächsten Zeit eure Lehrerin in Gefühl sein.“
Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. „Ich habe eure Namen schon bekommen, mal sehen, ob ich sie mir gemerkt habe.“ Sie richtete ihren Blick auf Alex. „Alex“, sagte sie, „Leo, Simon, July, Christiane, Jessy, Felicitas, Ailina. Richtig?”
Die Schüler nickten.
„Okay ... ich bin mir sicher, Ituma hat euch bereits etwas über die Drei Ebenen erzählt? Materie, Gefühl, Traum?“
Wieder allgemeines Nicken.
„Gut. Wir werden uns in der nächsten Zeit etwas ausführlicher mit der zweiten Ebene, der Ebene der Gefühle auseinandersetzen.“ Sie schwieg kurz, bevor sie fragte: „Kann mir jemand in diesem Raum erklären, was Gefühle sind?“
Sie sah auffordernd in die Runde, doch niemand machte Anstalten, etwas zu sagen.
Amitola lächelte. „Wie ihr seht, haben wir es mit einem sehr komplexen Thema zu tun. Denn Gefühle kann man schwer definieren. Jeder empfindet sie anders. Und dennoch müssen wir uns intensiv mit ihnen beschäftigen und versuchen, diese für uns fremde Welt zu verstehen.“
„Wieso können wir die Gefühle von anderen Menschen wahrnehmen, wenn wir sie berühren?“, wollte Jessy auf einmal wissen.
„Weil Gefühle in einer Art Energiewellen aus dem menschlichen Körper in die Umgebung gelangen. Auch Menschen können diese Gefühlsschwingungen spüren, aber als Wandler habt ihr einen ganz besonderen Bezug zur Energie, deswegen erscheinen euch die fremden Gefühle so stark.“
Amitola machte eine kurze Pause und schien auf weitere Fragen zu warten. Als keine kamen, fuhr sie fort. „Noch könnt ihr fremde Gefühle nur durch Körperkontakt wahrnehmen, aber das wird sich ändern, wenn ihr besser mit euren Fähigkeiten vertraut seid.“
„Moment“, Julys Stimme klang scharf, „soll das heißen, Sie können jetzt gerade all unsere Gefühle spüren?“
„Keine Sorge.“ Wieder lächelte Amitola. „Jetzt gerade nicht. Denn natürlich gibt es auch Möglichkeiten, sich vor fremden Gefühlen zu schützen.“
„Wie soll das gehen?“, drängte Felicitas, als die Lehrerin zögerte.
„Ich hatte gehofft, jemand von euch könnte mir das sagen?“ Amitola sah die Schüler fragend an.
„Man muss sich auf seine eigenen Gefühle konzentrieren“, erklärte Ailina leise. „So sehr, dass man die des anderen gar nicht spürt.“
„Ganz genau.“ Amitola nickte. „Auf keinen Fall darf man die fremden Gefühle aktiv bekämpfen!“
Felicitas blickte zu Boden. So einfach wäre das gewesen? Sie hätte sich nur auf ihre eigenen Gefühle konzentrieren müssen, um die von Sandra nicht zu spüren?
Sandra.
Felicitas presste die Augen zu, doch das Bild von Sandra hatte sich wieder in ihre Gedanken eingebrannt. Die aufgedrehte, glückliche Sandra, die auf einmal geschrien und dann reglos auf dem Teppich gelegen hatte. Felicitas spürte, dass jemand leicht ihre Hand berührte, und wusste, auch ohne die Augen zu öffnen, dass es Ailina war.
„Siehst du? Es ist gar nicht schwer“, flüsterte ihre Freundin, „du kannst es schon.“
„Was kann ich schon?“, wollte Felicitas verwirrt wissen. Jetzt öffnete sie doch die Augen und blickte Ailina fragend an.
„Dich so sehr auf deine eigenen Gefühle konzentrieren, dass du die fremden nicht mehr spürst.“
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Erstaunen fiel Felicitas auf, dass Ailina sie soeben berührt hatte, ohne dass sie deren Gefühle wahrgenommen hatte. Ohne dass diese Welle aus fremden Gefühlen über ihr zusammengebrochen war.
„Wir wollen das gleich ein wenig üben.“ Amitolas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. „Dazu schließt ihr bitte die Augen und konzentriert euch auf ein starkes Gefühl. Das kann Freundschaft sein, Liebe ...“
„Hass und Zorn“, ergänzte Alex und grinste.
Amitola ging nicht darauf ein. „Ganz egal, wichtig ist nur, dass dieses Gefühl euch ausfüllt. Ich werde euch dann nacheinander berühren ...“
In der restlichen Stunde lernten die Schüler, sich vor fremden Gefühlen zu schützen. Amitola versicherte ihnen mehrmals, dass sie anfangs zwar viel üben müssten, sich stark genug auf ihre eigenen Gefühle zu konzentrieren, dass sie mit der Zeit aber keine Probleme mehr damit haben würden und das Ganze dann automatisch geschähe.
„Oh Mann, habe ich einen Hunger!“ Kaum hatte Amitola die Stunde nach einer gefühlten Ewigkeit für beendet erklärt, sprang Jessy auf. „Ich gehe jetzt erst mal etwas essen. Kommt jemand mit?“
Felicitas folgte den anderen in den großen Saal, der jetzt vollkommen leer war. Als die Schüler durch die Halle schritten, sprach niemand ein Wort. Einzig die Geräusche ihrer Schritte durchbrachen die unheimliche Stille.
Klack. Klack. Klack.
Julys Absätze waren am lautesten. Dann begann Christiane zu summen. Ihre leisen Töne verklangen in dem großen Saal.
Auf einmal kam Felicitas die ganze Situation seltsam unwirklich vor. Als wäre sie in einen schlechten Film hineingeraten. Oder als würde sie träumen. Ja. Ein Traum. Auf einmal kam ihr der Gedanke gar nicht mehr so abwegig vor. Ein Traum. Warum eigentlich nicht? Das hier war doch alles so unmöglich ...
Auf den Tischen standen Schalen mit Früchten und Krüge mit verschiedenen Säften. Sogar Jessy schwieg, während sie aßen und tranken. Es herrschte eine seltsame, melancholische Stimmung, die sich erst löste, als die Schüler wieder im Klassenzimmer waren. Hier, in dem nun schon vertrauten kleinen Raum mit dem gemütlichen Kaminfeuer, wirkten auf einmal alle viel entspannter.
„Ihr kommt schon alle nach dem Abendessen in den Gemeinschaftsraum, oder?“, fragte July. „Immerhin werde ich morgen achtzehn und ...“
„Natürlich!“, unterbrach Jessy. Ihre Augen leuchteten. „Wir feiern rein! Bis morgen früh ... oder Abend ... oder so, ist doch auch egal. Auf jeden Fall wird das cool!“
„Beim Feiern bin ich dabei!“ Alex hatte wieder sein typisches Grinsen im Gesicht.
Plötzlich klopfte es. Nicht nur Felicitas zuckte überrascht zusammen, so sehr waren die Jugendlichen in ihre Gespräche vertieft gewesen.
„Guten Abend.“ Im Türrahmen stand ein älterer Mann. Er war in einen bodenlangen, schwarzen Umhang gehüllt und hatte seine langen, weißen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Seine schmalen Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, sodass sich um seine Augen herum kleine Fältchen bildeten. „Willkommen an unserer Schule.“
Als er in die Mitte des Klassenzimmers schritt, ging er trotz seines Alters aufrecht und seine blauen Augen funkelten lebhaft. Felicitas konnte nicht anders, sie musste ihn unverwandt anstarren. Da war etwas Seltsames an diesem Mann, eine Aura, eine Ruhe, die von ihm ausging und sie in seinen Bann zog.
„Mein Name ist Mingan“, verkündete der Mann, „und ich werde euch im Kampf unterrichten.“ Er drehte sich einmal um sich selbst, um jedem einzelnen Schüler kurz in die Augen zu sehen. Felicitas zuckte zusammen, als sein durchdringender Blick sie streifte. „Es ist nicht nur unsere Aufgabe, den Menschen die Augen zu öffnen und sie wieder an die Wunder der Natur und die Magie in unserer Welt zu erinnern, sondern auch, uns gegen die andere Gruppe von Wandlern zu schützen und sie im Notfall mit allen Mitteln zu bekämpfen. Allen voran ihren Anführer Hakan, aber auch seinen Sohn oder die Seherin. Bei mir werdet ihr alles über die Stärken und Schwächen unserer Feinde lernen, über unsere Arten zu kämpfen und uns zu duellieren.“ Wieder ruhte Mingans Blick für einen kurzen Moment auf Felicitas. „Hoffen wir, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ihr diese Techniken brauchen werdet“, murmelte er leise, mehr zu sich selbst.
„Aber ich will nicht kämpfen!“, flüsterte Christiane und sah Mingan aus ihren großen, grünen Augen hilflos an.
„Wenn du mit deiner Ausbildung fertig bist, kannst du deinen eigenen Weg wählen: Krieger oder Lehrer, je nach deinen Vorlieben und Stärken. Aber manchmal kann man Kämpfe leider nicht vermeiden.“ Er seufzte, bevor er fortfuhr. „Ehe ich euch in die Praxis einführe, möchte ich euch ein bisschen über unsere Kampfweisen aufklären“, erklärte er. „Wir haben mit Hakan einen Pakt geschlossen, der sowohl uns als auch unsere Feinde dazu zwingt, unsere Existenz geheim zu halten. Aus diesem Grund sind wir verpflichtet, lange Gewänder, die uns vollständig verhüllen und nur die Augen frei lassen, zu tragen, sobald wir diese Schule verlassen. Je nach Rang des entsprechenden Wandlers hat sein Gewand eine andere Farbe.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr. „Es ist nicht einfach, in diesen Gewändern zu kämpfen, aber das werdet ihr alles noch lernen. Genauso wie den Schwertkampf.“
„Schwertkampf?“, fragte Leo erstaunt. „Wozu brauchen wir das denn?“
„Oft werden Kämpfe zwischen einzelnen Personen in Duellen ausgetragen. Um sich zu duellieren, gibt es drei Möglichkeiten: einmal den Kampf auf Ebene Zwei - der Gefühlsebene. Gelingt es einem der beiden Kontrahenten, den Schutzwall seines Gegners zu durchbrechen, gewinnt er.
Dann das direkte Kräftemessen: Die beiden Gegner schleudern Energiebälle gegeneinander. Treffen sie aufeinander, werden die Kontrahenten für kurze Zeit durch einen Energiestrahl verbunden, auf dem die Energiebälle sich frei bewegen können. Geht einem der Duellanten die Kraft aus, wird die energetische Verbindung unterbrochen und er wird von den Energiebällen getroffen. Auch das werdet ihr alles noch lernen. Und schließlich die letzte Möglichkeit: der Schwertkampf. Es ist eine Frage der Kraft, aber auch der Geschicklichkeit, der Eleganz und der Taktik, einen solchen Kampf zu gewinnen. Er ist die beliebteste der drei Möglichkeiten.“
„Warum benutzt man nicht einfach Pistolen?“, wollte Leo wissen.
„Es hat nichts Ehrenvolles, mit einer Pistole um sich zu schießen und wahllos Menschen oder Wandler zu töten“, erklärte Mingan. „Wir bevorzugen den Schwertkampf.“
Felicitas' Mundwinkel zuckten unwillkürlich, als sie sich den alten Mingan mit einem Schwert in der Hand vorstellte.
„Ob er überhaupt noch kämpfen kann?“, fragte sie sich und musterte ihren Lehrer abschätzend. Trotz seines Alters stand er aufrecht und wirkte selbstbewusst, obwohl sein Körper von dem schwarzen Umhang, den er trug, fast vollständig verhüllt wurde. Wieder fiel Felicitas die unheimliche Ruhe auf, die von diesem Mann auszugehen schien und zu der das Funkeln in seinen Augen so gar nicht passen wollte.
„Was er wohl schon alles erlebt hat?“ Wieder war diese Frage plötzlich da, bevor Felicitas es wirklich merkte. „Bestimmt hat er schon oft gekämpft. Hat schon oft seine Gaben angewendet. Ob auch er früher seine Familie verlassen hat? Ob er jemals gezweifelt hat, ob das, was er tut, richtig ist?“
Mingan erklärte die Gewänder, die außerhalb der Schule getragen werden mussten, und beschrieb verschiedene Arten von Schwertern, doch es gelang Felicitas nicht, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Sie starrte an Mingan vorbei aus dem Fenster. Die Welt wurde von einer tiefen, undurchdringlichen Dunkelheit verschlungen. Unwillkürlich dachte Felicitas an die vielen Nächte, die sie zu Hause wach vor ihrem Fenster verbracht hatte, um eben jene Dunkelheit zu genießen. Die Nacht war einfach faszinierend gewesen. Die Stille und Einsamkeit, die sie mit sich brachte, hatte sie immer daran erinnert, dass der Mensch nicht alles begriff, nicht alles nach seinem Willen gestalten konnte. Aber jetzt, als Wandlerin, war plötzlich alles anders. Die Nacht war für sie zum Tag geworden. Als wollten die Wandler selbst die Zeiten beherrschen, auf die die Menschen keinen Einfluss hatten.
Nach dem Unterrichtsfach Kampf hatten sie Materie.
Die Lehrerin, Abey, war groß und schlank und hatte lange, braune Haare. Ihre Augen waren ebenfalls braun und musterten die Schüler aufmerksam.
„Ihr seid also die neue Klasse. Willkommen.“ Abey lächelte. Ein echtes, offenes Lächeln. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich auf dem freien Platz zwischen July und Simon nieder. „Ihr seht erschöpft aus“, bemerkte die Lehrerin.
Sie schwieg einige Augenblicke, bevor sie etwas leiser sagte: „Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aus seinem Leben herausgerissen zu werden. Aber ihr wurdet auserwählt, um mitzuhelfen, die Welt zu verbessern. Diese Aufgabe ist ein Teil von euch, genau wie eure Fähigkeiten. Ihr müsst lernen, sie zu akzeptieren.“
Dann räusperte sie sich und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare. „Wie ich schon gesagt habe, bin ich eure Lehrerin in Materie. Materie ist die erste der Drei Ebenen. Alles besteht aus Materie.“ Sie machte eine Geste, die den ganzen Raum einschloss.
„Stimmt es, dass wir wirklich lernen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen?“, fragte Jessy. Sie klang aufgeregt.
„Nun ja ... eigentlich nicht. Aber beinahe“, fügte Abey schnell hinzu, als sie Jessys enttäuschtes Gesicht sah. „Materie aus dem Nichts zu erschaffen, ist unmöglich. Aber ihr kennt doch sicherlich alle Einsteins berühmte Gleichung E = mc²? Laut ihr sind Masse und Energie nur zwei Einheiten einer gleichen Größe ...“
„Also ist es möglich, Energie in Materie umzuwandeln“, stellte Simon nüchtern fest. Felicitas sah den braunhaarigen Jungen überrascht an. Es war das erste Mal, dass er freiwillig etwas gesagt hatte.
„Genau.“ Abey nickte. „Als Wandler könnt ihr Energie viel besser wahrnehmen als normale Menschen. Ihr habt sozusagen ... ein besseres Gespür dafür. Denn die Drei Ebenen, auf denen eure Fähigkeiten beruhen, sind alle auf Energie aufgebaut. Materie, Gefühl, Traum.“ Sie erklärte weiter, wie Materie aufgrund der hohen Temperatur und Dichte in den Sekunden nach dem Urknall entstanden war und wie sich aus Staubteilchen durch Rotation die Planeten geformt hatten.
Es beruhigte Felicitas etwas, dass Abey nur von Dingen sprach, die sie schon längst gelernt hatte. Sie fürchtete sich davor, Materie zu erschaffen oder ihre neuen Fähigkeiten auf irgendeine andere Weise einzusetzen.
Nach dem Abendessen zogen Ailina und Felicitas sich in ihr Zimmer zurück. Felicitas ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie fühlte sich so erschöpft wie schon lange nicht mehr. „Wenn das hier jeden Tag so abläuft, halte ich das keine zwei Wochen durch“, stöhnte sie.
Ailina antwortete nicht. Sie hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt und starrte auf ihre Zeichnung, ohne sie wirklich zu sehen.
Plötzlich klopfte es und Jessy kam ins Zimmer. „Wo bleibt ihr denn? Alle anderen sind schon da!“
„Sind schon wo?“, fragte Felicitas.
„Na, auf Julys Party!“
„Die Party ...“, murmelte Ailina, wie zu sich selbst.
„Ihr kommt doch, oder?“, wollte Jessy vorsichtig wissen.
„Ja. Ja, natürlich.“ Mühsam richtete Felicitas sich auf. Sie hatte zwar nicht besonders viel Lust, jetzt auf eine Party zu gehen, aber dort würde sie zumindest abgelenkt werden. Auch Ailina folgte ihnen.
Der Gemeinschaftsraum war kreisrund und nicht besonders groß. An den Wänden lagen gelbe Sitzsäcke, auf denen sich die anderen bereits niedergelassen hatten, und der Boden war mit grauen Teppichen ausgelegt.
Leo war gerade dabei, eine Musikanlage anzuschließen. Durch die kleinen Fenster fielen schon die ersten Strahlen Sonnenlicht und ließen den Raum etwas fröhlicher wirken. Draußen zwitscherten Vögel und eine Taube gurrte. Doch drinnen herrschte drückendes Schweigen.
July hatte es anscheinend geschafft, Süßigkeiten zu organisieren, denn in der Mitte des Kreises aus Sitzsäcken war ein großer Haufen Gummibärchen und Schokolade aufgetürmt, daneben sammelten sich bereits leere Verpackungen.
Felicitas setzte sich zwischen Ailina und Christiane und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie zuckte zusammen, als auf einmal laute Musik den Raum erfüllte, doch Leo drehte sie schnell wieder leiser.
„Ehrlich gesagt habe ich mir meinen achtzehnten Geburtstag anders vorgestellt“, meinte July auf einmal leise.
„Ich habe mir vieles anders vorgestellt“, flüsterte Christiane.
„Aber wir sind jetzt nun mal hier und sollten das Beste daraus machen.“ Jessy bemühte sich, fröhlich zu klingen. „Carpe diem!“
„Oh bitte, komm mir nicht mit dem Scheiß!“ July verdrehte die Augen.
„Aber es ist doch wahr!“, verteidigte sich Jessy. „Ihr sitzt da, als ... als wäre gerade die Welt untergegangen!“
„Das ist sie ja auch.“ July sprang auf. „Verdammt noch mal!“, schrie sie. „Ich wollte doch überhaupt nicht hierher! Ich habe doch eine Familie! Einen Freund! Ein Leben!“
Plötzlich war es wieder still. Nur die Musik dudelte noch leise im Hintergrund. Mit einem langen Seufzer ließ July sich zurück in ihr Kissen sinken. „Tut mir leid“, murmelte sie und zupfte ihr Top zurecht, „ich ... habe mir nur vieles anders vorgestellt.“
„Vielleicht ist die eine Welt für uns untergegangen.“ Ailinas Stimme klang ruhig. „Doch dafür hat sich uns eine vollkommen neue eröffnet. Sie wartet nur darauf, von uns erobert zu werden.“
„Mädchen“, Alex verdrehte die Augen, „haben einen Hang zur Dramatik.“ Er versuchte, locker zu klingen, doch es gelang ihm nicht.
„Hey, was soll das heißen?“ Jessy, die neben ihm saß, ging auf seine Stichelei ein und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen.
„Gewalt ist keine Lösung, Kinderchen!“, mischte sich nun Leo mit erhobenem Zeigefinger und verstellter Stimme ein.
„Aber eine Möglichkeit“, konterte Jessy und kicherte.
Leo öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Jessy, warum nimmt eine Blondine immer einen Stein und eine Taschenlampe mit ins Bett?“, fragte er dann vollkommen ernst.
„Äh ...“ Hilfe suchend blickte Jessy in die Runde.
Leo zog die gepiercte Augenbraue hoch. „Um mit dem Stein das Licht auszuwerfen und dann mit der Taschenlampe zu gucken, ob es wirklich aus ist“, verkündete er dann.
Für einen kurzen Augenblick herrschte Stille und Jessy starrte ihn perplex an. Dann begann sie auf einmal zu lachen.
Ein wirkliches, befreites, ansteckendes Lachen, nicht mehr das angespannte Kichern.
Als Nächstes stimmten Alex und Leo mit ein, dann July und schließlich Christiane, Felicitas, Ailina und Simon.
Felicitas spürte, wie die Spannung von ihr abfiel und einer seltsamen Euphorie wich. Sie wusste, dass es nicht richtig war, wusste, dass das nicht ihr Platz war und dass sie eigentlich einfach nur zurück wollte, doch im Moment war ihr das egal. Sie lachte, bis ihr Tränen in die Augen stiegen und sie kaum noch Luft bekam.