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Die Legende der Wandler

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Am liebsten würde ich weglaufen, und oft frage ich mich, warum ich das nicht längst getan habe. Was hält mich noch hier? Der Glaube, dass ich noch etwas bewirken kann? Der Glaube an die Sonne, die jeden Morgen aufgehen soll, es aber nicht mehr schafft, die ewige Dunkelheit zu vertreiben?

Als Felicitas blinzelte, war das gesamte Zimmer in ein grelles, orangefarbenes Licht getaucht. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie, dass sie noch träumte. „Hast du gut geschlafen?“, fragte eine sanfte Stimme vom anderen Ende des Zimmers.

„Sandra? Wie spät ist es?“, murmelte Felicitas verschlafen.

„Zehn vor neun.“

„Ach so.“ Felicitas schloss die Augen wieder. Es waren Ferien, da konnte sie ruhig noch ein wenig länger schlafen.

„Zehn vor neun abends.“

Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Stimme gar nicht zu Sandra gehörte. Mit einem Ruck fuhr sie hoch und blickte geradewegs in die blauen Augen eines blonden Mädchens.

„Wer ...“, setzte sie an, als ihr schlagartig alles wieder einfiel. Der Traum. Ihre Fähigkeiten. Misae. Enapay.

„Ailina“, beantwortete das Mädchen ihre unausgesprochene Frage. „Und du musst Felicitas sein.“

„Ja. Felicitas. Ja“, murmelte Felicitas ein wenig verwirrt. „Hallo Ailina.“

Ailina lächelte. Es wirkte glücklich und traurig zugleich.

Irgendetwas an Ailina war anders als an anderen Menschen, das spürte Felicitas auf einmal. Aber was? Sie musterte ihre neue Zimmergenossin aufmerksam, konnte jedoch nichts entdecken, was sie irgendwie von anderen Mädchen in ihrem Alter unterschied.

„Wann hat er dich geholt?“, fragte Ailina auf einmal mit ihrer sanften Stimme. „Zu mir kam er mitten in der Nacht, als alle schliefen. Er hat gesagt, wir würden mit dem Unterricht beginnen, sobald alle da wären. Du warst die Letzte.“

Felicitas hatte Schwierigkeiten, Ailina zu folgen. „Äh ... die Letzte wovon?“

„Die Letzte, die er geholt hat.“

„Aha.“

„Also haben wir heute Nacht unsere ersten Unterrichtsstunden.“

„Heute Nacht?“

„Wandler sind nachtaktiv. Jessy hat es mir erzählt.“

Felicitas wollte gerade nachfragen, wer Jessy war, als Ailina aufstand.

„Du solltest dich umziehen. Es gibt bald Frühstück.“

Frühstück? Felicitas stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in flammendes Orange und ließ die Wolken hell erstrahlen. Nach Frühstück sah das Ganze nicht aus. Eher nach Abendessen.

Felicitas seufzte und durchwühlte ihre Sporttasche nach Kleidungsstücken.

„Ist das Sandra?“ Plötzlich stand Ailina neben ihr und sah auf das Foto, das Felicitas auf ihr Bett gelegt hatte.

Felicitas hielt inne und starrte das Foto einige Sekunden lang an. „Ja“, sagte sie schließlich.

„Sie ist deine Schwester, nicht wahr? Ihr seht euch sehr ähnlich.“

„Nein“, flüsterte Felicitas, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden. „Sandra hat braunes Haar, ich habe schwarzes. Sie hat Sommersprossen und einen viel schmaleren Mund.“

„Aber ihr habt die gleichen Augen“, bemerkte Ailina.

Felicitas nickte langsam. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sandra. Ihre Schwester würde sie am meisten vermissen. Sandra, die spontane, ungeschickte, tollpatschige Sandra, die das Leben auf ihre ganz eigene Art sah.

„Was habe ich mir nur dabei gedacht, sie alleine zurückzulassen?“, fragte Felicitas leise.

Ailina antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Also gab Felicitas sich einen Ruck, angelte ein paar Klamotten aus der Tasche und zog sich um.

Als Felicitas Ailina durch die Gänge des Schlosses folgte, fiel ihr auf, wie anders hier alles bei Nacht wirkte. Die Sonne war bereits untergegangen und nur die Fackeln warfen noch ihre flackernden, tanzenden Lichter an die Wände. Jetzt konnte sie auch die Zeichnungen sehen. Dünne, schimmernde Linien wanden sich an den grauen Steinen entlang bis hoch an die Decke und vereinigten sich zu einem geheimnisvollen, magischen Muster.

Sie liefen durch die leeren Korridore des Schlosses, eine Treppe hinunter, eine andere wieder hinauf und dann wieder durch etliche Gänge.

„Jetzt ist es nicht mehr weit“, meinte Ailina auf einmal.

„Ein Glück.“ Felicitas glaubte nicht, dass sie sich in diesem Schloss jemals alleine zurechtfinden würde.

Schon von Weitem konnte sie das Stimmengewirr und Gelächter hören, das in den leeren Korridoren seltsam verzerrt widerhallte.

Schließlich standen sie vor einer weit geöffneten hölzernen Flügeltür, in die verschiedene feine Muster eingearbeitet waren. Dahinter erstreckte sich ein großer Saal, in dem drei lange Tische standen. Jeder Einzelne von ihnen war voll besetzt.

„So viele Schüler gibt es hier?“, fragte Felicitas erstaunt.

„Ja. Ungefähr sechzig“, erklärte Ailina. Dann deutete sie unauffällig zu einem weiteren Tisch, der ein wenig höher als die übrigen an der Stirnseite der Halle stand. „Dort sitzen die Lehrer.“

Felicitas entdeckte Enapay an dem Tisch. Er unterhielt sich mit einem mindestens ebenso alten Mann neben ihm, doch plötzlich hob er den Kopf und sah sie direkt an. Er runzelte die Stirn, als würde ihn etwas wundern, doch dann lächelte er. „Komm.“ Ailina ging voraus durch die Halle und steuerte auf den hintersten Tisch zu.

„Hi Ailina!“, rief ein rothaariges Mädchen plötzlich.

„Hallo Jessy.“ Jessy rutschte ein wenig zur Seite, sodass neben ihr genug Platz für Ailina frei wurde.

„Äh ...“, setzte Felicitas an, um die Freundinnen auf sich aufmerksam zu machen, doch Ailina hatte sie nicht vergessen.

„Das ist Felicitas“, erklärte sie.

„Hallo Felicitas!“ Zu Felicitas Überraschung stand Jessy auf und kam auf sie zu. Anscheinend wollte das Mädchen sie umarmen. Felicitas zuckte zurück. Sie hatte zu viel Angst vor dem Körperkontakt zu einem anderen Menschen.

„Oh, natürlich. Diese blöde Gabe. Die vergesse ich aber auch immer wieder.“ Jessy lächelte entschuldigend und Felicitas kam nicht darum herum, sie zu mögen. Für ihre spontane Art und ihre Freundlichkeit. Und vielleicht auch, weil Jessy sie ein wenig an Sandra erinnerte.

„Macht euch nicht so breit!“, rief Jessy. Nachdem auf der Bank ein wenig gerutscht worden war, passte Felicitas noch zwischen Ailina und Jessy. „Bist du auch auf Misae geflogen?“, fragte Jessy, sobald Felicitas sich gesetzt hatte. „Es ist toll, nicht wahr? Dieses Gefühl, wenn man in den Himmel hinaufschießt ...“

Plötzlich wurde es still im Saal und Jessy verstummte. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Enapay, der sich erhoben hatte.

„Guten Abend alle zusammen“, sagte er höflich. „Ich freue mich, euch mitteilen zu dürfen, dass unsere Schule wieder Zuwachs bekommen hat. Insgesamt acht neue Schülerinnen und Schüler.“

Enapays Blick schweifte durch den Saal. „Sie werden heute Nacht mit dem Unterricht beginnen.“

Auf einmal füllte aufgeregtes Stimmengewirr die Halle.

„Das wurde aber auch Zeit!“, rief Jessy und ihre Augen leuchteten, als sie sich an Felicitas und Ailina wandte. „Stellt euch mal vor, wir werden zu Wandlern ausgebildet! Wir lernen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen! Und Gefühle von anderen Menschen wahrzunehmen und ...“

„Ruhe!“ Enapays Stimme erfüllte die Halle. „Ich bitte die Neuen, nach dem Essen mit Ituma“, er deutete auf die dunkelhaarige Frau neben sich, „mitzugehen. Sie wird euch in die Geheimnisse der Wandler einweisen und euch helfen, eure neue Rolle besser zu verstehen.“ Plötzlich heftete sich sein Blick auf Felicitas. „Ich wünsche euch viel Erfolg“, fügte er hinzu, dann setzte er sich wieder.

Augenblicklich schwoll der Lärmpegel wieder an.

„Ich freu mich so! Das wird so cool!“, rief Jessy und klatschte aufgeregt in die Hände. Felicitas musste lächeln. Jessy wirkte wie ein kleines Kind an Weihnachten, das sich darauf freute, endlich die Geschenke zu öffnen.

„Wie, meinst du, wird hier der Unterricht sein?“, wandte Felicitas sich an Ailina. Mit Jessy konnte man momentan keine vernünftige Unterhaltung führen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Ailina ruhig und nahm sich ein Brötchen.

„Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken?“, rief Jessy etwas zu laut.

Ailina zuckte mit den Schultern. „Wenn ich nicht esse, habe ich Hunger. Und wenn ich Hunger habe, kann ich mich nicht so gut konzentrieren“, erklärte sie gelassen. Für einen kurzen Augenblick sah Jessy sie perplex an, dann nahm sie sich auch ein Brötchen.

Gegen ihren Willen musste Felicitas lächeln. „Sandra“, murmelte sie leise.

Nach dem Essen verließen die älteren Schüler die Halle. Langsam wurde Felicitas nervös, während sie immer wieder zu dem Tisch der Lehrer hinaufschielte. Ituma sprach noch immer mit Enapay. Worüber die beiden wohl redeten?

Felicitas hing ihren Gedanken nach, während Jessy neben ihr ununterbrochen plapperte und Ailina gedankenverloren Muster in einen Klecks Marmelade zeichnete.

„Hallo und herzlich willkommen an unserer Schule!“ Itumas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Lehrerin hinter sie getreten war. „Darf ich euch bitten, mir zu folgen?“ Felicitas glaubte, einen leichten französischen Akzent in ihrer Stimme wahrzunehmen. Gemeinsam mit den fünf anderen folgten Ailina, Jessy und Felicitas Ituma aus dem Saal hinaus und dann wieder durch die Gänge des Schlosses. Die fremdartigen Muster leuchteten jetzt noch viel stärker als vorher und ließen Felicitas erschaudern. Was sie wohl bedeuteten?

„Es sind Schriftzeichen“, sagte Ailina plötzlich leise.

„Was?“

„Die Linien.“ Die Fingerspitzen des blonden Mädchens fuhren an der Wand entlang. „Sie gehören zu einer alten Sprache. Ich kann sie nicht entziffern.“

„Wieso hat man sie an die Wände und an die Decken gemalt?“, fragte Felicitas Ailina.

Doch es war Ituma, die ihr antwortete. „Damit wir nicht vergessen, wofür wir kämpfen“, sagte sie knapp.

Nun streckte auch Felicitas zögernd die Hand aus und fuhr die geheimnisvollen Linien mit dem Finger nach. Die Steine fühlten sich rau an und kalt.

Erst jetzt fiel Felicitas auf, wie ruhig es um sie herum war. Keiner der anderen Jugendlichen sagte ein Wort, sogar Jessy war still. Nur ihre Schritte hallten unheimlich laut in dem mit Fackeln beleuchteten Gang wider.

Verstohlen musterte Felicitas ihre neuen Klassenkameraden. Neben Jessy und Ailina befanden sich noch zwei Mädchen in der kleinen Gruppe und drei Jungen. Einer von ihnen hatte einen schwarzen Wuschelkopf und blaue Augen. Seine Hände hatte er in den Taschen seiner Jeans vergraben, während sein Blick an den Wänden entlangwanderte. Die anderen beiden hatten braune Haare, in die sich einer eine grüne Strähne hatte färben lassen. Als hätte er Felicitas' Blick bemerkt, drehte er sich auf einmal um und lächelte. Ein zitterndes, gezwungenes Lächeln.

„Sie wollen genauso wenig hier sein wie ich!“, schoss es Felicitas durch den Kopf, bevor sie eines der Mädchen näher betrachtete. Es hatte eine hüftlange, blonde Mähne und trug hohe Stiefel, deren Absätze bei jedem Schritt klackerten. Dazu eine Röhrenjeans und ein eng anliegendes, blaues Top, über das es eine Weste gezogen hatte. Das andere Mädchen erschien wie das genaue Gegenteil der Blonden. Es hatte kurze, braune Haare und ging ein wenig gebückt, als hätte es Angst, zu sehr aufzufallen. Felicitas musterte es genauer. Wie alt es wohl war? Auf jeden Fall nicht über vierzehn ...

„Wartet.“ Itumas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Die Lehrerin war vor einer dunklen Tür stehen geblieben und führte die Schüler in den kleinen, gemütlichen Raum dahinter. An der Wand prasselte ein Kaminfeuer und der Boden war mit weichen Teppichen ausgelegt. In der Mitte des Raumes stand ein Kreis aus Stühlen.

„Nehmt Platz“, forderte Ituma sie auf. „Ich freue mich, dass ihr alle hier seid“, erklärte sie, als sich alle gesetzt hatten. Sie ließ ihren Blick von einem Schüler zum nächsten schweifen. „Julia, nicht wahr?“, fragte sie die Blonde plötzlich.

„July“, korrigierte diese sie knapp.

Ituma nickte. „Und du bist Christiane.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Das Mädchen mit den kurzen, braunen Haaren nickte und sah die Lehrerin aus ihren großen, grünen Augen unsicher an.

„Jessy.“ Itumas Blick wanderte weiter. „Felicitas. Ailina.“

Alle drei nickten.

„Alex“, wandte sie sich an den Jungen mit dem schwarzen Wuschelkopf.

„Ja“, sagte Alex etwas zu laut.

Jessy kicherte.

„Und ihr seid ... Simon und Leonard?“ Ituma blickte die beiden Jungen mit den braunen Haaren an. Erst jetzt fiel Felicitas auf, wie ähnlich sie sich sahen. Hätte einer von ihnen nicht eine grüne Strähne in den Haaren und ein Piercing in der rechten Augenbraue gehabt, sogar identisch.

„Leonard und Simon“, verbesserte der ohne Piercing ruhig.

„Leo“, betonte der andere. Ituma nickte und wirkte dabei fast ein wenig hilflos. Dann trat sie einige Schritte zurück, sodass sie alle Schüler gut ansehen konnte.

„Ihr alle werdet nun ein neues Leben beginnen. Ein gefährliches Leben. Und ein fantastisches, magisches Leben. Ein Leben, in dem es darauf ankommt, wie viel ihr gelernt habt, wie gut ihr mit euren Gaben umgehen könnt. Enapay hat mich gebeten, euch ein wenig in die Legende der Wandler einzuführen, und ich möchte gleich damit beginnen.“

Ituma schritt um den Kreis aus Stühlen herum, das Geräusch ihrer Schritte wurde von dem dicken Teppich gedämpft.

„Vor langer Zeit lebten auf der Erde allerhand magische Geschöpfe. Einhörner zum Beispiel. Und Drachen. Die Menschen verehrten sie wie Götter, und so lebten diese vielen unterschiedlichen Geschöpfe lange friedlich miteinander. Doch die Zeiten änderten sich. Nichts besteht ewig. Weder Freundschaft noch Feindschaft.“ Ituma hielt kurz inne, den Blick starr an die Wand gerichtet. Doch schließlich fing sie sich wieder und setzte ihre Erzählung fort: „Irgendwann begannen die Menschen, Jagd auf die Einhörner zu machen, um an ihre wertvollen Hörner zu kommen. Und sie versuchten die Drachen zu töten, aus Angst, diese könnten ihnen etwas antun. Auf einmal waren die Jahre des Friedens vergessen. Die Menschen wollten die Erde für sich allein, sie waren besessen von Machtgier und Hass. Die Drachen sahen keinen anderen Ausweg mehr, als mithilfe ihrer Magie eine neue, eine eigene Welt zu erschaffen. Dafür benötigten sie eine unvorstellbar große Menge Energie. Um diese Energie freizusetzen, vereinigten sich die Drachen in einem Körper und bündelten so ihre Kräfte.

Sie erschufen das Land der Träume und herrschten in der Gestalt des Drachen Etu über ihre Welt. Aber schon bald merkten sie, dass die Menschen sich mit ihrer Machtgier und ihrem Hass auch selbst zerstören würden. Und so sandten sie uns aus – die Wandler. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen die Augen zu öffnen und sie dazu zu bringen, wieder an die Fantasie zu glauben und sich gegenseitig zu respektieren. Sich von Verstand und Nächstenliebe leiten zu lassen anstelle von Machtgier und Hass. Damit wir dies verwirklichen können, statteten sie uns mit besonderen Gaben aus: Wir lernten, die Drei Ebenen zu verstehen und sie zu beherrschen. Die Drei Ebenen sind Materie, Gefühl und Traum. Mit unseren Fähigkeiten können wir zum Beispiel die Gefühle eines anderen Menschen wahrnehmen. Wir können Gegenstände aus dem Nichts erschaffen und die Träume von Menschen ohne ihr Wissen verändern. Aber wir dürfen diese Gaben nie für unseren persönlichen Vorteil nutzen! Nur für das Wohl der Menschen und der Wandler.“

„Was ist mit Feinden?“, fragte Alex. „Haben wir auch Feinde?“

Wir. Felicitas musterte ihn abschätzend. Fühlte er sich tatsächlich jetzt schon den Wandlern zugehörig?

„Natürlich haben wir Feinde“, sagte Ituma. „Merkt euch eines, es wird eure erste Lektion sein: Ohne Gut gibt es kein Böse und ohne Böse kein Gut. Wo Licht ist, da ist auch immer Schatten. Es gibt auch Wandler, die nicht versuchen, den Menschen die Augen zu öffnen, wie wir es tun, sondern sie zu bestrafen für das, was sie den magischen Geschöpfen damals angetan haben. Wir nennen ihren Anführer Hakan, das bedeutet übersetzt Feuer.“

„Haben all eure Namen eine Bedeutung?“, fragte das kleine Mädchen mit den braunen Haaren. Felicitas erinnerte sich, dass ihr Name Christiane war.

„Ja“, erklärte Ituma, „Ituma bedeutet übersetzt Weißer Stein. Wenn ihr eure Ausbildung vollendet habt und endgültig in den Kreis der Wandler aufgenommen werdet, bekommt auch ihr neue Namen. Namen indianischen Ursprungs. Sie sollen unsere Verbundenheit mit den Menschen und ganz besonders mit den alten Völkern zeigen, die noch an Magie geglaubt haben, bevor sie von der neuen, technikorientierten Generation überrannt worden sind.“ Sie schwieg kurz. „Hat noch jemand Fragen?“

Keiner rührte sich. Da war so viel, was Felicitas noch im Kopf herumspukte, doch sie traute sich nicht, es in Worte zu fassen.

„Gut, dann kommen wir zu eurem Stundenplan.“

„Dürfen wir unsere Familien besuchen?“, fragte Christiane leise. Ihre Stimme zitterte.

„Nein“, antwortete Ituma knapp, doch ihr Blick war mitleidvoll. „Alles, was ihr hier lernt und erlebt, muss geheim bleiben. Deswegen dürft ihr, zumindest solange ihr in der Ausbildung seid, keinen Kontakt zur Außenwelt haben.“

„Und wie lange dauert die Ausbildung?“, wollte Jessy wissen.

„Ein bis drei Jahre, es kommt ganz darauf an, wie talentiert du bist und wie eifrig du lernst. Nun gut ... sonst noch Fragen?“ Als niemand etwas erwiderte, fuhr Ituma fort. „Also, im ersten halben Jahr habt ihr die Fächer Materie, Gefühl, Traum, Kampf, Energie und Philosophie. Ich werde eure Lehrerin in Philosophie sein, eure anderen Lehrer werdet ihr bald kennenlernen. Aber noch nicht heute Nacht.“

Sie ließ ihren Blick durch die Runde schweifen.

„Jeden Abend gibt es um neun Uhr Essen, danach beginnt der Unterricht. Anschließend habt ihr Zeit, eure Hausaufgaben zu erledigen und das zu tun, was ihr wollt.“ Ihr Ton wurde schärfer. „Dabei dürft ihr jedoch weder das Schulgelände verlassen noch in die Kellergewölbe hinuntersteigen!“

„Wie in einem Gefängnis“, dachte Felicitas bitter.

„Das gilt auch sonntags, denn das ist euer unterrichtsfreier Tag. Um sechs Uhr gibt es dann wieder Essen.“ Ihr Blick schweifte durch die Runde. „Wenn es keine Fragen mehr gibt, führe ich euch noch ein wenig durch das Schloss.“

Einige der Jugendlichen erhoben sich zögernd und folgten Ituma auf die Tür zu.

„Das hier ist euer Klassenzimmer.“ Die Lehrerin schloss in einer einzigen Handbewegung den ganzen Raum ein. „Eure Zimmer und den großen Saal habt ihr ja bereits gesehen. Im zweiten Stock befindet sich ein zusätzlicher Raum für euch, aber ich bin mir sicher, das ist den meisten ebenfalls bekannt.“ Sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern fuhr gleich fort. „Ich dachte mir, dass ich euch zuerst die Bibliothek zeige ...“

Felicitas hörte kaum zu, als sie Ituma aus dem Raum folgte. Draußen auf dem Gang war es kalt und es roch nach Moos und feuchtem Stein. Felicitas wunderte sich, dass ihr das vorher noch nicht aufgefallen war. Auf einmal fühlte sie sich so verloren zwischen all den fremden Leuten. Zwischen Ailina, Jessy, Ituma und all den anderen, die sie vor diesem Tag noch nie gesehen hatte. Und jetzt sollte sie auf einmal in diesem Schloss bleiben, ihre Familie und ihre Freunde lange nicht wiedersehen. Ihre wirklichen Freunde.

Auf einmal schienen die dicken Mauern näher zusammenzurücken, sie gefangen zu halten. Die geheimnisvollen Zeichen wirkten so fremd wie eh und je. Das war nicht ihre Welt. Vielleicht gehörte Ailina hierher. Oder Jessy. Aber sie nicht. Sie gehörte zu ihrer Familie. Zu Sandra.

Felicitas spürte, wie warme Tränen über ihre Wangen rannen, die sie schnell mit dem Handrücken fortwischte.

„Du vermisst sie, nicht wahr?“ Plötzlich war Ailina neben ihr. Ihre ruhigen, blauen Augen musterten sie besorgt und auf einmal glaubte Felicitas zu erkennen, was Ailina so sehr von den anderen unterschied: Es waren ihre Augen. Ihre ernsten, sanften Augen, in denen sich so viel Weisheit, so viel Traurigkeit spiegelte.

„Ja“, flüsterte Felicitas aus Angst, ihre Stimme würde brechen, wenn sie lauter spräche. „Hier ist alles so anders, so fremd. Ich gehöre nicht hierher.“

Ailina sah sie nur an. Und doch hatte Felicitas das Gefühl, als wüsste das Mädchen ganz genau, was sie gerade durchmachte.

„Aber ich habe diese Gaben. Vielleicht ist es mein Schicksal, hier zu sein. Vielleicht kann ich gar nichts dagegen tun“, sagte Felicitas leise.

„Jeder bestimmt sein Leben selbst. Es gibt kein Schicksal, das uns zwingt, etwas zu tun, was wir eigentlich gar nicht wollen. Wir müssen selbst entscheiden – und den gewählten Weg dann zu Ende gehen.“ Ailinas Stimme klang ruhig.

„Bist du deswegen so stark?“, dachte Felicitas. „Weil du glaubst, dass es kein Zurück mehr gibt? Oder weil du einfach nach vorne siehst, egal, was passiert? Ich bin mit Enapay mitgegangen, und jetzt bin ich hier. Es war meine Entscheidung. Heißt das jetzt, dass ich nie mehr zurück kann?“ Sie seufzte leise und versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Ihr Blick streifte an den Wänden und den silbernen Zeichen entlang, ohne sie wirklich zu sehen.

Schließlich erreichte die kleine Gruppe die Eingangshalle und Ituma stieß das große Tor auf. Felicitas spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihr abfiel, als sie hinaus auf den nächtlichen Hof trat. Lauwarmer Wind trug den Geruch des Waldes zu ihr hinunter und wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie über sich die Sterne funkeln sehen. Heller, als sie es je in der Stadt vermocht hätten. Der volle Mond tauchte die Wiese vor ihr in ein silbriges Licht, doch die Mauer auf der anderen Seite war in Schatten gehüllt. Hier spürte sie die nächtliche Faszination noch stärker. Stille. Einsamkeit. Schatten.

Wandler sind nachtaktiv.

Das hatte Ailina gesagt, erst vor Kurzem.

War sie deswegen schon immer so fasziniert von der Dunkelheit gewesen? Weil sie tief in ihrem Inneren schon immer gewusst hatte, dass sie anders war? Dass sie eine Wandlerin war?

Die Chroniken der Wandler

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