Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 33

Aranck

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Jetzt weiß sie also Bescheid, was es noch mal um einiges schwieriger für mich machen wird. Es wäre alles so leicht. Würden sie sich doch nicht so blenden lassen von dem Licht. Würden sie mir doch endlich zuhören. Aber so muss ich das Ganze alleine in die Hand nehmen. Ich muss sie führen, aber das ist mir unmöglich, wenn sie sich nicht führen lassen.

„Ich ... ich habe mich verlaufen!“, stotterte Felicitas. „Kannst du mir den Weg in das nächste Dorf zeigen?“

Der Junge warf einen kurzen Blick in den Himmel. „Du schaffst es nicht mehr aus dem Wald vor Einbruch der Nacht“, sagte er langsam.

„Aber ... aber was soll ich dann machen?“, fragte Felicitas verzweifelt.

Der Junge schien zu überlegen. „Meine Hütte ist ganz in der Nähe. Wenn du möchtest, kannst du die Nacht dort verbringen.“ Als er Felicitas' erschrockenen Blick bemerkte, fügte er schnell hinzu: „Keine Sorge, sie ist groß genug. Du kannst im Wohnzimmer schlafen.“ Er klang vollkommen ernst.

Felicitas wusste nicht so recht, was sie von diesem Angebot halten sollte. Sie musterte den Jungen misstrauisch und versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Dieser hielt ihrem Blick unbeeindruckt stand.

„Ich weiß nicht ...“

Felicitas sah in den dichten Wald, der sie von allen Seiten umgab. Die Dämmerung hatte bereits zwischen den Bäumen Einzug gehalten und ließ ihre Umgebung düster und bedrohlich erscheinen. Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut und sie wusste nicht, ob es an ihrer Angst oder an der Kälte lag.

„Wenn ich dir was tun wollte, hätte ich es doch schon längst getan, oder?“, fragte der Junge auf einmal.

„Ja. Ja, ich glaube schon.“ Felicitas klang unsicher. Ein fernes Heulen drang an ihr Ohr. „Gibt es hier Wölfe?“, fragte sie ängstlich.

„Ja, aber die leben noch tiefer im Wald“, erwiderte der Junge ruhig. Noch einmal wog Felicitas die Möglichkeiten ab. Entweder musste sie die Nacht in einem dunklen Wald voller Geräusche und wilder Tiere verbringen oder in der Hütte eines unbekannten Jungen, der ihr bis jetzt immerhin relativ ungefährlich erschien.

„Ich komme mit“, sagte sie leise. Der Junge nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, drehte sich um und ging los. Felicitas beeilte sich, ihm zu folgen. Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Keiner schien wirklich zu wissen, was er sagen sollte.

„Wie heißt du?“, wollte der Junge schließlich wissen.

„Erst du.“

Es dauerte einige Augenblicke, bis er antwortete. „Aranck.“

„Felicitas.“

„Das ist ein schöner Name.“

„Ja.“

Während sie weitergingen, wurde die Dunkelheit um sie herum immer dichter, undurchdringlicher. Seltsamerweise beunruhigte Felicitas die Dunkelheit nicht so sehr, wie sie angenommen hatte. Hier im Wald spürte sie das erste Mal seit Langem wieder die Einsamkeit und die Faszination, die die Nacht schon immer auf sie ausgeübt hatte. Hier, wo kaum Menschen lebten, wo keine Wandler die Ruhe störten.

Gerade als Felicitas Aranck fragen wollte, wie weit es noch bis zu seiner Hütte sei, schälten sich ihre Umrisse aus der Dunkelheit. Sie stand auf einer kleinen Lichtung und irgendwo in der Nähe hörte Felicitas das Plätschern von Wasser. Der Mond ließ das Gras silbrig schimmern und tauchte die kleine Hütte in unheimliches Licht.

Noch einmal fragte Felicitas sich, ob ihre Entscheidung, Aranck zu folgen, richtig gewesen war, aber jetzt war es sowieso zu spät, um noch etwas zu ändern. Deswegen folgte sie dem Jungen einmal um die Hütte herum, bis sie vor einer dunklen Tür standen. Aranck stieß dagegen und sie schwang mit einem leisen Quietschen auf. Im Inneren der Hütte war es dunkel, nur durch die Fenster fiel helles Mondlicht. Aranck ging vorneweg und Felicitas folgte ihm zögernd, stieß gegen eine hölzerne Kante und fluchte leise.

Sie konnte die Umrisse des Jungen in einer Ecke ausmachen, wie er sich über irgendetwas beugte. Dann flammte ein kleines Feuer auf und tauchte den Raum in ein gemütliches, goldenes Licht. Wie er so über den kleinen Kamin gebeugt dastand, wirkte Aranck auf einmal ganz anders als im Wald. Jetzt erst erkannte Felicitas, dass seine Haare nicht schwarz, sondern dunkelbraun waren und seine Haut ungewöhnlich blass. Auf einmal sah er viel kleiner und verletzlicher aus und Felicitas fiel auf, dass er kaum älter als sie selbst sein konnte.

„Möchtest du Tee?“, fragte Aranck.

„Äh, ja gerne, danke.“ Der Junge verschwand durch eine der drei Türen, die von diesem Raum abzweigten, in ein anderes Zimmer.

„Du kannst dich ruhig hinsetzen“, rief er von dort aus.

Felicitas ging zögernd auf das kleine, dunkelrote Sofa zu, das zusammen mit zwei ebenfalls dunkelroten Sesseln vor dem Kamin stand. Es war weich, und erst als sie sich darauf niederließ, merkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war. Dennoch sah sie sich weiter im Zimmer um. Es war klein und gemütlich eingerichtet. Außer dem Sofa und den Sesseln standen hier noch ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, ein Schrank und eine Kommode. Jetzt fielen Felicitas auch die kleinen Figuren auf, die auf der Kommode standen. Sie warf einen schnellen Blick auf die Tür, hinter der Aranck verschwunden war, stand dann auf und ging hinüber auf die andere Seite des Raumes.

Erst als sie direkt davorstand, erkannte sie, dass die Figuren allesamt aus Holz geschnitzt und angemalt waren. Die meisten von ihnen stellten Tiere dar. Sie entdeckte einen Wolf, der sie lauernd und mit gefletschten Zähnen böse anstarrte. Einen Tiger, der wachsam und mit halb zusammengekniffenen Augen ein Reh beobachtete.

Und auf der Fensterbank, über allen anderen, einen roten Drachen. Er hatte die Flügel ausgebreitet und war mindestens doppelt so groß wie die restlichen Tiere. Seine Augen waren gelb und blickten traurig ins Leere. „Gefallen sie dir?“ Felicitas zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Aranck zu ihr getreten war.

„Ja, sie ... sind wunderschön. Hast du sie selbst gemacht?“

Aranck lächelte. „Ja, ich schnitze gerne. Ich habe noch viel mehr als nur diese hier gemacht. Aber die meisten gebe ich dem Förster mit, wenn er einmal die Woche vorbeikommt. Im Tausch gegen das Essen.“ Er drehte sich um und ging zurück zum Kamin. In der Hand hielt er einen riesigen Metalltopf, den er an einem Haken an einer Eisenkette über dem Feuer befestigte. Wieder verschwand er kurz und kehrte gleich darauf mit einem Eimer Wasser zurück. Er schüttete etwas davon in den Topf und ließ sich in einen Sessel fallen. „Es dauert immer ein wenig, bis es kocht“, erklärte er.

Felicitas fühlte sich ins Mittelalter zurückversetzt. Kochte dieser Junge Wasser tatsächlich über dem Feuer? Felicitas musterte ihn von hinten. Seine Haare schimmerten im Schein des Feuers rötlich und die Haut an seinem Hals wirkte fast krankhaft blass.

Felicitas blieb noch ein wenig bei den Figuren stehen und betrachtete sie eingehender. Dann ging sie zurück und setzte sich in den zweiten Sessel.

Sie schwiegen beide. Das Knistern des Feuers und das Rauschen des Windes, das von draußen hereindrang, waren die einzigen Geräusche.

„Lebst du hier wirklich ganz alleine?“, wollte Felicitas schließlich wissen.

„Ja ...“ Aranck zögerte kurz. „Aber noch nicht so lange.“

Felicitas hätte gerne nachgefragt, wieso er sich dafür entschieden hatte, so abgeschieden zu leben. Da war so viel, was sie von diesem Jungen wissen wollte, und zugleich war ihr klar, dass sie ihn nach dem morgigen Tag vermutlich nie wiedersehen würde. Sie konnte immer noch nicht richtig glauben, dass sie weggelaufen war. Das Schloss, die Wandler, ihre Fähigkeiten, alles hinter sich gelassen hatte. Und jetzt? „Hilfst du mir morgen, in das nächste Dorf zu kommen?“, fragte sie leise.

Aranck nickte. „Natürlich.“

„Danke.“ Bei dem Gedanken daran, Sandra wiederzusehen, wurde ihr ganz warm ums Herz. Aber wie würde sie ihrer kleinen Schwester erklären, wo sie gewesen war? Wozu sie jetzt in der Lage war? Nur für einen ganz kurzen Augenblick flackerte plötzlich ein Gedanke in ihr auf und sie schloss die Augen. Konzentrierte sich auf den Jungen neben ihr, auf seine Gefühle. Sie wollte nur wissen, ob er wirklich so freundlich und hilfsbereit war, wie er tat. Suchte nach negativen Schwingungen, nach irgendwelchen anderen Gefühlen, die er vor ihr verbarg.

Unwillkürlich musste sie an Amitola denken. Daran, wie die Lehrerin ihnen beigebracht hatte, die Gefühle anderer, auch über größere Distanzen hinweg, wahrzunehmen, wie sie ihnen gezeigt hatte, fremde Schutzschilde zu durchbrechen. Doch bei Aranck war das gar nicht nötig. In der Dunkelheit, die Felicitas umgab, lagen seine Gefühle vollkommen offen, ungeschützt. Wie kleine, verschiedenfarbige Edelsteine funkelten sie, wunderschön in hellen, gelben und orangefarbenen Tönen.

„Ist alles okay?“ Arancks Stimme klang wie aus weiter Ferne.

Schnell öffnete sie die Augen wieder und sah den Jungen an. „Ja, natürlich.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln.

Aranck hatte den Kopf leicht schräg gelegt und musterte sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier.

Felicitas fiel auf, wie dunkel seine Augen waren, fast schwarz. Und so tief, dass sie drohte, darin zu versinken. Aranck senkte den Blick als Erster und fixierte die weinrote Armlehne seines Sessels.

Schließlich stand er auf, hob den Kessel vom Haken und schüttete das dampfende Wasser in zwei kleine Tonbecher. Dann öffnete er eine der Schubladen in der Kommode und holte einen kleinen, schwarzen Beutel daraus hervor. Schweigend sah Felicitas dabei zu, wie er konzentriert einen Teil seines Inhalts gleichmäßig auf die Becher verteilte.

„Was ist das?“, wollte sie wissen.

Aranck lächelte, während er das Säckchen wieder sorgfältig verstaute. „Tee? Wasser mit Geschmack?“ Jetzt drehte er sich doch zu Felicitas um und setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Hast du dich schon mal gefragt, wie der Geschmack in das Wasser kommt?“, fragte er ernst.

Felicitas spürte, wie sie rot wurde. „Also waren das Kräuter?“

Aranck nickte und holte aus einer weiteren Schublade zwei Löffel. Er kam wieder zum Feuer hinüber und reichte Felicitas einen Becher und einen Löffel. Obwohl sie im einundzwanzigsten Jahrhundert lebten, verwunderte Felicitas der Anblick der silbernen Metalllöffel. Sie schienen so gar nicht hierher zu passen. Aranck schwieg, rührte gedankenverloren in seiner Tasse und nippte ab und zu daran. Da Felicitas nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg sie ebenfalls.

„Kannst du die Zukunft aus Teeblättern lesen?“, fragte Aranck auf einmal.

Einen kurzen Augenblick lang war Felicitas zu überrascht, um zu antworten. „Äh, nein“, brachte sie schließlich hervor. „Du?“

Aranck zuckte mit den Schultern und starrte in seinen Becher. „Manchmal.“

„Na, dann schieß los!“

„Was?“

„Mit deiner Prophezeiung! Was sagen deine Teeblätter?“

Aranck drehte seinen Becher ein paar Mal in der Hand. „Ich sehe ...“, sagte er gedehnt mit verstellter, tiefer Stimme, „ich sehe ...“

„Jetzt sag schon!“

„Einen Baum.“

„Und? Was bedeutet das?“

„Keine Ahnung.“

Felicitas musste lachen. „Zeig mal her!“

Widerstandslos reichte Aranck ihr seinen Becher und Felicitas sah hinein, drehte und wendete ihn in ihrer Hand, starrte auf die willkürlich angeordneten Teeblätter darin.

„Also, ich erkenne nichts“, verkündete sie schließlich.

„Natürlich nicht. Das können nur Profis.“ Aranck grinste.

„Klar“, meinte Felicitas sarkastisch und stellte zu ihrem Erschrecken fest, dass sie begann, Aranck zu mögen. Diesen vollkommen fremden Jungen, von dem sie nicht mehr wusste, als dass er ganz allein in einer abgelegenen Hütte mitten im Wald lebte.

Sie schüttelte leicht den Kopf und versuchte sich abzulenken, indem sie an ihrem Tee nippte. Es dauerte nicht lange, bis die wohlige Wärme des Feuers sie einlullte. Ihre Augen wurden schwer und sie gähnte oft, was auch Aranck nicht verborgen blieb.

„Wir sollten schlafen“, meinte er.

Felicitas nickte.

„Du kannst es dir auf der Couch bequem machen. Ich bringe dir noch eine Decke.“

Als er kurz in einem der Nebenzimmer verschwand, stellte Felicitas ihren inzwischen leeren Becher auf dem hölzernen Tisch ab und streckte sich auf dem Sofa aus. Es war ein bisschen zu kurz, sie musste die Beine anwinkeln, aber das war besser, als auf dem harten Waldboden irgendwo draußen in der Dunkelheit zu schlafen. Bald kam Aranck wieder, brachte ihr die versprochene Decke, wünschte ihr eine gute Nacht und verzog sich wieder in einen angrenzenden Raum. Leise schloss er die Tür.

Und dann war Felicitas plötzlich alleine, beobachtete, wie das Feuer immer weiter herunterbrannte und lauschte auf das Heulen des Windes. Trotz ihrer Erschöpfung gelang es ihr nicht, einzuschlafen. Immer wieder dachte sie an Ailina und Jessy und fragte sich, ob ihre beiden Freundinnen sie wohl vermissen würden. Ob sie ihren Schritt verstehen würden. Vermutlich nicht. Sie verstand ihn ja selbst kaum.

Klar war ihr nur, dass Meda sie für irgendein Spiel benutzen wollte – oder es schon längst getan hatte? – von dem sie nichts verstand. Aber sie ahnte, wie weit die Bibliothekarin bereit gewesen wäre, dafür zu gehen. Felicitas drehte sich auf die andere Seite, presste ihren Kopf gegen die Rückenlehne des Sofas und atmete den eigenartigen Duft von Holz, Blättern und Rauch ein.

Sie war weggelaufen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie versuchte, an Sandra zu denken, an ihre Eltern, an Martina, an all die Menschen, die sie bald wiedersehen würde. Versuchte sich darüber zu freuen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie wieder ein normales Leben führen könnte.

Aber da war nichts. Kein Gefühl. Keine Freude. Nur Angst und das Bewusstsein, etwas verloren zu haben. Etwas Wertvolles, von dem sie bisher noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie es besessen hatte.

Irgendwann glitt Felicitas doch in einen leichten, unruhigen Schlaf.

Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Das Feuer war vollkommen heruntergebrannt, nur einzelne Holzscheite glühten noch rot in der Dunkelheit. Von draußen fiel helles Mondlicht durch die Fenster und ließ Arancks geschnitzte Tiere wie kleine Gespenster wirken. Irgendwo über ihr knackte Holz.

Was hatte sie geweckt?

Sie sah sich in dem dunklen Raum um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Nach einigen Sekunden entspannte sie sich etwas und bettete ihren Kopf wieder auf die weiche Armlehne des Sofas. Als sie die Augen schloss, nahm sie ein leises Geräusch von draußen wahr. Es hörte sich an wie das Rauschen von mächtigen Schwingen, konnte aber genauso gut der Wind sein, der um die kleine Hütte strich.

„Felicitas!“ Die Stimme klang leise, wie aus weiter Ferne.

Sie wusste, dass es unmöglich war, aber im ersten Moment dachte sie, Eva hätte ihren Namen gerufen. Eva, ihre kleine Schwester, die ihr in letzter Zeit so nah schien und doch unerreichbar.

Leise stand Felicitas auf und tappte barfuß über das warme Holz hinüber zum Fenster. Obwohl die Lichtung in helles Mondlicht getaucht war, dauerte es ein wenig, bis sie die beiden Gestalten entdeckte, die beinahe mit den Schatten verschmolzen.

Angst überkam sie, als sie die unförmigen Konturen eines Nanook Dyamis in der Dunkelheit ausmachen konnte und direkt neben ihm eine in einen langen, schwarzen Umhang gehüllte Gestalt.

„Felicitas!“ Wieder hallte die Stimme durch ihren Kopf, lauter jetzt und drängender.

„Nein.“ Felicitas presste die Hände auf die Ohren und trat vom Fenster weg. Sie wollte nicht zurück, wollte ihre Freiheit nicht nach ein paar Stunden schon wieder verlieren.

„Komm raus, bitte. Wir wollen dir nichts tun. Nur mit dir reden.“ Auch dieser Nanook Dyami war wie Misae eindeutig weiblich. Auf einmal hatte seine Stimme allen drängenden Klang verloren und war sanft und weich.

„Ein Trick“, dachte Felicitas, „sie wollen mich zurückbringen.“ Dennoch trat sie wieder ans Fenster. Solange Aranck in der Hütte war, würde der Wandler es nicht wagen, einfach hereinzustürmen und sie mitzunehmen, schließlich musste er sich unauffällig verhalten und durfte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Oder? Was würde er tun, wenn sie nicht freiwillig herauskam? Würde er Aranck wehtun, weil er ihr bei ihrer Flucht geholfen hatte?

Die Gestalt in dem schwarzen Umhang löste sich aus dem Schatten und trat in das silbrige Licht des Mondes. Sie sah sich kurz aufmerksam um, bevor sie die Kapuze vom Kopf streifte und das Tuch, das Mund und Nase verdeckte, hinunterzog. Jetzt erkannte Felicitas, dass es sich um Mingan handelte, und Erleichterung durchflutete sie. Sie wusste selbst nicht, wieso, aber von allen ausgebildeten Wandlern an ihrer Schule vertraute sie Mingan am meisten.

„Felicitas, bitte. Wir wollen dich nicht zwingen, mit uns zurückzukommen. Wir wollen nur mit dir reden!“, erklärte der Nanook Dyami noch einmal, während Mingan sie durch die staubige Scheibe hindurch ansah. In seinem Ausdruck lagen weder Wut noch Vorwurf, nur eine unausgesprochene Bitte.

Der Boden knarzte unter ihren nackten Füßen, als Felicitas zur Tür huschte. Sie warf noch einen kurzen Blick in die Richtung, in der das Zimmer lag, in dem Aranck schlief, doch alles war still.

Kühler Wind zerzauste ihr das Haar, als sie hinaus auf die Lichtung trat und die Tür zur Hütte leise hinter sich schloss. Mingan stand wieder im Schatten, direkt neben seinem Nanook Dyami, und hatte die Kapuze aufgesetzt.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte er leise.

Felicitas nickte nur, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Mingan kam auf sie zu, das vom Tau feuchte Gras dämpfte das Geräusch seiner Schritte.

Felicitas warf einen schnellen Blick in den Himmel. Wie spät es wohl sein mochte? Die ersten Sterne begannen bereits zu verblassen und im Osten wich das samtene Schwarz der Nacht einem helleren Blau.

„Wieso sind Sie gekommen?“, fragte Felicitas.

Mingan antwortete nicht sofort. „Ich will dich nicht zwingen, mit mir zurückzukommen“, wiederholte er die Worte des Nanook Dyami. „Aber ich will dich darum bitten.“ Der Blick seiner hellen, blauen Augen bohrte sich in die von Felicitas. „Du weißt nicht, in welche Gefahr du dich gebracht hast, als du die Mauern der Schule hinter dir gelassen hast.“

Ein Lächeln spielte um Felicitas Lippen. „Ich habe keine Angst.“

„Ich weiß“, sagte Mingan langsam. „Du möchtest zurück zu deiner Familie und das verstehe ich.“ Sein Blick verlor an Intensität, wurde weicher. „Ich weiß, dass ich dich nicht zwingen kann, zurückzukehren. Aber ich hatte gehofft, dass du es trotzdem tun würdest.“

Felicitas spürte ein seltsames Gefühl in sich. Eine Mischung aus Schmerz, Freude und Verzweiflung. Er war zu ihr gekommen. Hatte sie gesucht. Und ließ ihr doch ihre Entscheidung. Jäh wurde ihr klar, dass Mingan nichts wusste. Weder von Medas Spiel, noch von der Rolle, die sie, Felicitas, darin zugedacht bekommen hatte. Sie wusste nicht, woher sie diese Sicherheit nahm, aber im Moment war es das Einzige, was sie mit Bestimmtheit sagen konnte.

„Wieso sollte ich das tun?“, fragte sie leise.

Wieder antwortete Mingan nicht sofort. „Weil du es willst.“ Seine Stimme war ruhig und ohne jeglichen Ausdruck. „Deine Gaben sind ein Teil von dir, Felicitas. Natürlich kannst du sie vergraben, tief in deinem Inneren. Aber du kannst sie auch nutzen, zum Guten. Kannst den Menschen damit helfen.“

Die Welt, wie ihr sie kanntet, existiert für euch nicht mehr.

Felicitas wusste, dass sie diese Worte schon einmal gehört hatte, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, wo und wann das gewesen war. „Sie wissen es nicht, oder?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Was weiß ich nicht?“

Felicitas antwortete nicht. Sie merkte, dass sie sich ihrer Entscheidung, nach Hause zu ihrer Schwester und ihren Eltern zurückzukehren, auf einmal gar nicht mehr so sicher war. Das ärgerte sie. War sie wirklich so leicht umzustimmen? So leicht zu manipulieren?

„Doch, ich habe Angst.“ Sie sprach die Worte laut aus, bevor sie sich selbst bewusst wurde, dass sie wahr waren. „Vor meinen Fähigkeiten ... vor mir selbst. Davor, dass ich ... benutzt werde für Dinge, die ich eigentlich gar nicht möchte. Es wäre so viel leichter, einfach in mein altes Leben zurückzukehren.“

„Ja“, stimmte Mingan ihr zu. „Aber wärst du dann glücklich?“

Felicitas dachte an Sandra. An ihre Eltern. Und daran, dass sie eine Lüge leben müsste. Sie war nicht mehr das Mädchen von damals, sie war eine Wandlerin. Ein Mensch mit überirdischen Fähigkeiten. „Nein“, hauchte Felicitas.

„Du weißt, dass ich dir helfen werde, so gut ich kann“, sagte Mingan nach längerem Schweigen. „Ich kann dir beibringen, mit deinen Gaben umzugehen, aber nur du allein entscheidest, wie du sie anwenden willst. Und das ist auch gut so.“

Felicitas nickte.

„Vielleicht habe ich durch Meda ein falsches Bild von den Wandlern bekommen?“, dachte sie. „Vielleicht gibt es gar nicht so viele Geheimnisse, vielleicht spiele ich gar keine so große Rolle?“ Sie war sich sicher, dass Mingan die Wahrheit sagte, dass er nichts von Medas Spiel wusste, dass er ihr wirklich nur helfen wollte. Er war ihretwegen hier. „Vielleicht geht es wirklich nur darum, die Menschen in eine bessere Zukunft zu führen?“, dachte sie und sagte an Mingan gerichtet: „Was wird Enapay mit mir machen, wenn er erfährt, dass ich weggelaufen bin?“

Mingan schüttelte kaum merklich den Kopf. „Er wird es nicht erfahren.“

„Danke.“ Sie sagte es so leise, dass sie es selbst kaum hörte. In ihren Gedanken sprach sie zu ihrer Schwester: „Es tut mir leid, Sandra. Aber das hier ist meine Aufgabe. Mein Schicksal, wenn es so etwas gibt. Ich kann mit meinen Fähigkeiten Gutes tun, und das möchte ich versuchen. Sie sind nicht alle böse, weißt du. Vielleicht ist noch nicht einmal Meda böse. Vielleicht ist sie nur verrückt und weiß nicht mehr, was sie tut. Aber ich bin mir jetzt sicher, dass die anderen nichts von ihren Versuchen, mich zu manipulieren und für ihre Zwecke zu gebrauchen, wussten. Ich kann es ihnen auch nicht sagen, schließlich hätte ich eigentlich gar nicht in dem Buch lesen dürfen. Und was würde Meda mit mir machen, wenn sie erfahren würde, dass ich ihre Geheimnisse ausgeplaudert habe?“

„Kann man sich vor Angriffen auf Ebene Drei schützen? Vor dem Versuch eines anderen, den eigenen Traum zu manipulieren?“, fragte Felicitas.

„Man kann sich vor fast allem schützen.“

„Bringen Sie es mir bei, wenn wir wieder in der Schule sind?“

Mingan nickte. Er fragte nicht, warum sie es lernen wollte, fragte nicht, warum sie weggelaufen war und jetzt auf einmal wieder bereit war, mit ihm zurückzukehren.

Als sie hinter Mingan auf dem Rücken des Nanook Dyamis saß, warf sie noch einen letzten Blick auf die kleine Hütte. Die Fenster wirkten wie leere, schwarze Löcher, die alles um sie herum verschlangen. „Es tut mir leid, Aranck“, dachte sie und wunderte sich über das starke Gefühl, das sich in ihr regte.

Während der Nanook Dyami Anlauf nahm, seine großen Adlerschwingen ausbreitete und abhob, glaubte Felicitas, hinter einem der Fenster Arancks blasses Gesicht zu erkennen.

Die Chroniken der Wandler

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