Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 38
Geheimes Treffen
ОглавлениеWarum glauben die Menschen immer, sie seien anders? Anders als ihre Eltern, anders als ihr Nachbar, anders als ihr Feind? Warum glauben Wandler immer, sie seien anders? Sind sie nicht auch nur Menschen, gesegnet mit besonderen Fähigkeiten? Wir sehen alle zum selben Himmel hinauf, leben in derselben Welt. Macht uns das nicht zu Verbündeten?
„Schlaf gut – und mach dir nicht so viele Sorgen um ihn“, murmelte Ailina noch.
„Leichter gesagt als getan!“, dachte Felicitas und wälzte sich auf die andere Seite. Auch sie fühlte sich total erschöpft. Schließlich hatten sie gerade eine weitere von Mingans zusätzlichen Stunden hinter sich gebracht, wie inzwischen fast jeden Morgen. Trotzdem wollte es ihr nicht gelingen, einzuschlafen. Anfangs, kurz nachdem sie von ihrem Fluchtversuch zurückgekehrt war, hatte sie Angst davor gehabt, Eva noch weitere Male in ihren Träumen zu begegnen. Doch das Mädchen in dem weißen Kleid hatte sich nachts nicht mehr blicken lassen, worüber Felicitas unendlich erleichtert war. Aber seit Wintereinbruch fiel es ihr wieder schwerer, Schlaf zu finden, weil sich ihre Gedanken noch öfter als zuvor um Aranck drehten.
Wie schon einige Male vorher überlegte sie, ob sie nicht ein weiteres Mal die Schule verlassen sollte. Nur ganz kurz natürlich, und nur, um zu sehen, ob es Aranck gut ging. Sie hatte gar nicht mal vor, den ganzen weiten Weg bis zu seiner Hütte zu gehen, sondern einfach nur ein paar Schritte in den Wald hinein in der Hoffnung, den Jungen dort zu treffen. Doch sie wusste, dass das so gut wie unmöglich war, und vermutlich wäre danach alles noch schlimmer als jetzt.
Sie seufzte leise in ihre Bettdecke und versuchte sich gegen den formlosen Schmerz zu wehren, der sich in ihrem Inneren breitgemacht hatte. Nein, es war kein wirklicher Schmerz, viel mehr eine alles verschlingende Leere, so ähnlich wie diejenige, die sie nach Evas Tod gespürt hatte. Konnte sie Aranck wirklich so sehr vermissen? Sie hatte doch nur so wenig Zeit mit ihm verbracht ... aber sein Lächeln schien sich irgendwie in ihre Gedanken eingebrannt zu haben, das Funkeln in seinen nachtschwarzen Augen. Das war doch nicht normal, oder? Fühlte es sich wirklich so an, verliebt zu sein? So ... schrecklich? Sie hatte immer geglaubt, es wäre ein schönes Gefühl.
Als Felicitas schließlich doch einschlief, verfolgte sie Arancks Gesicht in ihren Albtraum hinein.
Irgendwann schreckte sie hoch, zitternd und noch erschöpfter als vor dem Einschlafen. Wirre, konfuse Bilder verfolgten sie. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, eines von ihnen festzuhalten, entglitt es ihr wieder.
Um sich zu beruhigen, stand sie leise auf und stellte sich ans Fenster. Die Sonne schien und brachte den Schnee in dem kleinen Hof zum Schmelzen. Für Mitte Dezember war es ziemlich warm.
Und wenn sie nur ganz kurz rausging? Nur ein paar Schritte in den Wald? Sie hatte schließlich nichts zu verlieren. Nicht, wenn sie durch die kleine Hintertür aus dem Schloss schlich, die Mingan ihr gezeigt hatte. Sie versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn sie Aranck im Wald nicht antraf. Dann würde sie einfach wieder umdrehen und zurück in die Schule gehen.
Leise zog sie sich um und schlüpfte in die dicken Winterstiefel, die sie von July ausgeliehen bekommen hatte. Da Felicitas im Sommer logischerweise nicht an passende Kleidung für den Winter gedacht hatte, war sie erleichtert gewesen, dass July fast ihren ganzen Kleiderschrank dabeizuhaben schien, in dem sich unter anderem drei Paar Winterstiefel befunden hatten. Sie warf noch einen letzten Blick auf Ailina, die, ihr den Rücken zugewandt, friedlich zu schlafen schien, und huschte dann eilig aus dem Zimmer und in den Gang hinaus.
Als Felicitas die kleine Hintertür öffnete und in den schmelzenden Schnee trat, musste sie zu ihrem Erschrecken feststellen, dass es bei Weitem nicht so warm war, wie sie vermutet hatte. Ein eisiger Hauch fuhr ihr ins Gesicht und der Atem kondensierte vor ihrem Mund zu dünnen, weißen Wölkchen. „Nur ganz kurz!“, sagte sie sich selbst, steckte die Hände in die Taschen ihrer Fleecejacke und marschierte los, diesmal fest darauf bedacht, sich den Weg zurück einzuprägen.
Sie hatte sich noch keine zehn Schritte von dem Schloss entfernt, als sie ein seltsames Gefühl wahrnahm. Obwohl es sich vollkommen unbekannt anfühlte, war sie sich sicher, dass es ihr eigenes war.
Verwirrt blieb sie stehen und versuchte es zu fassen, herauszufinden, worum es sich handelte. Es fühlte sich ein wenig an wie Freude, gemischt mit Spannung und Erwartung, aber keinesfalls unangenehm. Und es wurde stärker, je weiter sie sich vom Schloss entfernte. Plötzlich kam ihr ein Verdacht: Konnte es sich bei diesem Gefühl um das Nayeli-Band handeln? Amitola hatte ihnen erklärt, dass es innerhalb eines Bannkreises nicht möglich war, andere Menschen – oder Wandler – mithilfe dieses Bandes aufzuspüren. Ebenso konnte man selbst dort nicht gefunden werden. Aber jetzt hatte sie die Schule und somit auch den Bannkreis verlassen ...
Sie drehte sich noch einmal um und spähte zwischen den Bäumen hindurch, wo man noch die Umrisse des Schlosses ausmachen konnte. Dann sog sie tief die kalte Luft ein und stapfte los durch den schmelzenden Schnee, während sie vollkommen auf ihr Gefühl vertraute.
Sie wusste nicht, wie lange sie so durch den Wald ging, nur dass es scheinbar immer kälter wurde. In der dünnen Fleecejacke fror sie entsetzlich. Der Schnee knackte unter ihren Füßen und die Äste der Bäume über ihr bogen sich unter der schweren Last, die sie zu tragen hatten.
Felicitas überlegte gerade, umzukehren, als sie plötzlich etwas Festes, Hartes am Rücken traf. „Was ...?“, rief sie überrascht aus und fuhr herum.
Aranck stand zwischen den Bäumen und lächelte sie schuldbewusst an. „Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen.“ Er grinste.
Wütend verrenkte Felicitas sich, um den Schnee von ihrer Jacke zu klopfen, den Arancks Schneeball dort hinterlassen hatte.
„Hast du dich wieder verlaufen?“, fragte der Junge. Obwohl seine Stimme ernst klang, entging Felicitas das verräterische Zucken um seine Mundwinkel nicht.
„Nein, ob du es glaubst oder nicht. Diesmal wollte ich nur einen kleinen Spaziergang machen. Und ich habe mir den Weg zurück eingeprägt!“
Aranck zog die Stirn in Falten und musterte Felicitas misstrauisch.
Zu spät fiel ihr auf, dass sie von hier aus nicht vor Sonnenuntergang in ein anderes Dorf kommen würde, woraus folgte, dass sie auf ihrem Spaziergang mindestens eine Nacht im verschneiten Wald verbracht haben musste.
„Darf ich jetzt fragen, woher du kommst?“, wollte Aranck wissen.
„Nein, tut mir leid.“ Felicitas lächelte entschuldigend. „Ist es nicht ein seltsamer Zufall, dass wir uns hier über den Weg laufen? Ich meine, der Wald ist nicht gerade klein“, versuchte sie das Thema zu wechseln.
„Ja, es ist in der Tat eine Überraschung, dich wiederzusehen, nachdem du so plötzlich und ohne Erklärung mitten in der Nacht aus meiner Hütte geflohen bist.“ Felicitas starrte auf Julys schwarze Winterstiefel. Auch Aranck schwieg. Irgendwann seufzte er leise. „Ich glaube nicht, dass ich auf eine Erklärung hoffen darf, oder?“
Felicitas schüttelte den Kopf. „Aber trotzdem danke für alles.“ Auf einmal hatte sie Angst, dass Aranck erraten könnte, wer - oder besser gesagt: was - sie war und dann nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
„Keine Ursache.“ Der Junge hob beide Hände, wobei Felicitas auffiel, dass er dieses Mal gar kein Messer mit sich herumtrug. „War ganz nett, mal ein bisschen Gesellschaft zu haben.“
Felicitas lächelte schüchtern. Noch immer starrte sie auf die Spitzen der schwarzen Winterstiefel und traute sich nicht, Aranck ins Gesicht zu sehen. Sie spürte seinen Blick auf sich.
„Dir ist kalt.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Möchtest du wieder mit zu mir kommen? Und dieses Mal vielleicht nicht weglaufen, du hast mir nämlich einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“
„Tut mir leid“, entschuldigte Felicitas sich noch einmal zerknirscht, bevor sie den Blick endlich hob und Aranck ansah.
Der Junge nickte langsam. Wieder fiel Felicitas auf, wie blass er war und wie dunkel seine Augen. Fast schwarz waren sie, wie ein See bei Nacht. „Und? Hast du Lust?“
Plötzlich erinnerte Felicitas sich daran, dass sie Aranck noch eine Antwort schuldete. „Äh, nein, heute nicht. Ich, äh, sollte zurückgehen.“
Sie drehte sich hastig um, weil ihr die ganze Situation auf einmal total peinlich und unangenehm vorkam. Als sie ein paar Schritte in die Richtung gemacht hatte, aus der sie gekommen war, hörte sie den Schnee hinter sich unter Arancks Schritten knirschen.
„Ich kann dich begleiten, wenn du möchtest. Im Winter habe ich sowieso fast nichts zu tun ... na ja, nicht dass es im Sommer so viel mehr wäre ...“ Er verstummte und sah sie erwartungsvoll an.
„Nein, danke.“ Sie konnte ihn unmöglich zu dem alten Schloss führen. Er würde wissen wollen, wieso sie dort lebte, und was sollte sie ihm dann erzählen? „Dieses Mal finde ich den Weg auch alleine.“
Er blieb stehen. Auf einmal waren ihre Schritte die einzigen Geräusche in der Stille, die sie umgab.
„Warte.“ Er sagte es so leise, dass Felicitas sich nicht sicher war, ob er es überhaupt gesagt hatte. Trotzdem blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich würde dich gerne wiedersehen.“
Ihr Herz drohte auszusetzen. Irgendwie gelang es ihr, ein „In Ordnung“ hervorzupressen.
„Wie wäre es mit morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort?“ Er zog die Augenbrauen ein wenig hoch, als er sie ansah.
„Morgen ist schlecht“, hörte Felicitas sich sagen. „Vielleicht ... in drei Tagen?“ Sie wollte nicht, dass jemandem auffiel, dass sie das Schloss verließ. Außerdem sollte sie dringend ein wenig schlafen, denn inzwischen breitete sich eine bleierne Müdigkeit in ihr aus.
Aranck nickte. „Okay.“
Sie nickte ebenfalls und lächelte. „Okay“, wiederholte sie, „bis dann.“ Damit drehte sie sich um und ging. Fast automatisch trugen ihre Beine sie zurück zur Schule.
Als Ailinas Wecker sie am nächsten Abend aus dem Schlaf riss, kam es Felicitas so vor, als hätte sie keine Sekunde geschlafen. Im ersten Moment war sie sich nicht sicher, ob sie ihren Ausflug in den Wald nur geträumt oder tatsächlich erlebt hatte, doch dann sah sie die Wasserpfütze, die sich unter ihren, besser gesagt unter Julys, Winterstiefeln gebildet hatte. Sie war also wirklich draußen im Schnee gewesen.
Draußen im Schnee!
Was, wenn jemand ihre Fußspuren bemerkte?
Ailina zerstreute ihre Befürchtungen, indem sie einen Blick aus dem Fenster warf und verkündete, dass es erneut geschneit hätte.
An diesem Tag hatten sie in der ersten Stunde Philosophie. Vor dem Unterricht erklärte Jessy jedem, der es hören wollte, und auch allen, die es nicht hören wollten, dass ihr kleiner Bruder Andy heute Geburtstag hatte. „Ich wünschte, ich könnte bei ihm sein!“, seufzte sie und zum ersten Mal seit Langem wich das Lächeln aus Jessys Gesicht und machte einer Traurigkeit Platz, die gar nicht zu ihr passen wollte. Felicitas starrte aus dem Fenster in die schwarze Nacht hinaus. Sandra hatte am ersten September Geburtstag gehabt.
Als Ituma das Klassenzimmer betrat, wurde es still. Die Lehrerin nickte den Schülern mit ihrem aufgesetzten Lächeln im Gesicht zu, während sie sich auf ihrem Platz niederließ.
„Von heute an wollen wir uns mit einem neuen Thema beschäftigen. Mit einem Thema, das euch alle etwas angeht.“ Ihr ernster Blick huschte von Schüler zu Schüler. „Mit dem Tod“, erklärte sie. Felicitas spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog.
Eva.
Eva bedeutet Leben.
Was für eine Ironie.
Ailina schloss kurz die Augen und berührte den Anhänger ihrer Kette mit ihren Fingern. Itumas Blick ruhte etwas länger auf ihr.
„Ich bin mir sicher, dass einige von euch schon einmal mit dem Tod konfrontiert worden sind und jetzt am liebsten nicht darüber reden wollen. Wunden heilen bekanntlich besser, wenn man nicht darin herumstochert.“
Ihre Stimme klang unangenehm laut in dem ansonsten vollkommen stillen Klassenzimmer. „Ich persönlich finde es trotzdem - oder gerade deswegen - wichtig, dass man sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Aber ich kann euch nicht zwingen. Wer möchte, darf das Klassenzimmer verlassen.“ Keiner rührte sich.
„Gut.“ Ituma nickte anerkennend. „Wir wollen uns hier nicht mit hochphilosophischen Fragen zum Thema Tod befassen, sondern einfach nur darüber reden. Auch als Wandler sind wir nicht unsterblich. Gerade als Wandler müssen wir alles geben, um den Menschen neue Möglichkeiten, neue Wege zu zeigen. Sie in eine bessere, sicherere Zukunft zu führen.“
Wir müssen dieses gemeinschaftliche Ziel über unser Leben stellen. Die Worte hingen unausgesprochen in der Luft.
„Als Erstes möchte ich von euch wissen, was euch zum besagten Thema einfällt.“
Ituma sah ihre Schüler erwartungsvoll an.
Zuerst sagte niemand etwas, dann meinte Jessy: „Einsamkeit.“
„Angst“, sagte Christiane.
Wieder war es kurz still.
„Hoffnung“, meinte Simon.
„Der Himmel“, flüsterte Felicitas.
„Hurt von Christina Aguilera“, kam es von Ailina, wofür sie sich einige schräge Blicke einhandelte.
„Krankenhaus.“
„Bunte Blumen.“
„Beerdigungen.“
„Gott.“
Ituma hörte geduldig zu, während sich das Klassenzimmer mit Begriffen füllte.
„Dunkelheit.“
„Licht.“
„Verlust.“
„Müssen Wandler eigentlich eine bestimmte Religion annehmen?“, fragte Jessy plötzlich.
Ituma sah sie überrascht an. „Natürlich nicht. Jeder darf glauben, was er will.“
„Glaubt ihr, dass es wirklich einen Gott gibt?“, wollte July auf einmal wissen.
Kurz herrschte Stille, dann war es Ailina, die antwortete. „Natürlich“, meinte sie. „Ich meine ... das Leben verläuft in so merkwürdigen Bahnen. Es muss doch jemanden geben, der das alles lenkt, oder? Außerdem“, fuhr sie leiser fort, „können unsere Verstorbenen mit ihrem Tod nicht einfach verschwunden sein.“ Ailina sprach jetzt so leise, dass Felicitas es kaum verstand. „Spürt ihr sie nicht manchmal? Wenn ... wenn es gerade ganz schwierig ist, dann sind sie da und geben mir Kraft. Ich weiß, dass sie da sind.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Meine Eltern, meine ich.“
Für einen kurzen Moment schien niemand zu wissen, was er sagen sollte.
„Meine Oma hat immer gesagt, mit Gott ist es wie mit der Liebe“, meinte Christiane auf einmal. „Man kann ihn nicht sehen und nicht beweisen, dass er wirklich existiert, aber man weiß, dass er es tut. Weil man es spürt.“
Die Unterrichtsstunden zogen sich in die Länge. Am liebsten hätte Felicitas sich einfach hingelegt und die Augen geschlossen, aber sie kämpfte sich durch die Nacht.
Als sie schließlich kurz vor dem Abendessen hinter Ailina her durch die Gänge des Schlosses eilte, überlegte sie, ob sie Mingan bitten sollte, die zusätzliche Stunde heute ausfallen zu lassen. Es würde ihr gut tun, ein wenig mehr Schlaf zu bekommen. Andererseits konnte Mingan schnell Verdacht schöpfen ... Felicitas war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie gegen Ailina prallte, als diese plötzlich vor ihrem Zimmer stehen blieb.
„Was ...“ Die Worte blieben Felicitas im Mund stecken, als sie an ihrer Freundin vorbei in ihren Schlafraum starrte. Er sah aus, als hätte eine Bombe darin eingeschlagen: Ihre Taschen waren auf dem Boden ausgekippt, Ailinas Zeichnungen überall im Zimmer verteilt und sogar die Schränke geöffnet und anscheinend auch durchwühlt worden.
„Was ist denn hier passiert?“
Ailina antwortete nicht, sondern hastete in das Zimmer, plötzlich schien sie es furchtbar eilig zu haben.
„Schau in den Schränken nach, ob etwas weggekommen ist!“, wies sie Felicitas an.
Während Felicitas Ailina den Rücken zuwandte, um ein wenig Ordnung in ihre Klamotten und anderen wenigen Habseligkeiten zu bringen, stellte sie erleichtert fest, dass noch alles da war. Auch das Foto von Sandra und ihr lag noch unberührt auf ihrem Nachttisch. Und sogar ihr Portemonnaie lag auf dem Boden vor ihrem Bett. Als Felicitas hineinsah, merkte sie, dass noch alles Geld darin war.
„Fehlt bei dir irgendetwas?“, fragte sie Ailina.
Ihre Freundin kniete auf dem Boden und sammelte ihre Zeichnungen ein. Sie antwortete nicht sofort. Zögernd ließ Felicitas sich auf die Knie nieder und half Ailina, ihre Bilder einzusammeln. Eines lag unter dem Schreibtisch. Als Felicitas es darunter hervorangelte, kam sie nicht umhin, es anzustarren.
„Das“, hauchte sie, „war der Unfall, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Ailina tonlos. „Es sind Bilder, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Und ...“
„Du musst sie irgendwo festhalten, damit du nicht verrückt wirst“, vollendete Felicitas den Satz ihrer Freundin. Sie erinnerte sich daran, dass Ailina ihr das schon einmal erklärt hatte.
Jetzt hielt sie eines der besagten Bilder in den Händen. Und es war wunderschön – nein, es war fantastisch – auf eine ganz eigenartige Weise. Vorsichtig strich Felicitas mit den Fingerkuppen über die Farbe.
„Feuer.“ Auf einmal saß Ailina neben ihr und sah ihr über die Schulter. „Überall war Feuer.“
Dann schüttelte sie leicht den Kopf, als wollte sie diese Gedanken damit loswerden, und legte sich flach auf den Bauch, um ein weiteres Bild unter ihrem Bett hervorzuholen.
Felicitas starrte noch immer wie gebannt auf Ailinas Zeichnung. Sie konnte das Feuer auch erkennen. Es war hell, gelb und orange und rot. Züngelte an den Seiten des Papiers empor und ging dann in tiefes Schwarz über. Auf dem Bild waren auch zwei Leute zu sehen - ein Mann, der das Lenkrad fest umklammert hielt, den Kopf gedreht hatte und Felicitas mit einem panischen, entsetzten Blick anstarrte, und eine Frau, die gar nicht wirklich zu begreifen schien, was gerade geschah.
„Darf ich?“ Ailina wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern nahm ihr das Bild einfach aus der Hand.
„Fehlt bei dir irgendetwas?“, fragte Felicitas noch einmal.
„Nichts Wichtiges“, murmelte Ailina. „Nur ... drei Bilder.“
„Drei Bilder? Wieso sollte jemand deine Bilder klauen und mein Portemonnaie einfach achtlos auf dem Fußboden liegen lassen?“
„Ich weiß nicht ...“
„Was war denn drauf?“
„Auf den Bildern? Nichts Besonderes.“ Ailina wirkte hilflos. „Nur ... weiße Krankenhauswände ... und auf einem ein junges Mädchen, das sich mit mir ein Zimmer geteilt hat.“ Dann schien sie sich wieder zu fangen. „Aber das ist doch egal, oder? Solange nicht mehr weggekommen ist ...“
„Wir sollten das Ganze melden! Jemand ist in unser Zimmer eingedrungen, hat es total verwüstet und deine Bilder mitgenommen! Das gefällt mir nicht. Wenn Mingan oder Enapay ...“
„Nein, Felicitas.“ Ailina sprach leise, aber bestimmt. „Ich möchte es nicht melden. Selbst wenn Mingan oder Enapay es wüssten, was könnten sie tun? Der Einbrecher war bereits hier und er weiß jetzt, dass das, was er suchte, nicht hier zu finden war.“
„Er könnte jederzeit wiederkommen, um weiterzusuchen.“
„Wonach denn?“, fragte Ailina und eine Spur Verzweiflung mischte sich in ihre Stimme.
Hilflos zuckte Felicitas mit den Schultern und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Den offenen Schubladen und Schränken nach zu urteilen, gab es keinen Ort, an dem der Einbrecher nicht nachgesehen hatte.
„Ich weiß es nicht“, gab Felicitas zu. „Geld war es jedenfalls nicht.“
Ailina nickte langsam. „Wir wissen weder wer es war noch was der Einbrecher gesucht hat. Nur dass er das, was auch immer er wollte, bei uns anscheinend nicht gefunden hat.“
„Eben! Wir sollten es Enapay melden, dann kann er allen Bescheid geben, dass sie ihre Wertsachen ...“ Felicitas verstummte, als ihr erneut bewusst wurde, dass es hier nicht um Wertsachen ging.
Ailina seufzte. „Ihre Wertsachen wegsperren sollen? Das bringt doch nichts, dein Portemonnaie lag offen auf dem Boden. Aber wenn du möchtest, rede ich mit Enapay. In einer Viertelstunde gibt es sowieso Abendessen. Und vorher“, fügte sie schnell hinzu, „sollten wir hier noch ein wenig aufräumen.“
Während Felicitas neben ihrer Tasche in die Knie ging und die auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke, Bücher und CDs wieder einsammelte, fiel ihr auf einmal ein teilweise zerrissenes, liniertes Blatt Papier auf, das anscheinend aus ihrem Tagebuch gerutscht war. Obwohl sie schon seit Längerem nicht mehr in das kleine Büchlein mit dem goldenen Einband geschrieben hatte, hatte sie es einfach nicht über sich gebracht, es zurückzulassen. Das Büchlein, in dem sie so lange ihr ganzes Leben festgehalten hatte ...
Vorsichtig faltete sie den herausgefallenen Zettel auseinander.
Vielleicht sollte ich mich für dich freuen.
Vielleicht sollte ich daran glauben, dass du jetzt bei Gott bist,
an einem besseren Ort.
Genau, wie Sandra es gesagt hat.
Aber ich kann dich nicht loslassen.
Wenn ich abends auf dem Balkon sitze,
dann höre ich deine Stimme,
und ich frage mich,
was du wohl gefühlt hast,
als dein Herz aufgehört hat zu schlagen.
Vermisst du mich?
Denkst du überhaupt jemals an mich?
An Mama?
An Papa?
An Sandra?
Bist du jetzt glücklich?
Ich vermisse dich.
Ich vermisse dich so sehr, dass es wehtut.
Lange starrte Felicitas die Worte an. Blau auf Weiß. Tinte auf Papier. Sie konnte sich noch genau an jenen Nachmittag erinnern, an dem Sandra krank geworden war. Es war zwei Jahre nach Evas Tod gewesen. Ihre Mutter hatte gesagt, es sei nur eine Lungenentzündung und mit den richtigen Antibiotika würde Sandra schnell wieder gesund werden. Aber Felicitas hatte so furchtbare Angst um ihre kleine Schwester gehabt. Und auf einmal war der Tod von Eva wieder viel näher gewesen. Eines Abends, als sie eigentlich hätte schlafen sollen, war Felicitas auf den Balkon geschlichen und hatte dort dieses Gedicht geschrieben.
Und jetzt hielt sie es wieder in der Hand. War das nicht ein merkwürdiger Zufall?
Sie schüttelte den Kopf über ihre eigenen dummen Gedanken, während sie den Zettel wieder faltete, zurück in ihr Tagebuch schob und in den Tiefen ihrer Tasche versenkte.