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Das Band der Gefühle

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Sie kommt zurück. Warum? Sie ist so unwissend, sie hat noch eine Wahl. Ich weiß, dass ich mich eigentlich freuen sollte. Aber sie tut mir leid.

Lautlos setzte der Nanook Dyami im hohen Gras neben dem klaren, blauen See auf. „Siehst du die Schule?“, wollte Mingan wissen.

„Natürlich.“ Felicitas' Antwort klang schärfer als beabsichtigt. „Ich bin schließlich nicht blind.“

Das kleine Schloss erhob sich direkt vor ihnen. Mit seinen schmutzigen, braunen Mauern, von denen bereits der Putz abbröckelte, und dem dunkelgrünen Moos wirkte es baufällig und wenig einladend.

„Danke.“ Mingan neigte den Kopf vor seinem Nanook Dyami.

„Es war mir eine Ehre.“ Der Wolf erwiderte die höfliche Geste, blinzelte Felicitas einmal freundlich zu, drehte sich dann um und trottete, die riesigen Adlerschwingen dicht an den grauen Körper gepresst, in den Wald.

„Was haben Sie den anderen erzählt, wenn sie gefragt haben, wo ich bin?“, wollte Felicitas von Mingan wissen, während sie vorneweg um den See herum und auf das Schlosstor zuging.

„Dass du dich nicht wohlfühlst und im Bett geblieben bist.“ Er schwieg kurz. „Ich habe gesehen, wie du weggelaufen bist“, erklärte er schließlich leise.

Felicitas antwortete nicht, weil sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Sie beobachtete nur, wie die Sonne, die hellgelb und wässrig über den Horizont spähte, das Wasser des Sees in den verschiedensten Farben schimmern ließ.

„Nicht da entlang.“ Mingans Stimme ließ sie anhalten.

„Wo lang dann?“

„Wir gehen hinten herum, damit wir nicht so leicht gesehen werden können. An der Rückseite des Schlosses gibt es eine kleine Tür, die ebenfalls ins Innere führt. Halte dich im Schatten der Bäume.“

Felicitas überließ ihrem Lehrer die Führung, als sie nah am Waldrand um das Schloss herumgingen. „Es ist ein gutes Zeichen, dass du die Schule siehst“, sagte Mingan auf einmal. Er ließ Felicitas gar keine Zeit, auf seine merkwürdige Bemerkung zu reagieren, da er bereits fortfuhr: „Du weißt sicher, dass das Schloss von einem Bannkreis umgeben ist, der von Enapay aufrechterhalten wird. Er macht es Menschen – oder Wandlern – die die Schule nicht wirklich finden wollen, unmöglich, sie zu sehen.“

Sie betraten das Schloss durch eine kleine Hintertür und Felicitas fand sich in einem Teil der Schule wieder, den sie noch nie betreten hatte. Mingan führte sie durch schmale, verwinkelte Korridore bis kurz vor ihr Zimmer, wo er sich dann mit knappen Worten von ihr verabschiedete. Felicitas überlegte noch, ob sie sich bei ihm für seine Mühen bedanken sollte, als er ihr bereits den Rücken zuwandte und durch die langen Gänge verschwand.

So plötzlich allein gelassen wusste Felicitas nicht so recht, was sie tun sollte. Sie hatte Angst davor, ihr vertrautes Zimmer zu betreten und Ailina erklären zu müssen, wo sie gewesen war. Aber sie konnte unmöglich hier draußen stehen bleiben oder ziellos im Schloss umherirren. Außerdem, so schwor sie sich, wollte sie nie wieder auch nur in die Nähe der Bibliothek gehen.

So stand sie eine ganze Weile vor der hölzernen Tür, die in Ailinas und ihr Zimmer führte, und traute sich nicht, sie zu öffnen. Dabei kam ihr der für diesen Moment wohl abwegigste Gedanke überhaupt: dass sie nämlich immer noch keine Namensschilder an das blanke, braune Holz geklebt hatten, wie Jessy es von ihnen verlangt hatte.

Als sie sich schließlich überwand, die Tür zu öffnen und einzutreten, sah Ailina sofort auf. Sie saß auf ihrem Bett und war anscheinend gerade dabei gewesen, in einem dicken Buch zu blättern. „Hallo“, sagte sie langsam.

„Hi.“ Felicitas traute sich nicht, ihrer Freundin in die Augen zu sehen, während sie zu ihrem Bett hinüberging und ihren Schlafanzug unter der Decke hervorzog.

„Bleibst du jetzt hier?“, wollte Ailina leise wissen.

„Ja.“ Felicitas nickte.

Dann sagte keines der beiden Mädchen ein Wort mehr. Selbst nachdem Felicitas sich umgezogen hatte und in ihr Bett gekrochen war, lastete das schwere Schweigen noch auf ihnen. Ailina starrte auf die Seite des Buches, die sie gerade aufgeschlagen hatte, schien sie aber gar nicht wirklich zu sehen.

In Felicitas regte sich ein schlechtes Gewissen, als sie daran dachte, wie bereitwillig ihre Freundin ihr von dem Unfall und dem Tod ihrer Eltern erzählt hatte. Und sie lag jetzt einfach nur da und schwieg, obwohl sie doch wusste, dass Ailina gerne wissen würde, was los war.

„Ich war draußen“, erklärte Felicitas schließlich leise. „Im Wald.“

„Ich weiß“, murmelte Ailina. „Mingan hat es mir erzählt.“ Wieder war es kurz still im Zimmer. „Wieso bist du weggelaufen?“

„Ich ...“ Felicitas brach ab und starrte auf ihre weiße Bettdecke. Sie schuldete Ailina die Wahrheit, aber was, wenn sie ihre Freundin dadurch in Gefahr brachte?

„Du musst es mir nicht sagen.“ Ailina schien zu merken, wie schwer Felicitas sich tat.

„Doch ...“ Felicitas holte einmal tief Luft und begann dann zu erzählen. Sie berichtete von ihren seltsamen Träumen, in denen Eva vorgekommen war und versucht hatte, ihr etwas mitzuteilen. Von dem schwarzen Buch, das sie durch Zufall entdeckt und dann teilweise gelesen hatte. Von Medas Spiel. Von Aranck und schließlich von Mingans Auftauchen. Und mit jedem ausgesprochenen Wort schien es ihr, als fiele eine tonnenschwere Last von ihren Schultern.

Ailina hörte schweigend zu und unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Als Felicitas schließlich geendet hatte, klappte Ailina das Buch zu, das die ganze Zeit über offen auf ihrem Schoß gelegen hatte, und sah Felicitas an. „Es ist schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich vermisst“, gestand sie.

Felicitas lächelte und merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass ihr Tränen in den Augen standen. „Es tut mir leid.“

„Das muss es nicht.“ Ailina schwieg kurz und spielte gedankenverloren mit dem bronzefarbenen Anhänger ihrer Kette. „Bist du dir sicher, dass deine Träume manipuliert waren? Ich meine, was, wenn sie ganz normale, ursprüngliche Träume waren und du ...“

„Ich bin mir sicher“, unterbrach Felicitas sie. „Auch wenn ich dir nicht genau erklären kann, wieso. Verstehst du ... normalerweise sind Träume doch irgendwie vertraut ... die Umgebung, der Geruch, irgendetwas!“ Sie suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Richtige Träume setzen sich doch zusammen aus Dingen, die man bereits erlebt hat, oder aus Wünschen oder ... aus irgendetwas Persönlichem halt, aber an den Träumen von Eva war nichts Persönliches. Sie haben sich irgendwie falsch angefühlt ... fremd. Verstehst du?“

„Nein“, seufzte Ailina. „Aber ich glaube, ich weiß ungefähr, was du sagen willst.“ Sie ließ den Anhänger ihrer Kette vor ihrer Brust kreisen. „Und das Buch? Ich meine, bist du dir sicher, dass Meda es geschrieben hat?“

„Was soll das hier werden? Ein Verhör?“ Es gelang Felicitas nicht, den scharfen Unterton aus ihrer Stimme herauszuhalten.

„Nein, nein, natürlich nicht, tut mir leid. Ich wollte nur ... ich will nur begreifen, was hier vor sich geht.“

„Ich auch, glaub mir.“ Felicitas lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, zog die Beine an den Körper und legte die Arme darum. „Ja, ich bin mir sicher, dass Meda das Buch geschrieben hat. Ich habe sie gesehen, direkt nachdem ich es gelesen hatte, und sie danach gefragt.“

„Und sie hat es zugegeben?“

„Ja. Und als ich sie dann noch einmal auf die seltsamen Sätze darin angesprochen habe, hat sie etwas gesagt wie: Es ist für alle besser, wenn ich gewinne oder so etwas.“

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Ailina.

„Ich weiß es nicht“, gestand Felicitas. „Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst. Das mit dem Buch, meine ich, und all das andere auch. Ich habe Angst davor, wie Meda ... reagiert, wenn sie erfährt, dass ich darüber geredet habe.“

„Du meinst also nicht, dass wir mit einem Lehrer darüber sprechen sollten?“

„Nein.“ Felicitas schüttelte den Kopf. „Dazu habe ich ...“, sie wunderte sich darüber, wie viel Überwindung es sie kostete, die Worte auszusprechen, „zu viel Angst vor Meda. Und nicht nur um mich.“ Ihr Blick wanderte zu dem Foto von Sandra und ihr, das noch immer auf ihrem Nachttisch lag.

„Meda wusste, dass ich noch eine zweite Schwester habe, die längst tot ist. Ich will nicht erfahren, was sie sonst noch alles über mich weiß. Und vor allem nicht, wozu sie fähig sein kann. Du musst mir versprechen, dass du alles, was ich dir erzählt habe, für dich behältst! Versprich es mir jetzt gleich!“, drängte Felicitas.

Ailina hob die Hände zum Schwur. „Ich verspreche es.“

„Danke.“

Plötzlich fiel die Anspannung von Felicitas ab und sie fühlte sich nur noch todmüde und erschöpft.

Ailina warf einen Blick auf die Leuchtziffern, die auf ihrem Handydisplay blinkten. „Wir sollten noch ein wenig schlafen.“

Felicitas nickte, legte sich hin und kuschelte sich in ihre Decke. Sie roch seltsam vertraut nach Geborgenheit, Wärme und ein bisschen nach Waschmittel.

Pünktlich um zehn vor neun klingelte Ailinas Wecker. Die Sonne ging gerade unter und tauchte das kleine Zimmer in ein feuriges rot-orangefarbenes Licht.

Als Felicitas gemeinsam mit Ailina den großen Saal betrat, waren alle anderen bereits dort und frühstückten. Trotzdem konnten sie Jessy schon von Weitem hören. „Warte.“ Felicitas hielt Ailina am Arm fest. Sie hatte plötzlich Angst vor all den Fragen, die ihre Mitschüler ihr vermutlich gleich stellen würden.

„Sie glauben, dass du krank warst. Schon vergessen?“ Ailina lächelte sie beruhigend an, doch ihre Augen blieben ernst.

Wie zur Bestätigung sprang Jessy auf und eilte auf die Freundinnen zu. „Felicitas! Geht es dir wieder besser?“

„Äh ...“ Bevor sie antworten konnte, umarmte Jessy sie bereits so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. „Ich ...“, stammelte Felicitas überrascht, „ich hatte doch nur ...“ Sie warf Ailina einen Hilfe suchenden Blick zu. Als diese nur die Schultern zuckte, redete Felicitas schnell weiter. „Ich hatte doch nur leichtes Fieber und keine lebensgefährliche Krankheit!“

„Na dann“, Jessy löste sich von ihr und grinste sie an, „kann ich die Nussschnecke, die ich für dich aufgehoben habe, ja selber essen.“

„Du kannst sie mir geben!“, mischte sich jetzt auch Ailina ein.

„Dir? Du hattest doch auch keine lebensgefährliche Krankheit.“

Während Felicitas ihren Freundinnen zusah, wie sie sich neckend um die Nussschnecke stritten, überkam sie auf einmal ein schlechtes Gewissen, weil sie gedacht hatte, sie so einfach zurücklassen zu können.

In der ersten Unterrichtsstunde hatten sie Gefühl bei Amitola. Nachdem sie die Grundlagen – dazu zählte zum Beispiel das Abwehren von fremden Gefühlen - ein wenig wiederholt hatten, verkündete die Lehrerin, dass sie heute eine Stunde zu einem ganz besonders wichtigen Aspekt der Gefühle einfügen wollte. Nämlich dem Nayeli-Band, auch bekannt als das Band der Gefühle.

„Dieses Nayeli-Band verbindet euch mit den Menschen, die euch etwas bedeuten, mit den Menschen, die ihr liebt. Mithilfe dieses Bandes könnt ihr zu diesen Personen finden, ganz egal, wo sie gerade sind“, erklärte Amitola.

„Das ist doch völlig unmöglich!“ Die Worte waren ausgesprochen, bevor Felicitas sie zurückhalten konnte. Sie erinnerte sich noch zu genau an die Panik gestern im Wald, als ihr bewusst geworden war, dass sie sich verirrt hatte. Würde dieses Band tatsächlich existieren, hätte sie doch ohne Schwierigkeiten den Weg zu ihrer Familie finden müssen.

„Nein, das ist es nicht“, widersprach Amitola vollkommen ernst. „Das Nayeli-Band reicht sogar noch viel weiter: Werden einem Menschen, den ihr liebt, Schmerzen zugefügt, seid ihr in der Lage, das zu spüren. Natürlich auch, wenn er irgendein anderes starkes Gefühl erlebt.“ Ein Blick in die Gesichter ihrer Schüler machte Amitola deutlich, dass sie das noch genauer erklären musste. „Sicherlich kennt jeder von euch Personen, die ihm besonders wichtig sind. Personen, die tief in euren Herzen verankert sind. Wenn sie mit euch in Streit geraten oder gar sterben, tut es weh.“

Sie redete jetzt langsamer und überdeutlich, als versuchte sie, die Theorien der Wandler Begriffsstutzigen deutlich zu machen. „Mit diesen Personen verbinden euch gemeinsame Erlebnisse, Gefühle und so weiter. Und eben aufgrund dieser Gemeinsamkeiten entsteht das Nayeli-Band – ein Band, das euch stärker mit diesen Personen verbindet, als ihr vielleicht annehmt. Es ist so stark, dass sogar normale Menschen in der Lage sind, es zu fühlen.“

Felicitas bemühte sich, der Lehrerin zu folgen und jedes ihrer Worte mitzubekommen. Denn ihr war schnell klar geworden, dass dieses Band der Gefühle ihr vielleicht eines Tages den Weg zurück zu ihrer Familie zeigen konnte.

Die folgenden Tage vergingen schnell und ohne Zwischenfälle. Felicitas mied die Bibliothek und sprach mit niemandem mehr über ihren kurzen Ausflug in den Wald. Sie wusste nicht, warum, aber sie fühlte sich jetzt hier, in dem alten Schloss, viel wohler als früher, obwohl sie natürlich weiterhin oft an Sandra und ihre Familie dachte. Und an Aranck.

Manchmal stand sie am Fenster und beobachtete den Schnee, der in dicken, weißen Flocken vom Himmel fiel, und ertappte sich dabei, wie sie sich fragte, ob Aranck diese kalte Jahreszeit wohl etwas ausmachte. Ganz alleine in seiner Hütte im Wald. Er würde mehr Brennholz brauchen. Aber wo sollte er das herbekommen? Das Holz im Wald war jetzt sicherlich zu feucht, um damit ein Feuer zu entzünden.

Dann schüttelte sie jedes Mal den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, und versuchte, an etwas anderes zu denken. An ihren Unterricht zum Beispiel oder daran, dass Mingan Ailina und ihr versprochen hatte, sie bald die Anevay-Techniken zu lehren. Aber irgendwann schob sich dann doch wieder Aranck in ihre Gedanken. Sie machte sich Sorgen um den Jungen und vermisste ihn. Ihre starken Gefühle für ihn machten ihr Angst, schließlich hatte sie gerade einmal ein paar Stunden mit Aranck verbracht. Und die waren schon mehr als zwei Monate her.

***

Der hagere, schwarzhaarige Mann tigerte unruhig in der großen Höhle hin und her. Die Fackeln, die in eisernen Haltern an den Wänden befestigt waren, ließen flackernde Schatten über die zerklüfteten Wände tanzen und entlockten dem Mann trotz seiner quälenden Gedanken ein Lächeln.

Hakan hatten sie ihn genannt. Feuer.

Das Klackern von Absätzen hallte durch die Höhle und Hakan fuhr herum. Die Seherin trat aus einem kleinen Seitengang heraus und blieb einige Meter von ihrem Meister entfernt stehen.

„Ich bin alle weiteren Möglichkeiten durchgegangen, aber mir fällt nichts mehr ein.“ Hakan blickte die Seherin resigniert an. Diese erwiderte seinen Blick nur mit unergründlicher Miene.

„Vielleicht muss dir auch gar nichts mehr einfallen. Vielleicht geht dein Plan doch noch auf“, sagte sie schließlich.

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Wir warten schon seit fast drei Monaten!“

Die Augen der Seherin blitzten. „Wag es nicht, meine Macht infrage zu stellen“, zischte sie, bevor sie auf dem Absatz herumfuhr und sich einige weitere Schritte von Hakan entfernte. „Lass den Jungen rufen“, befahl sie, ohne den Meister anzusehen.

„Aber ...“, setzte Hakan an, doch die Seherin unterbrach ihn.

„Sofort!“

Als Hakan sich umdrehte und die Höhle verließ, ärgerte er sich darüber, dass er inzwischen schon widerstandslos die Befehle der schwarzhaarigen Frau ausführte. Aber sie mussten Onida unbedingt von der Wahrheit überzeugen und dazu blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.

Die Chroniken der Wandler

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