Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 29

Unter den Sternen

Оглавление

Sie alle haben etwas erlebt, was ihr Leben verändert, sie für immer geprägt hat. Die Sterne wissen es. Sie wissen alles, denn sie sind immer da, am Tag wachen sie unsichtbar über uns, in der Nacht werden sie manchmal von einer Wolkendecke verborgen. Aber sie sind da und es ist sicher, dass sie irgendwann wieder zum Vorschein kommen werden.

Im ersten Moment begriff Felicitas gar nicht, was geschehen war. Die Bilder hallten in ihrem Kopf nach, dröhnten in ihrem Bewusstsein.

Mingan reagierte schneller. Er sprang auf und eilte um den Tisch herum, kniete sich neben Ailina und nahm ihre Hand.

„Was ... was ist passiert?“ Mehr brachte Felicitas nicht heraus. Sie stand auf, wollte irgendetwas tun, um zu helfen, aber sie wusste nicht, was. Also stand sie einfach nur da und beobachtete Mingan. Der Blick seiner hellen Augen war auf Ailinas Gesicht geheftet und so intensiv, als wolle der Lehrer durch den Körper seiner Schülerin hindurchsehen.

„Wieso ... was ...“ Wieder gab Felicitas den Versuch, ihre Angst in Worte zu fassen, auf. Ihre Knie zitterten und Schwindel überkam sie, sodass sie sich zurück in den Sessel fallen ließ.

Es dauerte einige endlos lange Sekunden, bis Ailina endlich die Augen öffnete. Mingan half ihr dabei, sich aufzurichten und wieder in den Sessel zu setzen.

„Was ist passiert?“, wollte Ailina wissen. Verstört wanderte ihr Blick durch das kleine Zimmer.

„Du bist ohnmächtig geworden“, erklärte Mingan sachlich. Während er wieder zu seinem Sessel ging, stützte er sich schwer am Schreibtisch ab. „Die Übungen haben dich zu viel Energie gekostet. Ich musste dir welche übertragen.“

„Energie übertragen?“, fragte Ailina abwesend.

Mingan nickte. „Vielleicht ist es besser, wenn ihr jetzt geht und euch ausruht“, meinte er schließlich. „Wir können uns morgen früh noch einmal treffen, wenn ihr wollt. Dann lassen wir es ein bisschen langsamer angehen.“

„Okay“, stimmte Felicitas erschöpft zu und stemmte sich aus dem Sessel.

„Schafft ihr es alleine in euer Zimmer?“, fragte Mingan besorgt.

„Natürlich.“ Ailina schien es so weit wieder ganz gut zu gehen und sie wirkte viel sicherer auf den Beinen als Felicitas. Deswegen half sie ihrer Freundin den Gang entlang und schließlich mehrere Treppenstufen hinunter, bis sie wieder in einem vertrauteren Teil des Schlosses angelangt waren.

Felicitas versuchte, Ailinas Blick aufzufangen, während sie nebeneinander den langen Korridor entlanggingen, der zu ihrem Schlafraum führte. Doch Ailina starrte konzentriert geradeaus. Eine ganze Weile lang spielte Felicitas mit dem Gedanken, ihre Freundin auf die Erinnerungen anzusprechen, deren Zeugin sie soeben geworden war. Aber anscheinend wollte Ailina nicht darüber reden und Felicitas wollte sie nicht dazu zwingen.

Es kostete sie unendlich viel Kraft, sich die Zähne zu putzen und in ihren Schlafanzug zu schlüpfen. Den Philosophieaufsatz ließ sie unbeachtet auf dem Schreibtisch liegen, sie hatte jetzt wirklich keine Lust, noch über Die Grenzen der Freiheit nachzudenken.

Obwohl sie total erschöpft war, gelang es ihr nicht sofort einzuschlafen. Immer wieder liefen die gleichen Bilder vor ihrem inneren Auge ab - Bilder, die noch nicht einmal ihren eigenen Erinnerungen angehörten. Das Mädchen versuchte sie zu verdrängen, doch sie jagten es und hielten es fest. Irgendwann setzte Felicitas sich auf und spähte zu Ailina hinüber. Ihre Freundin lag am Rand des Bettes, kaum sichtbar unter der dicken Decke.

Wie gerne hätte Felicitas sie gestellt, all die Fragen, die ihr auf der Zunge brannten. Aber sie wollte Ailina nicht wecken.

Also legte sie sich wieder hin und starrte an die Decke. Es war nicht sehr hell im Zimmer, obwohl die Sonne schon längst aufgegangen sein musste. Wahrscheinlich wurde sie von einer dicken Wolkenschicht verdeckt.

Je länger Felicitas so dalag und über Ailina nachdachte und über Jessy, über July, Christiane, Alex und die anderen, umso mehr wurde ihr bewusst, wie wenig sie diese Menschen kannte.

„Wir sind alle Schatten“, dachte sie. „Niemand kennt den anderen wirklich, aber wir sind im gleichen Lichtstrahl gefangen. In einem Lichtstrahl, der uns nach und nach unsere Gestalt raubt und uns verblassen lässt, bis wir mit ihm verschmelzen.“

Sie wusste nicht, wie sie darauf gekommen war. Aber es passte gut zu der Überzeugung der Wandler, sie seien das Licht.

Am nächsten Morgen hatten sie in der ersten Stunde Philosophie. Zum Glück hatte Felicitas es noch geschafft, vor dem Frühstück ihren Aufsatz zu vollenden, sodass sie Ituma die verlangten drei Seiten vorzeigen konnte.

„Ich bin positiv überrascht, dass alle ihre Hausaufgabe gemacht haben“, verkündete Ituma, setzte ein übertriebenes Lächeln auf und wog den Stapel Aufsätze bedächtig in der Hand, als handele es sich um einen wertvollen Schatz. „Ich werde sie mir heute Abend durchlesen.“

Jessy fluchte leise.

„Jetzt würde ich gerne von euch hören, wo die Grenzen der Freiheit eurer Meinung nach liegen. Würdest du anfangen?“ Sie nickte Simon zu.

„Na ja“, Simon schien zu überlegen, wie er seine Gedanken am besten formulieren sollte, „ich denke, jeder hat gewisse Freiheiten. Man darf einen Menschen beispielsweise nicht einfach zu etwas zwingen, was er nicht möchte.“

„Doch, in gewissen Fällen schon“, warf July ein. „Stell dir mal vor, wie es zum Beispiel in Parkanlagen aussehen würde, wenn nicht jeder seinen Müll wegräumen würde!“ Sie rümpfte die Nase.

„Ach komm schon, als ob sich irgendwer an das Ich-räume-natürlich-meinen-Müll-auf-Gesetz hält!“, warf Alex verächtlich ein. „Das kontrolliert doch eh keiner!“

„Und warum nicht?“, fragte Ituma. „Jeder hätte gerne einen aufgeräumten Park, aber viele sind sich zu schade, ihren eigenen Müll wegzuräumen. Wie weit, meint ihr, sollte man gehen, um die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen?“

Felicitas merkte, dass Ituma genau auf diese Frage hinaus gewollt hatte.

„Man sollte niemanden zu irgendetwas zwingen!“, verkündete Leo, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück.

„Andere Meinungen?“, trieb Ituma das Gespräch voran.

„Manche Sachen sind okay“, meinte Ailina. „Oft muss man Kompromisse eingehen, um sich auf irgendetwas zu einigen. Streng genommen schränkt man dabei auch immer die persönliche Freiheit ein. Aber zum Beispiel das Aufstellen von Blitzern, das die Leute daran hindern soll, zu schnell zu fahren, ist meiner Meinung nach in Ordnung. Wenn die Sicherheit anderer auf dem Spiel steht, darf man die Freiheit einzelner – in diesem Fall derjenigen, die meinen, unbedingt zu schnell fahren zu müssen – schon einschränken, finde ich.“

„Du meinst also, man darf die Bedürfnisse einzelner unter das Wohl der Allgemeinheit stellen“, fasste Ituma noch einmal zusammen.

Ailina nickte. Felicitas wusste schon, was jetzt kommen würde, bevor Ituma es aussprach.

„Wir wollen der Menschheit den richtigen Weg zeigen und sie in eine bessere Zukunft führen. Wie weit dürfen wir eurer Meinung nach dabei gehen?“ Als niemand antwortete, richtete sich ihr Blick auf Alex. „Was denkst du?“

Für einen kurzen Augenblick sah Alex unsicher aus. „Ich weiß es nicht genau. Das mit den Träumen ist okay, denke ich. Träume sind für einen Menschen zwar wichtig, aber sie verändern nicht unbedingt die Persönlichkeit und zwingen einen auch nicht, die Wege, die wir vorschlagen, zu gehen. Ich glaube, das ist das Wichtigste“, meinte er zögernd, „dass wir die Menschen nicht zwingen, sondern sie sich im Endeffekt frei entscheiden können.“

„Ich finde, Alex hat recht“, stimmte Jessy als Erste zu und warf dem Jungen einen treuherzigen Augenaufschlag zu.

Ituma kniff die Augen zusammen und nickte. Ihren stark rot geschminkten Mund hatte sie zu einem schmalen Strich zusammengekniffen, den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Es schien, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders. Bei jenen Tagen, an denen sie sich selbst diese Fragen gestellt hatte, immer und immer wieder. War es richtig, die Träume anderer Menschen zu manipulieren? Oder sollte man gar noch weitergehen? Was war mit den Gefühlen?

„Ist der Weg, auf den wir die Menschen führen wollen, denn wirklich der richtige?“, fragte Ailina plötzlich leise.

Ituma schreckte aus ihren Gedanken auf. „Natürlich!“, meinte sie schnell. „Wir wollen ihnen helfen, sich zu vereinen und in eine bessere Zukunft zu gehen. Wir wollen ihnen helfen, die Augen zu öffnen und die Farben zu sehen, die scharfen Konturen. Es wird den Menschen viel besser gehen, wenn sie sich nicht mehr gegenseitig fürchten und hassen müssen.“

Ailina nickte nachdenklich, sagte aber nichts mehr.

Nach den vier Unterrichtsstunden blieb ihnen nicht mehr viel Zeit bis zum Abendessen. Dennoch bestand Ailina darauf, noch einmal in die Bibliothek zu gehen. Felicitas wollte nicht mit. Sie hatte Angst vor einer weiteren Begegnung mit Meda. Sie mochte die alte Bibliothekarin nicht. Weder die Art, wie sie sich immer an sie heranschlich, noch ihren bohrenden Blick oder ihre rätselhaften Worte.

Deswegen ließ sie Ailina alleine gehen und blieb in ihrem Zimmer. Sie stand einfach am Fenster und sah hinaus auf den Hof, doch irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Da waren so viele Gedanken in ihrem Kopf, dass er zu zerplatzen drohte.

Am liebsten wäre sie gerannt, egal wohin, und nicht mehr stehen geblieben. Oder hätte geschrien, so laut, dass die ganze Welt es hören konnte. Aber sie wandte sich einfach nur um und ging rastlos hin und her. Irgendwann ließ sie sich auf der Kante ihres Bettes nieder und starrte das Foto auf ihrem Nachtisch an. Tränen stiegen ihr in die Augen. Kurzerhand drehte sie es um.

Eva.

Sie starrte auf die fein säuberlichen, leicht schrägen Buchstaben, die auf die Rückseite geschrieben waren.

Eva bedeutet Leben.

Was für eine Ironie.

Obwohl sie ihren Blick abwenden wollte, gelang es ihr nicht. Das Wort schien ihre Augen anzuziehen, sie nicht mehr loszulassen. Sie sah das Mädchen in dem weißen Kleid vor sich in dem Wald, umrahmt von dem seltsamen, grünen Licht.

„Was wird hier gespielt?“, fragte sie sich.

Es dauerte eine Weile, bis Felicitas die Kraft aufbrachte, ihren Blick von dem Namen loszureißen. Sie stand auf, stopfte das Foto unter ihr Kopfkissen und tigerte wieder im Zimmer umher. Schließlich wurde ihr klar, dass sie es nicht länger alleine aushielt, und hinterließ Ailina eine Nachricht: Bin bei Jessy.

Obwohl Felicitas noch nie in Jessys Zimmer gewesen war, fand sie ihre Tür sofort. Das weiße Blatt Papier, auf dem in knallbunten Lettern Jessys Name prangte, war auch kaum zu übersehen.

Sie klopfte leise.

Niemand antwortete.

Sie klopfte noch einmal, diesmal lauter.

„Ja?“

Jessy saß auf ihrem Bett, auf ihren Knien lag ein rosafarbener MP3-Player. Die Ohrenstöpsel hielt sie in der Hand. „Hi!“ Jessy wirkte ehrlich überrascht.

„Hi“, antwortete Felicitas zögernd und sah sich in Jessys Zimmer um. Es war sogar noch kleiner als das von Ailina und ihr selbst und sie wunderte sich, wie man hier überhaupt die beiden Betten, die Schränke und den Schreibtisch hineinbekommen hatte. Auf dem unbenutzten Bett stapelten sich Jessys Kleidungsstücke und sie hatte die Wände mit Bildern und Postern behangen. Felicitas direkt gegenüber hing ein stark vergrößertes Foto eines riesigen Golden Retrievers, der sie aus großen, runden Augen mitleiderregend anstarrte.

Jessy folgte ihrem Blick. „Das ist Sun“, erklärte sie etwas zu laut, da sie sich die Ohrstöpsel schon wieder in die Ohren gesteckt hatte.

„Gehört sie dir?“

„Was?“

„Gehört sie dir?“

Jetzt sah Jessy doch ein, dass sie ihre Musik ausschalten musste. „Nicht mehr.“ Jessy starrte das Foto traurig an. „Aber mein Bruder wird sich gut um sie kümmern.“

„Bestimmt.“

Es folgte eine unangenehme Stille, in der Jessy ihre Ohrstöpsel unschlüssig in der Hand wog. Schließlich ließ sie den MP3-Player auf ihrem Bett zurück und trat ans Fenster.

„Schau mal.“ Sie zeigte hinaus in den Hof. „Sie üben schon, seit wir auf unsere Zimmer gehen durften.“ Kurze Pause, dann: „Sie sind gut.“

Felicitas stellte sich neben ihre Freundin. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit draußen gewöhnt hatten. Anscheinend hatte es aufgehört zu regnen und es blinzelten sogar ein paar wenige Sterne zwischen den schnell dahinjagenden Wolken hindurch. Dann sah Felicitas sie: Unten im Hof tanzten mehrere schattenhafte Gestalten.

Nein. Sie tanzten nicht. Sie kämpften.

Erst jetzt fielen Felicitas die Schwerter auf, die sie schwangen. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass die Gestalten nicht viel älter waren als sie selbst. Vermutlich Schüler, die trainierten.

Sie suchte den Hof nach Mingan ab und entdeckte den Lehrer tatsächlich. Selbstsicher schritt er durch die kämpfenden Schüler, nickte mal anerkennend oder blieb stehen, wahrscheinlich, um Ratschläge zu erteilen. Plötzlich fiel Felicitas noch eine Gestalt auf. Sie hielt sich im Schatten der Mauer, sodass sie nur als schwarzer Umriss zu erkennen war, und doch konnte Felicitas den Blick auf einmal nicht mehr von ihr abwenden. Sie kam ihr vertraut vor – obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, sie jemals gesehen zu haben.

„Siehst du diese Gestalt da? Gegenüber an der Mauer?“, fragte Felicitas. Unwillkürlich hatte sie die Stimme zu einem Flüstern gesenkt.

„Welche Gestalt?“, fragte Jessy sofort. Ihre Stimme klang unangenehm laut.

„Da hinten, an der Mauer!“

Jessy kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Schließlich zuckte sie hilflos mit den Schultern. „Nein ...“, setzte sie an.

„Du musst genau hinschauen!“ Felicitas wusste selbst nicht, was sie an dieser Gestalt so sehr beunruhigte. Vielleicht die Tatsache, dass sie sich absichtlich im Schatten aufhielt oder dass sie diese Person noch nie hier an der Schule gesehen hatte.

„Felicitas, da ist nichts!“

Felicitas blinzelte und sah noch einmal hin. Die Gestalt stand immer noch dort. Konnte Jessy sie wirklich nicht sehen?

„Wenn man verrückt wird, fängt es dann so an?“, fragte Felicitas sich auf einmal.

Laut aber sagte sie: „Vielleicht sehe ich jetzt schon Gespenster.“

„Oder ich brauche eine Brille.“ Jessy grinste.

Dann drehte sie sich um und schritt schnell durch den Raum. Felicitas fragte sich gerade, was ihre Freundin vorhatte, als die kahle Glühbirne an der Decke erlosch.

„Was …“, setzte sie an, doch Jessy war schon wieder neben ihr und öffnete das Fenster. Sie lehnte sich nach draußen.

„Siehst du die Sterne?“, fragte sie.

Natürlich sah Felicitas sie. Als sie sich ebenfalls ein wenig vorbeugte, fuhr ihr ein kühler Windhauch ins Gesicht. Plötzlich fragte sie sich, welchen Monat sie wohl hatten.

„Wusstest du, dass wir, immer wenn wir in den Himmel schauen, in die Vergangenheit sehen?“, fragte Jessy. Wie immer wartete sie gar nicht erst auf eine Antwort. „Das Licht von jedem einzelnen dieser Sterne braucht so lange zu uns, dass wir das sehen, was dort vor mehreren Jahren oder sogar Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden passiert ist.“ Ihre Augen leuchteten unheimlich in der Dunkelheit. „Das musst du dir mal vorstellen“, murmelte sie ehrfurchtsvoll. „So weite Entfernungen ... So viel Zeit ...“

Einige Minuten lang blieben sie so am Fenster stehen, beide schweigend in ihre Gedanken vertieft, und betrachteten die Sterne, die vereinzelt zwischen den Wolken hindurchblinzelten. Dann trat Jessy mehrere Schritte zurück und lehnte sich gegen die Wand.

„Wie spät ist es?“, wollte sie wissen.

„Keine Ahnung.“ Felicitas schloss das Fenster. „Wir sollten mal runterschauen.“

„Okay.“

Nach dem zusätzlichen Unterricht bei Mingan fühlte Felicitas sich wieder total erschöpft. Sie war erleichtert, als sie sich endlich in ihr Bett fallen lassen konnte.

Ailina öffnete das Fenster und blieb dort eine Weile stehen. Die Sonne war schon seit einiger Zeit aufgegangen, jetzt ließ sie milchige, gelbe Flecken auf dem Fußboden tanzen.

Eine ganze Weile lag Felicitas wach und dachte an die Erinnerungen ihrer Freundin, deren Zeuge sie gestern – vermutlich ungewollt – geworden war. Sie drehte sich um, sodass sie auf dem Bauch lag und Ailina betrachten konnte. Wieder fragte sie sich, wer ihre Zimmergenossin überhaupt war. Oder besser gesagt: wer sie gewesen war, bevor sie hierher gebracht worden war. Oder war sie freiwillig gekommen? „Ailina?“, fragte sie leise.

„Hm?“ Ailina drehte sich nicht zu ihr um.

Felicitas wollte sie so vieles fragen, doch sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.

„Die Erinnerungen“, sagte Ailina leise. „Du willst wissen, was passiert ist.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Ja.“ Stille.

„Es ist ein halbes Jahr her“, begann Ailina schließlich leise, „besser gesagt: sechs Monate und zweiundzwanzig Tage.“ Ihre Stimme zitterte, doch sie sprach schnell, ohne Felicitas anzusehen. „Es war ein ganz normaler Tag ... dachte ich. Die Sonne hat geschienen.“ Ailina lächelte traurig. „Wir haben die gleiche CD angehört, wie immer, wenn wir mit dem Auto unterwegs waren. Dad hat vor allem das erste Lied geliebt, wir haben es uns immer wieder angehört, ich kannte es schon längst auswendig.“

Reglos stand sie da und starrte aus dem Fenster. Als sie leise zu singen begann, erkannte Felicitas das Lied. Es war dasselbe, das Ailina immer beim Zeichnen anhörte.

„Hurt“, murmelte Felicitas, die sich plötzlich an den Namen des Liedes erinnerte, „von Christina Aguilera.“

Ailina nickte. „Ziemlich passend, was?“, fragte sie traurig. „Wir wollten an den See fahren. Dort wandern gehen und vielleicht ein Eis essen. Dann kam das gelbe Auto. Es kam von links, Dad hatte Vorfahrt. Ich erinnere mich daran, dass er geschrien hat, bevor ... bevor ...“ Ihre Stimme versagte.

„Du ... du musst nicht weiterreden, wenn du nicht willst!“ Felicitas fühlte sich plötzlich hilflos. Sie stand auf und wollte ihre Freundin in den Arm nehmen, traute sich dann aber nicht.

„Überall waren Flammen“, erzählte Ailina weiter, „Leute haben geschrien, die Stimmen kamen von allen Seiten. Ich wollte weglaufen, Hilfe holen, sehen, ob es meinen Eltern gut geht. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Mein Bein war eingeklemmt und ich kam nicht aus dem Auto. Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe.“ Sie schwieg kurz, bevor sie fortfuhr. „Als ich wieder aufgewacht bin, lag ich im Krankenhaus. Sie haben mir gesagt, es wären zwei Wochen vergangen. Tobi war dort. Er hat gesagt, dass alles gut werden würde, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Mein Bein hat wehgetan. Ich konnte nicht mehr laufen. Es hat mehrere Monate gedauert, bis ich es wieder gelernt hatte. Aber die Narbe ist immer noch dort. Ich werde nie wieder so rennen können wie früher. Oder springen. Oder mit dem Schwert kämpfen.

Es hat fast vier Monate gedauert, bis ich nach Hause durfte. Dort war alles unverändert. Das Bett im Schlafzimmer war ungemacht, im Wohnzimmer herrschte das übliche Chaos, als wären sie nur kurz einkaufen und würden jeden Moment wiederkommen. Aber sie sind nicht wiedergekommen.“

Jetzt begann Ailina doch zu weinen und Felicitas legte die Arme um sie.

***

Schon seit einer ganzen Weile stand der schwarzhaarige Mann im Eingang der Höhle und starrte hinaus in den Wald. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die dichten Baumkronen und sahen unheimlich aus, wie sie sich im morgendlichen Nebel verloren.

„Und wenn es nicht funktioniert, Meister?“ Die Frau trat hinter ihm aus dem Schatten. Ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr offen über den Rücken und ihr grünes Kleid ließ jede ihrer Bewegungen geschmeidig wirken. Es verlieh ihr etwas Raubtierhaftes. Wieder sah Hakan für einen Sekundenbruchteil eine ganz andere Frau vor sich, bevor er entschlossen den Kopf schüttelte.

„Es wird funktionieren.“

„Dann sagt mir, warum es das nicht schon längst getan hat!“, fauchte die Frau.

Zorn durchzuckte Hakan. Zorn darüber, dass die Seherin es wagte, so mit ihm zu reden, und - schlimmer noch - dass sie an seinen Plänen zweifelte. „Geduld war noch nie deine Stärke.“ Hakan bemühte sich, all seine Überlegenheit in diese Worte zu legen.

„Und Ihr steckt zu viel Hoffnung in einen Plan, der nie aufgehen wird! Wieso seid Ihr euch so sicher, dass sie Onida ist? Wir brauchen das Buch, Meister, wir brauchen die Chroniken der Wandler, um die Wahrheit herauszufinden!“

Hakan schwieg und ballte die Hände zu Fäusten. Er wusste nicht, wie oft sie dieses Gespräch schon geführt hatten. Wusste nicht, wie oft er ihr schon versucht hatte klarzumachen, dass sie niemals an die Chroniken herankommen würden, solange sie nicht wussten, in wessen Besitz sie sich befand.

Unbeirrt fuhr die Seherin fort: „Die Nitika haben das Buch auf die Erde gebracht und in die Obhut eines Sterblichen gegeben. Wenn wir nicht jetzt versuchen, es in unseren Besitz zu bringen, wann dann? Wenn Muraco es erst einmal in den Händen hält, ist es zu spät!“

Hakan holte mit der rechten Faust aus, doch die Frau duckte sich routiniert unter seinem Schlag hindurch.

„Meine Aufgabe ist es, Euch Ratschläge zu erteilen, und genau das tue ich. Wenn Ihr nicht auf mich hören wollt, ist das Euer Problem, nicht meines.“ Sie drehte sich schwungvoll auf dem Absatz herum und verschwand im Inneren der Höhle.

Hakan hob den Blick gen Himmel, betrachtete die Sterne, die ihn zu beobachten schienen, aus weit aufgerissenen, leuchtenden Augen und murmelte: „Oh Sahale, bitte steh mir bei.“

***

„Felicitas!“

Sie rannte durch den Wald, wurde schneller und schneller. Die Bäume um sie herum schienen sich zu bewegen, verschoben sich und versperrten ihr den Weg.

„Felicitas!“

Die Stimme hallte durch den Wald, schien aus allen Richtungen zu kommen. Doch Felicitas blieb nicht stehen. Der Boden bebte, ließ sie stolpern, aber sie richtete sich auf und lief weiter.

Plötzlich lichteten sich die Bäume und sie trat hinaus auf eine kleine Wiese. In deren Mitte befand sich ein kleiner, klarer See, in dem sich die Sterne und der volle Mond spiegelten. Sie wusste, dass sie diesen Ort schon einmal besucht hatte, in einem anderen Traum. Doch damals war sie hier Etu begegnet, dem goldenen Drachen. Jetzt kniete das Mädchen in dem weißen Kleid am Ufer und sah Felicitas an aus ihren traurigen, braunen Augen.

Felicitas blieb stehen. Ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr, es schien, als lähme der Blick des Mädchens ihre Muskeln.

„Du hast eine Aufgabe, Felicitas!“ Es stand auf und kam auf sie zu. „Dein Weg ist verschlungen, aber er hat ein Ziel.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Felicitas' Kehle fühlte sich unangenehm trocken an und jedes einzelne Wort löste unsagbare Schmerzen aus.

„Du bis gefangen in einem Netz aus Lügen“, flüsterte das Mädchen. „Du musst hinter den Horizont schauen, um die Wahrheit zu erkennen.“

Die Chroniken der Wandler

Подняться наверх