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Ailinas Erinnerungen

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So lange war ich auf der Flucht, habe versucht, vor etwas wegzulaufen, vor dem man nicht weglaufen kann. Etwas, das einen verfolgt wie der eigene Schatten, sich immer wieder in das Bewusstsein einschleicht und es verändert. Wenn ich könnte, würde ich alles vergessen. Aber die Erinnerungen sind ein Teil von mir, den ich nicht loswerden kann, der für immer an meinem Geist haftet, quälend und schwer.

„Ich habe gehofft, dass du hier bist“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Felicitas fuhr herum und sah Jessy, die in der Tür stand.

„Und wieso?“, fragte sie.

Jessy schloss die Tür hinter sich und ließ sich in eines der Sitzkissen plumpsen. „Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob ich deinen Aufsatz abschreiben darf“, erklärte sie leichthin. „Ich werde ihn natürlich ein bisschen ändern und so, aber mir fällt einfach nichts ein.“

„Tut mir leid, ich habe ihn noch nicht geschrieben.“ Felicitas ließ sich neben Jessy nieder und zeigte ihr als Beweis ihr leeres Blatt.

„Oh“, Jessy klang enttäuscht, „dann muss ich mir wohl jemand anderen suchen.“ Doch sie machte keine Anstalten, aufzustehen.

Das grelle Licht der einzigen Glühbirne ließ tiefe Schatten in ihrem Gesicht entstehen und verlieh ihr etwas Unnatürliches.

Draußen begann es zu regnen. „Das ist das erste Mal seit mindestens fünf Wochen“, erklärte Jessy.

„Was?“

„Dass es regnet.“ Jessy stand auf und stellte sich ans Fenster. Ein Blitz zuckte über den Himmel und gleich darauf folgte ein Donnergrollen. Der Regen wurde stärker, peitschte gegen die Hauswand. Doch hier drinnen war es hell und warm.

Unwillkürlich drängte sich ein anderes Bild vor Felicitas' inneres Auge, aber sie kämpfte dagegen an. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht schon wieder.

Sie stand auf und begann unruhig in dem kleinen, kreisrunden Raum auf und ab zu gehen. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, nahm sich ihr Blatt Papier und den Stift und versuchte, sich mit ihrem Aufsatz abzulenken.

Felicitas war erleichtert, als es endlich kurz vor sechs war. Sie war fast fertig mit ihrem Aufsatz und Jessy hatte sich schon vor längerer Zeit neben sie gesetzt, abgeschrieben und ab und zu sogar etwas Sinnvolles beigesteuert.

Jetzt lief sie neben Jessy in Richtung des großen Saales und versuchte, dem Geplapper ihrer Freundin zu folgen. Sie lächelte, weil Jessy sie so sehr an Sandra erinnerte.

„Wir wollen nach dem Essen noch im Gemeinschaftsraum Karten spielen, seid ihr dabei?“, fragte July Felicitas und Jessy, als sie sich einen Weg durch die volle Halle gebahnt und sich an den Tisch gesetzt hatten.

„Klar!“ Jessy strahlte. „Wir könnten Schafkopf spielen, das wollte ich schon immer mal lernen! Oder Mau-Mau, oder Palermo, oder ...“

„Ich nicht“, unterbrach Felicitas ihren Redeschwall und tauschte einen schnellen Blick mit Ailina. Zum Glück hakte July nicht weiter nach, denn Felicitas war nicht besonders scharf darauf, ihren Mitschülern von Mingans Angebot zu erzählen.

Während sie sich ihr Brötchen schmierte, fragte sie sich, was der Lehrer wohl mit ihnen vorhatte.

Nach dem Essen blieben Felicitas und Ailina an ihrem Tisch sitzen und warteten. Sie sahen zu, wie die Halle sich leerte, bis irgendwann kaum noch Schüler übrig waren. Immer wieder schweifte Felicitas' Blick hinauf zu dem Lehrertisch auf der Suche nach Mingan. Sie entdeckte ihn schließlich etwas abseits, in ein Gespräch mit Enapay vertieft. Verstohlen musterte Felicitas die beiden Männer. Es war schwer zu sagen, welcher von ihnen älter war, doch sie tippte auf Enapay. Beide trugen die gleichen schwarzen Gewänder, die bis hinab zum Boden reichten, und hatten ihr langes, graues Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Der einzige Unterschied in ihrem Auftreten bestand in einem goldenen Medaillon, das Enapay um den Hals trug.

Schließlich neigte Mingan leicht den Kopf, drehte sich dann um und kam auf sie zu. Felicitas merkte, dass sie mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herumgetrommelt hatte, und zog schnell ihre Hand zurück. Doch Ailina schien das gar nicht bemerkt zu haben, sie starrte gedankenverloren auf ihren Teller, auf dem ein einsames halbes Brötchen und eine Scheibe Käse lagen.

„Guten Morgen.“ Mingan verzog die schmalen Lippen zu einem Lächeln, doch seine blauen Augen blieben ernst. „Ich schlage vor, wir gehen in mein Arbeitszimmer, dort sind wir ungestört.“

Der kleine Raum, den Mingan als sein Arbeitszimmer bezeichnete, war wenig größer als ihr Klassenzimmer. Zu einem großen Teil wurde er von einem unförmigen, hölzernen Schreibtisch ausgefüllt, auf dem sich allerhand Papiere, Bücher und rätselhafte Geräte stapelten, die Felicitas noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Es standen noch drei klobige, lederne Sessel in dem Raum, einer hinter dem Schreibtisch und zwei davor, die so groß waren, dass sie das Zimmer noch einmal um einiges kleiner erscheinen ließen. Eine hohe Standuhr, deren Ziffernblatt statt der Zahlen mit seltsamen Symbolen bemalt war, stand in der Ecke und tickte leise vor sich hin.

„Bitte, nehmt Platz.“ Mingan deutete auf die beiden Sessel vor dem Schreibtisch. Felicitas versank fast in den dicken Polstern.

„Ich habe für heute Abend nichts vorbereitet, ich richte mich ganz nach euch“, erklärte Mingan und setzte sich in den dritten Sessel. „Gibt es irgendein Fach, in dem ihr Probleme habt oder das ihr noch einmal besonders üben wollt? Ansonsten wäre ich dafür, dass wir uns noch einmal eingehend mit dem Abwehren von Angriffen auf Ebene Zwei beschäftigen.“

Felicitas warf Ailina einen Hilfe suchenden Blick zu, doch ihre Freundin starrte auf ein Bild, das an der Wand hing. Es zeigte zwei Kreise, einen goldenen und einen silbernen, der von dem goldenen fast verdeckt wurde. Sonne und Mond. „Was bedeutet das?“, wollte Ailina wissen. Sie hatte die Finger fest um den bronzefarbenen Anhänger ihrer Kette geschlossen.

„Der goldene Kreis mit den Strahlen stellt die Sonne dar, die den silbernen Kreis, also den Mond, zur Hälfte verdeckt“, bestätigte Mingan Felicitas' Vermutung. „Dieses Symbol steht für die Aufgabe der Wandler, die Unwissenheit – in gewissem Maße die Dunkelheit, die Nacht, die über den Menschen liegt – mit ihrem Licht zu vertreiben.“

Ailina nickte gedankenverloren. Obwohl ihr Blick noch immer starr auf das Bild gerichtet war, schien sie es nicht wirklich zu sehen. In der entstandenen Stille klang das Ticken der merkwürdigen Uhr unerträglich laut, und als plötzlich ein heller, kurzer Klang die Luft erfüllte, zuckten Felicitas und Ailina erschrocken zusammen.

„Sieben“, sagte Mingan nur.

Ailina schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie lästige Gedanken vertreiben, dann sah sie Felicitas an. „Willst du noch irgendwas Bestimmtes üben? Ich nicht unbedingt.“

Felicitas schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht.“

Sie schaute hinüber zu Mingan, doch der hatte die Augen geschlossen. Kurz fragte Felicitas sich, ob ihr Lehrer eingeschlafen war, als sie auf einmal ein stechender Schmerz durchzuckte. Sie wusste nicht genau, wo er herkam, aber er war plötzlich da in ihrem Brustkorb und trieb ihr bei jedem Atemzug Tränen in die Augen. Neben ihr schnappte Ailina verzweifelt nach Luft.

„Es ist nicht dein Schmerz, Felicitas!“, versuchte sie sich klarzumachen, „nicht dein Gefühl! Konzentrier dich auf deine eigenen Gefühle!“

Sie schloss die Augen, bemühte sich, den stechenden Schmerz weitestgehend zu ignorieren, zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie sah Sandra vor ihrem inneren Auge, ihr Lächeln und ihren orangefarbenen Bikini, den sie auf dem Foto getragen hatte. Versuchte, die Wärme heraufzubeschwören, die sie immer spürte, wenn sie an ihre kleine Schwester dachte. Ein eigenes Gefühl ... Sie erinnerte sich noch genau an den einen Moment in Italien, als sie auf der Klippe stand, zwanzig Meter unter ihr das raue Meer. Sie hatte das Gefühl gehabt, bis in die Unendlichkeit sehen zu können. Der salzige Wind hatte mit ihren Haaren gespielt, mit ihrem Kleid, und sie hatte sich frei gefühlt. Für einen ganz kurzen Augenblick hatte sie sich gewünscht, fliegen zu können. Einfach hinaus, über das endlos blaue Meer, in den Sonnenuntergang hinein. Die Welt mit all ihren Sorgen und Problemen hinter sich zu lassen und ein neues Leben anzufangen. Irgendwo dort draußen.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in diesem Moment gefühlt hatte: das Kribbeln in der Magengegend, der Glaube daran, jede nur erdenkliche Aufgabe bewältigen zu können, die Zuversicht, dass ihr alles gelingen würde und zugleich diese Sehnsucht nach Freiheit. Sie ließ sich von diesen Gefühlen durchströmen, spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. Und endlich konnte sie wieder frei atmen.

Als sie die Augen öffnete, saß Mingan ihr gegenüber und lächelte. „Gut gemacht.“

Auch Ailina schien den Angriff gut abgewehrt zu haben, denn sie hatte den Kopf müde gegen die Lehne des Sessels gelegt. Augenblicklich spürte auch Felicitas die vertraute Erschöpfung, die sich immer dann in ihr breitmachte, wenn sie viel Energie verbraucht hatte.

„Wie ich sehe, habt ihr mit dem Abwehren kein Problem, aber in einem richtigen Kampf muss das schneller gehen. Ihr dürft die fremden Gefühle erst gar nicht an euch heranlassen, müsst sie von vornherein abschirmen. Denn die Schmerzen, die eure Gegner euch zufügen, werden weit größer sein als die, die ich euch jetzt zugemutet habe. Wenn ihr sie spürt, könnte es schon zu spät sein.“

„Wie bei dem Körperkontakt“, murmelte Ailina.

„Genau.“ Mingan nickte. „Als ihr eure Fähigkeiten erhalten habt, war es euch nicht möglich, andere Menschen zu berühren, ohne deren Gefühle zu spüren. Doch inzwischen könnt ihr euch so weit abschirmen, dass Körperkontakt möglich ist. Genauso muss das auch mit Angriffen funktionieren. In einem Kampf müsst ihr die ganze Zeit über euren Schutzschild, eine Mauer aus eigenen, starken Gefühlen errichtet halten, sonst seid ihr verletzlich.“

Mingan wartete kurz. Anscheinend wollte er wissen, ob Felicitas und Ailina das verstanden hatten. Also nickten die beiden schnell.

„Also gut, ich werde euch jetzt angreifen und ihr müsst meine Angriffe abwehren, bevor ihr den Schmerz überhaupt spürt“, verkündete Mingan schließlich. Wieder schloss er die Augen.

Felicitas versuchte erneut die Gefühle heraufzubeschwören, die sie eben schon genutzt hatte, um Mingans Attacke abzuwehren. Doch den Schmerz gar nicht erst zuzulassen, war schwieriger, als ihn zu bekämpfen. Sie spürte, wie Mingans Angriffe gegen ihren Schutzschild prallten, wieder und wieder, und mit jedem Mal wurde es schwieriger, ihnen standzuhalten. Jeder Angriff, den sie abwehrte, forderte Energie.

Als Mingan die Augen endlich wieder öffnete und Felicitas und Ailina ansah, wartete Felicitas nur noch wenige Augenblicke, bis sie sich erlaubte, die Gefühle, die sie so zwanghaft festgehalten hatte, loszulassen. Erleichterung durchströmte sie, als sie merkte, dass Mingan seine Angriffe tatsächlich eingestellt hatte. Ailina neben ihr atmete zittrig aus.

„Habt ihr schon gelernt, wie man in einen fremden Geist eindringt?“, wollte Mingan wissen.

Ailina und Felicitas schüttelten den Kopf.

„Gut“, Mingan warf einen Blick auf die Uhr, dann musterte er seine Schülerinnen, „haltet ihr noch eine halbe Stunde durch?“

„Ja“, antwortete Ailina tapfer, obwohl sie schon ziemlich erschöpft klang. Auch Felicitas nickte.

„Gut, wir wollen ganz einfach beginnen. Eine von euch schließt die Augen und denkt an irgendein bedeutendes Erlebnis. Eines, das sie jederzeit vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören kann, an das sie sich ganz genau erinnert. Die andere versucht, dieses Ereignis mitzuerleben. Das geht am leichtesten, wenn sie auch die Augen schließt und ihr euch berührt, also beispielsweise an den Händen fasst.“

Felicitas und Ailina tauschten einen langen Blick. Dann streckte Ailina die Hand aus und Felicitas ergriff sie zögernd. Wieder freute sie sich kurz darüber, wie leicht es ihr inzwischen fiel, andere Leute zu berühren, ohne sofort deren Gefühle wahrzunehmen.

„Ich ... versuche mich an etwas zu erinnern, okay?“, fragte Ailina.

„Ja.“

Nach Ailina schloss auch Felicitas die Augen.

„Versuche deinen Atemrhythmus an den von Ailina anzupassen“, riet Mingan noch. Felicitas nickte und hoffte, dass ihr Lehrer es sah. Dann bemühte sie sich, sich auf Ailina zu konzentrieren, die eigenen Atemzüge den langen, gleichmäßigen ihrer Freundin anzupassen. Langsam schien das nervtötende Ticken der Wanduhr leiser zu werden, bis es schließlich ganz verklang. Schwärze umfing sie, legte sich über sie wie eine erstickende Decke. Und Felicitas ließ sich fallen, stürzte in die Dunkelheit. Tiefer, immer tiefer.

Dann war alles vorbei.

***

Zuerst empfand sie die Kälte. Dann sah sie die Wolken und die Berggipfel, die diese durchbrachen. Die Berge wurden von der Sonne angestrahlt, sodass der Schnee glitzerte wie tausend Diamanten und die grauen Felsen in helles, orangefarbenes Licht getaucht wurden. „Wunderschön“, sagte plötzlich eine leise Stimme hinter ihr.

Überrascht fuhr Felicitas herum und blickte direkt in das leicht gebräunte Gesicht eines Jungen. Er hatte schmale Lippen und dunkle, braune Augen, die sie voller Lebensfreude anblitzten.

„Ja.“ Obwohl es Felicitas war, die sprach, hörte sich ihre Stimme fremd an.

„Sie gehört Ailina!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Ich bin hier in ihrer Erinnerung!“

Sie musterte den Jungen genauer. Er war hübsch. Unter seinem roten Skihelm quollen braune Locken hervor und er lächelte.

„Ich wünschte, wir könnten diesen Moment festhalten“, seufzte Felicitas mit Ailinas Stimme. „Ich wünschte, er würde niemals vergehen.“

„Ich auch.“ Der Junge legte einen Arm um Felicitas. Dann löste sich die Szenerie um sie herum plötzlich auf und wieder schien Felicitas zu fallen, noch tiefer in Ailinas Erinnerungen.

Ein gewaltiger Knall.

Flammen, überall um sie herum.

Panik. Angst. Verzweiflung.

Schreie.

Dunkelheit.

Weiße Wände. Helles Sonnenlicht, das von draußen hereinflutete.

Das Summen von Geräten.

Der Geruch nach Desinfektionsmitteln.

Bevor Felicitas wirklich begreifen konnte, was geschah, war es auch schon wieder vorbei.

***

Ailina zog ihre Hand aus Felicitas' Umklammerung.

Felicitas schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie ihre Freundin zitternd in sich zusammensackte.

Die Chroniken der Wandler

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