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Eva

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Eigentlich geht es in einem Krieg immer nur um zwei Personen. Zwei Menschen, die irgendein Problem miteinander haben und es nicht mit Worten lösen können. Deswegen ersinnen sie ein Spiel. Ein strategisches Spiel, bei dem einer schachmatt gesetzt werden muss. Krieg ist nur ein anderer Name für dieses Spiel.

Felicitas schreckte hoch und schnappte nach Luft. Einige Augenblicke lang blieb sie in ihrem Bett sitzen und ließ ihren Blick durch das inzwischen so vertraute Zimmer wandern. Ailina war am Schreibtisch eingeschlafen, den Bleistift noch in der Hand, den Kopf auf ihrer Zeichnung. Durch den Vorhang fiel helles Sonnenlicht. Felicitas zwang sich tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. Doch ihre Hände zitterten und ihr Herz hämmerte so laut in ihrer Brust, dass sie fürchtete, es könnte Ailina wecken.

Weil sie nicht ruhig sitzen bleiben konnte und vielleicht auch, weil sie zu große Angst davor hatte, noch einmal einzuschlafen, stand sie auf. Barfuß tapste sie durch den Raum, zog sich leise um und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, fiel ihr Blick in den Spiegel, der an der Wand neben der Tür hing. Ein seltsames Gefühl ergriff von ihr Besitz. Als spürte sie, dass nach diesem Tag nichts mehr so sein würde wie zuvor.

So stand sie also dort, in dem noch immer fremden und zugleich schrecklich vertrauten Zimmer und starrte ihr Spiegelbild an. Ihr fiel auf, dass sie erwachsener aussah, oder vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Aber da war etwas in ihren Augen, ein vollkommen neuer Ausdruck, der dort tief unter der Oberfläche lag.

„Ereignisse verändern Menschen“, sagte sie sich im Stillen, während sie fluchtartig den Raum verließ. „Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“ Zuerst hastete sie nur eilig die Gänge entlang, dann begann sie zu rennen. Die silbernen Symbole an den Wänden waren jetzt im Tageslicht kaum sichtbar und überhaupt wirkte das Schloss auf einmal viel freundlicher als nachts. Die Schatten waren hellen, bunten Flecken gewichen, die durch die Fenster hereinfielen und eigenartige Muster bildeten. Das Grau der Steine wirkte auf einmal nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch trist. Wie spät es wohl war? Bisher war Felicitas immer nur in der Nacht, am späten Abend oder am frühen Morgen in den Korridoren unterwegs gewesen.

Ihre Füße trugen sie immer weiter, Treppen hinunter und Gänge entlang und sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie erst bemerkte, wohin sie unterwegs war, als sie in den Hof hinaustrat. Draußen war es warm und sonnig, Vögel zwitscherten und vereinzelte Wolken zogen über den Himmel. Felicitas legte den Kopf in den Nacken, genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und die frische Luft und versuchte, den Kopf freizubekommen. Sie zögerte kurz, bevor sie weiterging.

Als sie schließlich vor der Tür zur Bibliothek stand, war ihr Anflug von Leichtigkeit einem anderen Gefühl gewichen. Es lag schwer und drückend auf ihrem Brustkorb, schnürte ihr die Luft ab, machte ihr das Atmen schwer. Ihre Finger waren feucht, als sie die Türklinke hinunterdrückte und in den langen Gang trat. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss und auf einmal wirkte alles viel düsterer. Ihre Schritte klangen unangenehm laut. Doch diesmal hörte sie auch etwas anderes, das sie entfernt an das Säuseln von Wind erinnerte.

Die Stimmen waren so leise, dass Felicitas keine Worte verstehen konnte. Sie verschmolzen zu einem eigenartigen Singsang, der ihr einen kalten Schauder über den Rücken jagte.

Die Bibliothek war genauso groß und leer, wie Felicitas sie in Erinnerung hatte. Sie spürte, wie schnell ihr Atem ging und wie sehr ihr Herz raste, und plötzlich wusste sie, was es für ein Gefühl war, das sie seit dem Entschluss, in die Bibliothek zu gehen, fest in seinem Griff hatte: Angst.

„Meda?“ Ihre Stimme klang dünn und zittrig und verlor sich in dem weiten Raum. Ohne dass sie es wirklich merkte, steuerten Felicitas' Beine auf die gegenüberliegende Seite der Bibliothek zu.

Nebel. In ihren Gedanken, überall um sie herum. Er hielt sie gefangen, verweigerte ihr eine klare Sicht. Aber sie wusste, dass Meda ein Lichtstrahl war, der dazu beitragen konnte, dass sich dieser Nebel verflüchtigte. Also ging sie stetig vorwärts, auf der Suche nach der alten Bibliothekarin. Gerade passierte sie einen großen steinernen Kamin, als ihr der Schreibtisch auffiel, der in einer Nische dahinter stand. Er war aus dunklem Holz und voll mit Büchern und Papieren.

„Meda?“, fragte sie wieder leise und trat näher an den Schreibtisch heran. Der große Bürostuhl dahinter war leer. Einige Sekunden lang starrte Felicitas auf das Chaos vor sich, dann drehte sie sich um, um weiter nach der Bibliothekarin zu suchen. Aus Versehen stieß sie dabei mit dem Arm einen Stapel Bücher und Papiere um, der mit einem lauten Poltern auf dem Boden aufkam.

Erschrocken sprang Felicitas zurück. Als der erste Schock vorüber war, blickte sie sich eilig um, doch niemand schien ihr Missgeschick bemerkt zu haben. Deswegen kauerte sie sich schnell hin und begann damit, die heruntergefallenen Sachen wieder aufzusammeln, als sie das schwarze Buch sah. Es lag aufgeschlagen auf dem Boden und schien Felicitas anzustarren, mit seinen fast vollkommen leeren Seiten.

Felicitas nahm es in die Hand und wollte es gerade zuklappen, als ihr das Wort ins Auge fiel.

Onida stand dort in ordentlicher, schräger Handschrift.

Scheinbar endlos lange starrte sie auf das eine Wort, unfähig weiterzulesen und zugleich unfähig, das Buch wieder zuzuschlagen. In ihrem Kopf rasten die Gedanken, als sie sich bewusst wurde, dass sie gerade vielleicht die Antwort in der Hand hielt. Die Antwort auf die eine Frage, die ihr so unheimlich wichtig erschien.

Sie starrte weiterhin auf das Buch und wusste, dass das, was sie gleich tun würde, falsch war. Auf einmal wünschte sie sich, sie hätte Ailina geweckt, damit sie jetzt nicht allein war. Aber vielleicht war es besser so. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich die folgenden Buchstaben zu einem sinnvollen Satz zusammenfügten. Vielleicht war das, was ich getan habe, falsch. Aber sie muss ihr Schicksal annehmen. Um jeden Preis.

Mehr stand nicht auf den beiden Seiten. Felicitas sah noch einmal schuldbewusst über die Schulter, doch sie schien die Einzige zu sein, die um diese Uhrzeit in der Bibliothek war. Dann blätterte sie zögernd um.

Ich sehe mich um, immer wieder. Erwarte, dass in den Schatten jemand steht, jemand auf mich lauert. Unendlich viele Augenpaare beobachten mich, verfolgen jeden meiner Schritte. Warten auf den richtigen Augenblick, um aus der Dunkelheit hervorzuspringen, um mich zu packen. Niemand würde mein Schreien hören. Niemand würde mir helfen. Denn ich bin alleine.

Lange starrte Felicitas auf den einen Absatz und versuchte, ihn zu begreifen. Das Leder des Buches fühlte sich samten und weich und zugleich brüchig in ihren Händen an.

Wem es wohl gehörte? Meda? Was wollte sie mit diesen Worten sagen? Litt sie unter Verfolgungswahn? Hatte es etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun? Mit jenem plötzlichen Ereignis, von dem Ituma gesprochen hatte? Oder war es eine Art Tagebuch? Felicitas wusste, dass sie das nur herausfinden würde, wenn sie weiterlas.

Ja, die Nacht ist endlos und ich weiß, dass es kein Erwachen geben wird. Dass sie nicht aufwachen wollen. Aber ich weiß, dass sich hinter unserer Sonne ein ganzes Universum öffnet.

Wieder musste sie umblättern. Auf der nächsten Doppelseite stand nur ein einziger Absatz.

Menschen sind schwach. Sie hängen an ihren Erinnerungen, an den süßen Träumen der Vergangenheit. Sie glauben, sie seien nicht zu manipulieren, sie glauben, sie seien stark. Aber das sind Lügen. Sie belügen sich selbst und sie wissen es.

Felicitas spürte, wie ihre Hände wieder zu zittern begannen und sie musste sich dazu zwingen, das Buch nicht einfach zur Seite zu legen und wegzurennen. Stattdessen blätterte sie ein paar Seiten zurück, starrte auf den einen Satz.

Vielleicht war das, was ich getan habe, falsch. Aber sie muss ihr Schicksal annehmen. Um jeden Preis.

„Ein Zufall.“ Sie zwang sich, ruhig zu atmen. „Ein Zufall, nichts weiter.“ Eilig blätterte sie in dem Buch. Sie war so begierig darauf, mehr zu erfahren, dass sie nicht mehr darauf achtete, wenig Lärm zu machen.

Eigentlich geht es in einem Krieg immer nur um zwei Personen. Zwei Menschen, die irgendein Problem miteinander haben und es nicht mit Worten lösen können. Deswegen ersinnen sie ein Spiel. Ein strategisches Spiel, bei dem einer schachmatt gesetzt werden muss. Krieg ist nur ein anderer Name für dieses Spiel.

Felicitas kniff die Augen zusammen, um die Buchstaben besser lesen zu können. Sie waren nicht so ordentlich niedergeschrieben wie die anderen, waren verschnörkelter und teilweise zwischen den Zeilenlinien.

Es ist ein Spiel. Nichts weiter. Ein tödliches Spiel. Ein Spiel, das ich gewinnen muss, um jeden Preis. Ich darf keine Rücksicht auf meine Figuren nehmen, muss sie nur dazu bringen, nach meinen unsichtbaren Fäden zu tanzen. Muss sie dazu bringen, meinen Willen auszuführen, ohne sie wissen zu lassen, dass ich es bin, die sie lenkt.

Die nächsten Sätze musste Felicitas mehrmals lesen, bis ihr Sinn einigermaßen in ihr Bewusstsein gedrungen war.

Menschen sind schwach. Wandler sind schwach. Was eignet sich besser, um sie gefügig zu machen, als ihre eigenen Erinnerungen? Sie sind wie Träume. Mal weit entfernt, mal nah, aber immer unerreichbar.

Eva.

Eva bedeutet Leben.

Was für eine Ironie.

Das Buch fiel Felicitas aus den zitternden Händen. Ihr Kopf drehte sich. Sie zog sich am Schreibtisch hoch, stand schließlich auf den Füßen. Als sie sich umdrehte, stand Meda zwischen zwei Bücherregalen und sah sie an. Ihre stechenden, blauen Augen gaben nichts von ihren Gefühlen preis, als Felicitas langsam auf sie zuging.

„Es ist deins, nicht wahr?“, flüsterte Felicitas und starrte die alte Bibliothekarin an. „Du hast das geschrieben.“

Meda antwortete nicht. Sah Felicitas nur an, endlos lange.

„Ja“, sagte sie schließlich.

„Wieso?“ Felicitas wusste nicht, ob sie Angst haben oder wütend sein sollte, ob sie Meda angreifen oder weglaufen sollte. „Wieso?“ Diesmal schrie sie.

„Es ist das Beste für uns alle.“

Felicitas öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Sie wollte Meda anschreien, ihr klarmachen, dass sie nicht eine ihrer Spielfiguren war, die man so einfach kontrollieren konnte. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Einen kurzen Augenblick lang, der Felicitas wie eine Ewigkeit vorkam, stand sie der Bibliothekarin gegenüber.

Dann drehte Felicitas sich um und rannte. Durch die Bibliothek hindurch, den Gang entlang und schließlich hinaus in den Hof. Die Mauern umgaben sie von allen Seiten, sperrten sie ein, kamen immer näher, drohten sie zu erdrücken.

„Ich schaff das nicht ... Ich bin nicht eure Spielfigur ... Es geht nicht um Krieg ... Eva ...“ Die Gedanken wirbelten durch Felicitas' Kopf, wirr und konfus. „Ich gehöre nicht hierher“, sagte sie leise. „Ich gehöre nicht hierher“, wiederholte sie, lauter jetzt. Wen wollte sie überzeugen? Enapay, der jetzt vermutlich in seinem Bett lag und schlief? Ailina, die so viel durchgemacht hatte? Meda, die versucht hatte, sie zu manipulieren? Oder sich selbst?

„Ich bin nicht eure Spielfigur. Ich bin nicht eure Spielfigur. Ich bin nicht eure Spielfigur!“, wiederholte sie, während sie langsam auf das große, hölzerne Tor zuging, das aus dem Schloss hinausführte. Ohne zu zögern, drückte sie dagegen und ein Teil von ihr wunderte sich darüber, dass es so widerstandslos aufschwang.

Doch irgendwo, tief in ihrem Inneren, war ihr klar, warum das Tor nicht verschlossen war: zum einen, weil man die Schule von außen nicht finden konnte. Zum anderen hielt Enapay es anscheinend für unmöglich, durch den Wald zu fliehen.

Wäre sie bei klarem Verstand gewesen, hätte Felicitas sich gefragt, warum. Weil das nächste Anzeichen menschlicher Zivilisation zu Fuß unerreichbar war? Weil es in diesen Wäldern wilde Tiere gab?

Doch Felicitas war nicht bei klarem Verstand. Alles, was sie wollte, war fliehen. Also rannte sie. Vorbei an dem kleinen, azurblauen See, in dem sich der Himmel spiegelte und hinein in den Wald. Sie achtete nicht darauf, wohin sie lief. In ihrem Kopf drängten die Erinnerungen an die Oberfläche, die sie so lange unterdrückt hatte. Sie versuchte, sie zu vergraben, tief unter dem stechenden Schmerz in ihrer Seite, tief unter dem Gefühl, benutzt worden zu sein. Sie brachen mit einer solchen Macht hervor, dass Felicitas ihnen völlig ausgeliefert war.

***

Der kleine Raum war hell erleuchtet und es war warm. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben und zeichnete Schlangenlinien auf das Glas. Einen kurzen Moment lang wunderte Felicitas sich, warum sie solche Angst davor gehabt hatte, hierherzukommen. Doch dann sah sie den kleinen, weißen Tisch und die Blumensträuße. Bunte Blumen in einem fast völlig weißen Raum. Felicitas kam es vor, als wollten die bunten Farben sie verhöhnen. Als wollten sie ihr weismachen, das Leben hätte einen Sinn.

„Ich habe Angst, Mama“, flüsterte Sandra leise und griff nach der Hand ihrer Mutter.

„Ich auch“, dachte Felicitas, sprach es aber nicht laut aus. Sie musste stark bleiben. Also ging sie weiter. Obwohl sie am liebsten stehen geblieben wäre, einfach hier und jetzt. Sie wollte das kleine Bett auf der anderen Seite des Zimmers nicht erreichen, wollte Eva nicht sehen. Und trotzdem folgte sie ihren Eltern und Sandra. Ein merkwürdiger Geruch nach Blumen, Desinfektionsmitteln und Einsamkeit stieg ihr in die Nase. Ja, Einsamkeit. Bis jetzt hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass man Einsamkeit riechen konnte. „Oh, meine Kleine!“ Ihre Mutter blieb neben dem Bett stehen und schluchzte laut auf. Sie presste Sandras Kopf gegen ihren Bauch, als hätte sie Angst, sie auch noch zu verlieren.

Felicitas sagte gar nichts. Sie starrte nur auf den leblosen, starren Körper, der jetzt vor ihr lag. Auf den Körper ihrer Schwester.

Eva bedeutet Leben.

Was für eine Ironie.

Sie war erst drei gewesen. Und immer glücklich und voller Energie. Bis ihre Anfälle schlimmer geworden waren. Bei der Erinnerung stiegen Felicitas Tränen in die Augen. Eva hatte gehustet. So furchtbar gehustet, sie hatte nicht mehr aufgehört. Ihr kleiner, zierlicher Körper war unter den schweren Decken kaum auszumachen gewesen, überall an ihren Armen waren Geräte angeschlossen gewesen. Sie war von Krämpfen geschüttelt worden und die Ärzte standen nur daneben, sagten, sie könnten nichts mehr tun. Noch jetzt wollte Felicitas am liebsten laut aufschreien, wenn sie sich an die Ohnmacht und die Verzweiflung erinnerte, die von ihnen allen Besitz ergriffen hatten. Sie hatten nichts tun können. Eva hatte verzweifelt nach Luft geschnappt, doch ihr Husten war zu stark gewesen. Dann war es vorbei gewesen, so plötzlich, wie es begonnen hatte.

Und jetzt lag Eva hier. Klein und kalt und leblos mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen. Irgendjemand hatte einen Kranz aus Blumen um ihren Kopf gelegt. Sie leuchteten in einem kräftigen Rot, ganz im Gegensatz zu Evas blasser Haut. Sie war schon immer blass gewesen. Aber nie so blass.

Jetzt weinte Felicitas doch. Sie wollte weg von hier, wollte schreien, so laut, dass die ganze Welt es hören konnte. Dass die ganze Welt wusste, was passiert war und den Atem anhielt, sich nicht einfach erbarmungslos weiterdrehte, während doch ihre eigene kleine Welt in sich zusammengefallen war.

Ihr Vater legte die Arme um sie und hielt sie fest.

„Warum weint ihr?“ Sandra löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter. „Eva kommt jetzt in den Himmel und von dort kann sie uns sehen. Sie hat da ganz viele Spielsachen und Freunde und Süßigkeiten und wir müssen nicht traurig sein, weil es ihr jetzt besser geht.“ Sie sah einen nach dem anderen aus ihren großen, braunen Augen ernst an. „Das hat mir der Herr Pfarrer gesagt.“

Ihre Mutter lächelte mit Tränen in den Augen und strich Sandra über den Kopf. „Der Herr Pfarrer hat recht“, sagte sie leise. „Es geht ihr jetzt besser.“

***

Es geht ihr jetzt besser. Die Worte hallten in Felicitas' Kopf nach. Wie sehr sie sich doch gewünscht hatte, genauso zuversichtlich sein zu können wie Sandra. Aber alles, woran sie gedacht hatte, war Evas lebloser Körper gewesen und die gähnende, kalte Leere, die Evas Tod in ihrem Inneren hinterlassen hatte.

Jahrelang hatten sie Albträume verfolgt. Doch irgendwann war es besser geworden. Nein, nicht besser. Erträglicher. Sie gewöhnte sich an Evas Abwesenheit und schwor sich, alles zu tun, um Sandra nicht auch noch zu verlieren.

Und jetzt war sie hier, weit entfernt von ihrer zweiten Schwester, und Eva war zurückgekommen.

Schon als sie in ihrem Traum das erste Mal dem Mädchen in dem weißen Kleid begegnet war, waren die Erinnerungen an Eva zurückgekehrt. Aber als sie festgestellt hatte, dass es tatsächlich ihre tote Schwester war, die sie in ihren Träumen heimsuchte und von ihr verlangte, den richtigen Weg zu gehen, waren die vergangenen Ereignisse wieder so nah und spürbar wie seit Langem nicht mehr. Und jetzt?

Noch immer rannte Felicitas. Sie wusste nicht, wohin, doch das war ihr egal. „Warum hat Meda das getan? Was spielt sie für ein Spiel? Und welche Rolle hat sie mir zugeteilt?“ Sie zwang sich dazu, die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. All die merkwürdigen, rätselhaften Sätze, die sie in Medas Buch gelesen hatte, in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen.

In Medas Buch ...

Wieso hatte die Bibliothekarin solche Gedanken aufgeschrieben? So wichtige, vernichtende Gedanken? Waren sie nicht in ihrem Kopf besser aufgehoben, dort, wo niemand sie zufällig lesen konnte? So viele Fragen geisterten Felicitas durch den Kopf. Fragen, auf die sie keine Antworten wusste. Sie konnte sich nur an den Informationen orientieren, die sie bisher hatte, und das waren nicht viele. Dennoch versuchte sie, in Gedanken eine Liste zu erstellen.

Erstens: Meda schien irgendein seltsames Spiel zu spielen.

Zweitens: Es ging dabei um einen Kampf zwischen zwei Personen, Meda war anscheinend eine davon.

Drittens: Keiner der anderen Wandler schien davon zu wissen. Oder?

Viertens: Meda manipulierte die Träume anderer Wandler, um sie nach ihrem Plan handeln zu lassen.

Fünftens: Sie, Felicitas, schien eine Rolle in dem Spiel der Bibliothekarin zu spielen. Schließlich träumte sie schon seit Längerem regelmäßig von ihrer toten Schwester, die sie dazu bringen wollte, einen bestimmten Weg zu beschreiten. Medas Weg. Oder waren ihre Träume nur Zufall? Hatte die Bibliothekarin möglicherweise gar nichts damit zu tun?

„Nein“, dachte Felicitas energisch, „Meda manipuliert Träume, und auf einmal erscheint mir Eva und versucht mich dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun.“

Je länger sie über ihre Träume nachdachte, umso sicherer wurde sich Felicitas, dass sie nicht ihrem eigenen Unterbewusstsein entsprungen sein konnten. Schließlich hatte sie die Orte, an denen sie sich befunden hatte, nicht einmal annähernd erkannt. Und sie hatte schon so lange nicht mehr von Eva geträumt, dass es kein Zufall sein konnte, dass ihre kleine Schwester ausgerechnet jetzt mehrmals hintereinander in ihren Träumen aufgetaucht war.

„Was will Meda von mir?“, fragte sie sich. „Worum geht es hier eigentlich?“

Verzweifelt versuchte sie, die vielen einzelnen Puzzleteile zu einem Bild zusammenzufügen, doch es wollte ihr nicht gelingen, weil noch immer zu viele Teile fehlten. Eines davon war Onida. Wer verbarg sich hinter diesem Namen? Und was bedeuteten Medas Pläne für sie selbst, für Enapays Schule, für alle Wandler? Es wäre so einfach, mit einem der Lehrer darüber zu reden ... aber was würde Meda dann mit ihr anstellen? Die Bibliothekarin würde sicherlich nicht zulassen, dass sie ihre Geheimnisse ausplauderte ...

Jetzt hielt Felicitas doch an, blieb keuchend stehen und lehnte sich gegen einen dicken Baum. Er fühlte sich warm an. Ihre Beine zitterten heftig und gaben schließlich unter ihrem Gewicht nach. Sie rutschte auf den Boden, wo sie auf dem trockenen Laub sitzen blieb. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, sodass sie die Augen zusammenkneifen musste. Ihr T-Shirt klebte schweißnass an ihrer Haut, ihre Haare in ihrem Gesicht. Wie weit war sie gelaufen?

Erst jetzt wurde Felicitas wirklich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war. Panik übermannte sie, als sie sich umsah und verzweifelt feststellte, dass der Wald in allen Richtungen gleich aussah. Obwohl sie jetzt schon so lange in der Dunkelheit gelebt hatte, war ihr ziemlich mulmig bei dem Gedanken, hier im Wald von der Dämmerung überrascht zu werden. Deswegen stand sie eilig auf und klopfte sich den Schmutz von der Hose.

Jeder Schritt kostete sie unendlich viel Kraft, als hätte jemand tonnenschwere Gewichte an ihre Füße gebunden, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Um all die Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, begann sie leise zu summen. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass es Hurt von Christina Aguilera war.

Felicitas wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war. Die Schatten waren länger geworden, die Sonne über den Baumwipfeln nicht mehr zu sehen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit in den Wald Einzug hielt. Auf einmal ließ ein plötzliches Geräusch hinter ihr sie herumfahren.

„Ich hätte nie so kopflos weglaufen dürfen“, dachte Felicitas sich, während sie gegen die erneut aufsteigende Panik ankämpfte. „Was habe ich mir nur dabei gedacht?“

Sie wusste ganz genau, was sie dazu gebracht hatte, wegzulaufen. Es war vor allem die Angst vor Meda gewesen, die Angst davor, in etwas Größeres verwickelt zu sein, von dem sie keine Ahnung hatte. Und natürlich die Erkenntnis, dass die Bibliothekarin sie für ihre Zwecke benutzen wollte, indem sie ihre Träume manipulierte. Indem sie schmerzende Erinnerungen wieder ausgrub. Und ihr deutlich machte, dass sie eingesperrt war. Eingesperrt in ihrer eigenen Ohnmacht, eingesperrt in Enapays furchtbarer Schule, so weit weg von Sandra und ihrem früheren Leben.

Ein erneutes Rascheln im Unterholz schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie kniff die Augen zusammen und suchte mit ihrem Blick den dunklen Wald um sich herum ab. „Hallo“, fragte sie zögernd, „ist da jemand?“ Hoffnung und Angst lieferten sich in ihrem Inneren einen erbitterten Kampf. Wenn tatsächlich ein Mensch in der Nähe war, konnte dieser sie vielleicht mitnehmen.

Dann würde sie es doch noch schaffen, wieder nach Hause zu kommen, zu Sandra und ihren Eltern. Andererseits konnte es auch alles andere als ungefährlich sein, mitten im Wald auf einen Fremden zu treffen ...

„Wer bist du?“

Felicitas wirbelte herum und machte einen erschrockenen Satz zurück, als der Junge auf einmal vor ihr stand. Er war klein, nur etwas größer als Felicitas selbst, hatte feine, fast mädchenhafte Gesichtszüge, schwarze Haare und dunkle Augen. In der Hand hielt er ein Messer. Als Felicitas es sah, wich sie noch weiter zurück. Der Junge folgte ihrem Blick.

„Oh, ach so“, sagte er ruhig und lächelte, steckte das Messer aber nicht weg. „Keine Sorge, ich will dir nichts tun. Das ist nur zur Sicherheit. Du weißt schon, falls du auf einmal auf den Gedanken kommen solltest, mich umzulegen oder zu entführen.“

„Was?“, fragte Felicitas entgeistert. Mehr brachte sie nicht heraus.

„Das war natürlich ein Scherz.“ Jetzt steckte der Junge die Waffe doch weg. „Ich wollte damit nur sagen, dass man vorsichtig sein sollte. So tief im Wald. Um diese Uhrzeit.“ Er schwieg kurz und musterte Felicitas von oben bis unten. Als er ihre durchgeschwitzten, dreckigen Klamotten bemerkte, hob er eine Augenbraue. „Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen, aber dürfte ich wissen, wieso du um diese Uhrzeit so tief im Wald bist?“

„Ich ...“, setzte Felicitas an, brach dann aber ab, weil ihr auf die Schnelle keine plausible Antwort einfiel. Deswegen sagte sie nur: „Das könnte ich dich auch fragen!“

„Oh, du lebst wohl nicht in der Nähe?“, fragte der Junge. „Ich dachte, in den Dörfern gelte ich schon als eine Art Mythos.“

Felicitas versuchte verzweifelt, den Worten des Jungen zu folgen, aber entweder war sie zu erschöpft oder er redete völlig unzusammenhängend. Felicitas tippte auf beides. „Na ja, du weißt schon. Weil ich alleine im Wald lebe.“

„Oh“, sagte Felicitas, weil es das Einzige war, was ihr darauf einfiel.

„Und du? Woher kommst du?“

„Aus ...“, Felicitas überlegte fieberhaft. Sie konnte schlecht sagen: „Aus Burghausen“, schließlich lag das einige Hundert Kilometer entfernt. Und noch schlechter: „Ach, weißt du, ich bin weggerannt aus Enapays Schule, wo ich eigentlich lernen sollte, mit meinen überirdischen Fähigkeiten umzugehen.“ Deswegen erwiderte sie schroff: „Eigentlich geht dich das überhaupt nichts an.“

„Wenn du meinst“, sagte der Junge gleichgültig und hob die Schultern. „Also, ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“ Damit drehte er sich um und war im Begriff, zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Fassungslos sah Felicitas ihrer einzigen Möglichkeit hinterher, vor Einbruch der Nacht aus diesem Wald zu kommen. „Moment!“, rief sie etwas zu laut. „Warte mal!“

Als der Junge sich umdrehte, lächelte er, als hätte er gewusst, dass das fremde Mädchen in den schmutzigen Klamotten ihn wieder zurückrufen würde.

Die Chroniken der Wandler

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