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Mingans Angebot

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Menschen sind schwach. Sie hängen an ihren Erinnerungen, an den süßen Träumen der Vergangenheit. Sie glauben, sie seien stark, sie glauben, niemand könne sie manipulieren. Aber das sind Lügen. Sie belügen sich selbst und sie wissen es.

Als Mingan zurück zur Schule ging, wurde es bereits dunkel. Die Schatten unter den Bäumen wurden dichter und undurchdringlicher, und obwohl Mingan oft bei Nacht draußen war, richteten sich die Haare in seinem Nacken auf. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie da war. Dass sie ihm folgte auf Schritt und Tritt. Doch er hatte gelernt, mit seinem ungebetenen Gast zu leben, ihn als seinen zweiten Schatten zu betrachten.

„Warum bist du schon da?“, fragte er leise. Er wusste, dass sie es hören würde, doch wie immer antwortete sie nicht. Mingan blieb kurz stehen und lauschte in den Wald hinein. Er hörte das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Blätter im Wind und seinen eigenen Herzschlag, laut und schnell. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sich umzudrehen, ließ es jedoch bleiben und ging weiter.

Er hatte keine Angst. Früher hatte er welche gehabt, doch jetzt schon längst nicht mehr. Als sie gegangen war, hatte sie eine Leere zurückgelassen, eine eisige Leere, die am Anfang fast noch schlimmer gewesen war. Doch auch das war nun vorüber und er hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Enapay stand am Fenster und starrte hinaus über den von rotem Feuer erleuchteten Wald. Er mochte den Sonnenuntergang, wenn die Welt noch ein letztes Mal in hellem Licht erstrahlte, bevor die Schatten der Nacht sie umfingen.

Seine Finger glitten über das kühle, goldene Medaillon um seinen Hals, während er sich fragte, was noch alles geschehen würde, bis es ihnen gelang, ihre Aufgabe zu vollenden.

Auf einmal klopfte es leise an der Tür und Enapay zuckte kaum merklich zusammen. „Ja bitte?“

Mingan trat ein. „Meister.“ Der Lehrer neigte kurz den Kopf. Enapay konzentrierte sich auf Mingans Gefühle, spürte aber nichts außer der tiefen Ruhe, die alle anderen Gefühle zu überdecken schien.

„Setz dich“, bot Enapay an.

„Nein danke.“ Mingan blieb stehen.

„Wieso hast du mich aufgesucht?“

„Ich bin wegen des Mädchens gekommen ... Felicitas.“ Jetzt war es Mingan, der in Enapays Gesicht nach Gefühlsausdrücken suchte. Doch der Meister blickte ihn nur weiter regungslos an. „Sie hat heute sehr gut gekämpft. Sie hat großes Talent.“

„Worauf möchtest du hinaus?“ Enapay legte die Fingerspitzen aneinander.

„Ich wollte Euch um Erlaubnis bitten, sie zusätzlich zu ihren normalen Unterrichtsstunden auszubilden.“

Enapay schob einen Stuhl zurück und setzte sich. „Es ist nicht umsonst verboten, Schüler die Anevay-Techniken zu lehren“, sagte er langsam.

„Ich meine nicht speziell die Anevay-Techniken.“

„Aber es würde darauf hinauslaufen.“ Enapay sah Mingan an, doch der ältere Mann hielt seinem Blick stand. „Felicitas hat sich, genau wie die meisten anderen neuen Schüler, noch nicht vollkommen auf ihr neues Leben eingelassen. Es könnte gefährlich sein, ihr Waffen wie die Anevay-Techniken in die Hand zu geben.“

„Ihr wisst genauso gut wie ich, dass die Schule sicher ist, solange der Bannkreis aufrechterhalten wird.“

Enapay neigte leicht den Kopf. „Es herrschen gefährliche Zeiten, wir beide sollten uns darüber im Klaren sein.“

Mingan begann, rastlos in dem kleinen Arbeitszimmer auf und ab zu gehen. Sein weiter schwarzer Umhang umwehte seine Beine bei jedem Schritt. Schließlich blieb er stehen und sah seinen Meister ernst an. „Ihr denkt, sie ist es, nicht wahr? Ihr denkt, sie ist Onida.“

Enapay erwiderte seinen Blick ruhig. „Was ich denke, spielt keine Rolle.“

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.

„Sie hat unglaubliche Talente“, hob Mingan noch einmal hervor, „und in Zeiten wie diesen können wir jeden ausgebildeten Wandler gebrauchen!“ Dann war es wieder still. Auf einmal schien das Ticken der alten Wanduhr den ganzen Raum auszufüllen, von den Wänden widerzuhallen und immer lauter zu werden. Mingan spürte das plötzliche Verlangen, sich die Hände auf die Ohren zu pressen, um dem gleichmäßigen Geräusch zu entkommen.

Schließlich erhob Enapay sich wieder und trat zurück ans Fenster. Er sah Mingan nicht an, als er sprach.

„Sie wird eine Trainingspartnerin brauchen.“

***

Es war dunkel und kalt. Felicitas sah sich um und bemerkte, dass sie sich noch immer im Wald befand. Nein, dieser Wald war anders. Die Bäume waren höher und standen dichter beisammen, sodass man weder den Mond noch die Sterne sehen konnte. Und trotzdem leuchtete um sie herum ein diffuses, grünes Licht, das beruhigend und zugleich beängstigend wirkte.

„Hallo?“ Felicitas' Stimme warf zwischen den großen Bäumen ein unheimliches Echo zurück.

Plötzlich hörte sie ein Rascheln hinter sich. Sie fuhr herum, konnte jedoch niemanden entdecken. Eine Welle von Panik überkam sie.

„Wer ist da?“, rief sie und erschrak vor ihrer eigenen Stimme.

Dann war es wieder still. Totenstill. Sie hörte nur ihren eigenen Herzschlag, viel zu schnell, und ihren Atem, keuchend und laut.

„Es kann nicht ewig so bleiben wie jetzt.“ Noch bevor Felicitas sich umdrehte, wusste sie, wer da zu ihr sprach. Das Mädchen in dem weißen Kleid stand mit dem Rücken zu ihr. Seine langen, braunen Haare fielen offen über seinen Rücken und glänzten grünlich in dem sonderbaren Licht. „Du darfst deinen Weg nicht verlassen, Felicitas“, sagte es ruhig, „sonst kannst du deine Aufgabe nicht erfüllen.“

„Welche Aufgabe?“, wollte Felicitas schreien. „Wer bist du und was willst du von mir?“ Doch sie traute sich nicht, die Stille zu durchbrechen.

Einige Herzschläge lang stand sie nur reglos da, bis das Mädchen sich auf einmal umdrehte. Seine dunkelbraunen Augen fixierten Felicitas mit diesem eindringlichen und zugleich abwesenden Blick und seine Stimme klang zart und zerbrechlich, als es erneut zu sprechen begann: „Und du musst sie erfüllen. Tu es für mich.“

„Das ... das ist unmöglich!“, hauchte Felicitas. Sie taumelte einen Schritt zurück, dann noch einen, den Blick starr auf das Gesicht des Mädchens gerichtet. Für einen kurzen Augenblick flackerte ein anderes Bild in ihrem Kopf auf: ein Raum, hell erleuchtet und warm. Ein Blumenstrauß auf einem weißen Tisch. Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte.

Felicitas stolperte rückwärts, immer weiter zurück. Sie wollte weg, doch ihre Füße schienen ihr nicht mehr zu gehorchen. Blinde Panik erfasste sie. Und da riss sie den Mund auf und schrie. Schrie, so laut sie konnte, schrie, bis sie keine Luft mehr bekam und sich alles um sie herum in endloser Dunkelheit verlor.

***

„Felicitas!“ Felicitas riss die Augen auf und fuhr hoch. Sie schnappte nach Luft, als hätte man sie gerade vor dem Ertrinken gerettet, während ihr Blick gehetzt durch den kleinen Raum wanderte.

„Sch, ganz ruhig! Alles ist gut.“

Erst jetzt bemerkte Felicitas Ailina, die neben ihrem Bett kauerte.

„Sie ... sie ...“ Felicitas' Stimme zitterte und brach dann weg. „Ich hatte solche Angst!“, brachte sie schließlich mühsam hervor.

„Du bist hier in Sicherheit“, versprach Ailina und nahm Felicitas in den Arm.

Felicitas wurde von Schluchzern geschüttelt und ihre Hände krallten sich in Ailinas Schulter. „Es war nur ein Traum“, versuchte ihre Freundin sie zu beruhigen.

„Nur ein Traum“, wiederholte Felicitas mechanisch.

Es dauerte einige Momente, bis sie sich so weit gefangen hatte, dass sie sich von Ailina löste und aufrichtete.

„Willst du ... es mir erzählen?“, fragte Ailina vorsichtig.

Felicitas schüttelte nur den Kopf. Sie war nicht stark genug, jetzt darüber zu sprechen. Einige Atemzüge lang saß sie einfach nur auf der Kante ihres Bettes und starrte an die weiße Decke. Langsam verblassten die Bilder aus ihrem Traum, doch die Augen des Mädchens sah sie noch deutlich vor sich.

„Bin ich jetzt vollkommen verrückt geworden?“, fragte Felicitas sich im Stillen. „Warum habe ich auf einmal solche Angst? Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich von ihr geträumt habe ...“

Ailina stand auf, ging hinüber zum Schreibtisch und ließ sich auf einen der Stühle fallen.

„Wie spät ist es?“, wollte Felicitas wissen, während sie sich mit dem Rücken an die Wand lehnte und die Knie anzog.

„Kurz vor sieben.“

„Also haben wir noch Zeit.“ Felicitas legte das Kinn auf die Knie.

Ailina nickte nur und begann zu zeichnen.

Felicitas beobachtete sie eine Weile dabei, dann schloss sie die Augen und spürte, wie sie von einer bleiernen Müdigkeit überfallen wurde. Doch Felicitas kämpfte gegen den Schlaf an aus Angst davor, in ihrem Traum wieder dem Mädchen in dem weißen Kleid zu begegnen. Schließlich stand sie auf.

„Kommst du mit in die Bibliothek?“, fragte sie Ailina. Sie konnte es nicht länger ertragen, einfach tatenlos herumzusitzen und ihren Gedanken überlassen zu sein.

„Okay.“ Ailina legte den Stift weg. Die beiden Mädchen zogen sich um und eilten schließlich durch die leeren Gänge des Schlosses. Durch die hohen Fenster drang helles Sonnenlicht herein und verbarg die silbernen Zeichen an den Wänden, die nur bei Nacht sichtbar waren.

Ihre Schritte hallten unheimlich laut wider und Felicitas war froh, als sie endlich in den kleinen Hof hinaustraten und die enge, bedrückende Stimmung, die im Inneren des Schlosses geherrscht hatte, hinter sich ließen. Dennoch sprachen sie auch hier kein Wort, bis sie vor der kleinen, unscheinbaren Tür standen, die in die Bibliothek führte.

Ailina zögerte kurz, bevor sie die Klinke herunterdrückte. Der lange Korridor, der sich dahinter erstreckte, war um einiges düsterer als die Gänge im Hauptgebäude.

Felicitas fiel auf, dass die Fenster, die in die Wände eingelassen waren, kleiner und vergittert waren. Sie spürte, wie sich auf ihren Armen eine Gänsehaut bildete, und wusste nicht, ob das an dem kühlen Luftzug hier drinnen lag oder an der Atmosphäre. Sie konzentrierte sich und lauschte auf das Murmeln, das sie beim ersten Besuch in diesem Gang gehört hatte, doch die Stimmen schwiegen und sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder erschreckte.

Die Bibliothek hatte keine Fenster und wurde nur von mehreren Fackeln und Kaminfeuern beleuchtet. Sie wirkte leer und verlassen. Nur die Bücher standen in ihren Regalen wie stumme Wächter.

„Hallo?“ Felicitas' Stimme klang laut und falsch in der Stille. „Meda, sind Sie hier?“

„Was möchtest du von ihr?“, fragte Ailina leise.

„Wegen ...“ Felicitas verstummte, als ihr bewusst wurde, dass sie Ailina nichts von der seltsamen Prophezeiung erzählt hatte, die Meda ihr gegenüber erwähnt hatte. „Als wir das letzte Mal hier waren, hat Meda irgendetwas erzählt über Onida und ... Licht und Schatten“, murmelte sie ausweichend. „Ich will wissen, was sie damit meint.“

„Was genau hat sie gesagt?“ Zu ihrem eigenen Erstaunen erinnerte Felicitas sich noch ziemlich genau an Medas Worte und es fiel ihr nicht schwer, sie noch einmal zu wiederholen.

„Es gibt kein Licht ohne Schatten und keinen Tag ohne die Nacht. Wie die Sonne, so hat auch Onida zwei Seiten. Keine vermag es, die andere zu besiegen. Und nur vereint können sie Großes vollbringen. Weißt du, was das bedeuten könnte?“

Ailina antwortete nicht sofort. Sie wirkte nachdenklich. „Onida“, murmelte sie, „immer wieder Onida ...“

„Was soll das heißen, immer wieder?“

„Die Stimmen in dem Gang zur Bibliothek ...“ Unwillkürlich hatte Ailina ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. „Als wir das erste Mal hier waren, haben sie von Onida gesprochen. Ich habe es für unwichtig gehalten, aber ...“

„Was haben sie gesagt?“, wollte Felicitas wissen, mit vor Spannung zitternder Stimme. Sie wunderte sich selbst darüber, wie wichtig ihr diese Frage auf einmal erschien.

„Nicht viel. Sie sagten etwas über Kämpfe. Kämpfe, die waren, Kämpfe, die kommen und bis in die Ewigkeit andauern werden. Sie sagten etwas über Schicksal ...“

„Ich glaube nicht an Schicksal.“ Noch während sie das sagte, fragte Felicitas sich, ob es wirklich stimmte. Noch vor einigen Wochen hatte sie tatsächlich nicht daran geglaubt, ja, aber seither war so viel geschehen, so viel Unerklärliches und Unglaubliches, dass sie sich jetzt doch wunderte, ob das ganze Leben nicht irgendwie vorherbestimmt war.

Ailina lächelte. Ihr typisches, trauriges Lächeln. „Was hast du jetzt vor?“, wollte sie schließlich wissen.

Felicitas zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht ... vielleicht können wir hier etwas über diese Onida finden. Ich weiß zwar nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist.“ Ihr Blick schweifte über die endlosen Bücherregale. „Ich habe allerdings keine Ahnung, wo wir beginnen sollen“, gab sie kleinlaut zu.

Ailina seufzte. „Ich würde sagen, am Anfang“, schlug sie vor und ging auf das erste große Regal zu. Mit der Hand fuhr sie über die dicken, in Leder gebundenen Buchrücken, während sie leise vor sich hinmurmelte. Felicitas zögerte kurz, dann ging sie auf das nächste Bücherregal zu. Sie bemühte sich, leise aufzutreten, da ihr selbst die Geräusche ihrer Schritte falsch vorkamen in dieser heiligen Stille.

Während sie den Blick über die Buchrücken schweifen ließ, sog sie tief den Geruch nach feuchtem Leder und altem Papier ein. Er beruhigte sie irgendwie, strahlte Sicherheit und Vertrautheit aus.

Sie suchten lange. Felicitas wusste nicht, wie viel Zeit genau vergangen war, aber hier waren so viele Bücher, dass es unmöglich war, sie innerhalb weniger Stunden alle durchzugucken. Sie hatte sich gerade entschlossen, aufzugeben und Ailina zu suchen, als sie eine plötzliche Bewegung, die sie im Augenwinkel wahrnahm, herumfahren ließ.

„Meda!“ Es gelang Felicitas nicht, den überraschten Unterton zu verbergen. Sie hätte gerne gewusst, wie lange die Alte sie wohl schon beobachtet hatte. „Ich wollte Sie noch etwas fragen ...“, setzte sie vorsichtig an.

Meda hob eine Hand. „Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich kommen würdest“, sagte sie sanft. „Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“ Dann lächelte sie. „Solltet ihr nicht längst beim Frühstück sein?“

„Wie spät ist es denn?“

Meda legte den Kopf schräg, als würde sie überlegen, doch ihre durchdringenden, blauen Augen musterten Felicitas noch immer unverhohlen. Das Mädchen senkte den Blick.

„Fast halb zehn“, erklärte Meda schließlich.

Felicitas spielte mit dem Gedanken, noch hierzubleiben und die alte Bibliothekarin mit Fragen zu löchern, doch sie wusste, dass sie nicht mehr aus ihr herausbekommen würde. Außerdem war Meda ihr unheimlich, und wenn sie ehrlich war, freute sie sich über eine Ausrede, ihrem stechenden Blick zu entkommen. „Ich muss los“, murmelte sie kaum hörbar.

Meda nickte. „Komm bald wieder!“, rief sie ihr nach, während Felicitas durch die engen Gänge zwischen den Regalen hastete, auf der Suche nach Ailina.

Der große Saal war schon fast leer, als Ailina und Felicitas ihr Frühstück hinunterschlangen und danach weiter in ihr Klassenzimmer eilten. In der ersten Stunde hatten sie Kampf bei Mingan.

Sie hatten Glück, denn ihr Lehrer war noch nicht da, als die beiden etwas zu spät das Klassenzimmer betraten.

„Wo wart ihr?“, wollte Jessy sofort wissen.

„In der Bibliothek, wir wollten noch etwas nachschauen“, antwortete Ailina wahrheitsgemäß.

Jessy öffnete gerade den Mund, um weiter zu fragen, als Mingan den Raum betrat und sich bei den Schülern für seine Verspätung entschuldigte.

„Ich habe einige von euch gestern beim Tokahe-Spiel beobachtet“, erklärte er dann, „und muss euch ein großes Lob aussprechen. Dafür, dass ihr erst seit einigen Wochen an unserer Schule seid, habt ihr bereits viel gelernt.“

„Sieht so ein richtiger Kampf aus?“, fragte Christiane mit großen Augen.

„So ungefähr“, antwortete Mingan, „aber natürlich geht es in einem richtigen Kampf nicht nur darum, seinem Gegner eine Feder von der Kette zu reißen.“

Es gelang Felicitas noch immer nicht, sich einen richtigen Kampf vorzustellen. Der Gedanke daran, mit ihren Fähigkeiten andere Wandler zu verletzen oder gar zu töten, erschien ihr so fern, so unwirklich. Obwohl sie natürlich wusste, dass ein Teil ihres Unterrichts darauf abzielte.

Warum? Auf einmal kam ihr das Ganze lächerlich vor. Sie bekamen gesagt, dass sie den Menschen helfen sollten, sich von ihrem gegenseitigen Hass, dem Neid, der Eifersucht zu lösen, um den Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Und gleichzeitig sollten sie lernen zu kämpfen, um diese andere Gruppe von Wandlern zu ... ja, zu was? Zu töten? Oder nur daran zu hindern, ihrerseits Menschen umzubringen?

Felicitas versuchte, sich auf Mingan und den Unterricht zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Zu schnell wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf durcheinander.

Die Stunde zog sich in die Länge. Als Mingan endlich erklärte, dass sie für heute fertig seien, wäre Felicitas am liebsten aufgesprungen und zur Tür hinausgerannt. Sie wusste nicht, woher diese Unruhe kam, doch es schien ihr kaum erträglich, noch länger zu sitzen und so zu tun, als würde sie dem Unterricht folgen.

Doch als sie auf die Tür zusteuerte, hielt Mingans Stimme sie zurück.„Felicitas, Ailina, ich würde gerne kurz mit euch sprechen.“

Überrascht drehte Felicitas sich um. Was konnte ihr Lehrer von ihnen wollen? Bevor sie sich weiter Gedanken darüber machen konnte, fuhr Mingan auch schon fort. „Ich habe euch gestern während des Spieles beobachtet und festgestellt, dass ihr beide sehr talentiert seid. Deswegen wollte ich euch anbieten, euch zusätzlich zu euren normalen Unterrichtsstunden auszubilden.“

Felicitas merkte, dass sie auf alles gefasst gewesen war, nur nicht darauf. Einen Augenblick lang war es still in dem kleinen Klassenzimmer. Nur die Stimmen ihrer Mitschüler hallten draußen in dem langen Gang wider, wurden jedoch leiser, je weiter sie sich entfernten.

„Das geht nicht“, sagte Ailina auf einmal leise. „Wenn Sie damit meinen, dass Sie uns zusätzlich im Schwertkampf unterrichten wollen, dann ...“

„Nicht nur im Schwertkampf“, unterbrach Mingan sie. „Allgemein.“

„Aber ...“, setzte Felicitas an, hielt dann jedoch inne, weil sie nicht wusste, was sie eigentlich sagen wollte.

„Es ist nur ein Angebot“, betonte Mingan noch einmal. „Wenn euch der normale Unterricht reicht, ist das auch in Ordnung. Aber wie gesagt: Ihr habt sehr großes Talent und ich finde, das sollte man fördern.“

„Was meinst du?“, fragte Felicitas Ailina unsicher. Sie wusste nicht so recht, was sie von diesem Angebot halten sollte.

Ailina zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“

„Meinst du nicht, dass es dann etwas zu viel wird?“ Felicitas fühlte sich schon nach den normalen Unterrichtsstunden total ausgelaugt. Wie sollte sie dann noch zusätzliche Stunden überstehen? Und war sie gestern wirklich so gut gewesen? Sie erinnerte sich kaum noch an das Spiel. Es war, als wären ihre Erinnerungen zu einem dichten, zähen Nebel verschmolzen. Nur die Erschöpfung war geblieben, saß tief in ihren Gliedern und ließ alles um sie herum grau erscheinen.

Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke: Wenn Mingan sie zusätzlich unterrichtete, würden sie ihre Fähigkeiten vermutlich früher in den Griff bekommen. Und dann? Felicitas hatte Angst vor dem, was kommen würde, wenn sie ihre Fähigkeiten beherrschten. Mussten sie dann kämpfen? Mithelfen, die Menschen von den Theorien der Wandler zu überzeugen?

„Wovor fürchtest du dich?“, fragte Mingan auf einmal ruhig. Felicitas zuckte zusammen. Konnte ihr Lehrer ihre Gefühle wirklich so deutlich spüren? Sie versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen.

„Was passiert danach“, wollte sie leise wissen, „wenn wir gelernt haben, unsere Gaben zu beherrschen?“

Mingan schien einen Moment lang zu überlegen, dann deutete er auf die freien Stühle. „Setzt euch“, bat er.

Felicitas und Ailina nahmen Platz.

„Wenn ich mich nicht irre, müssten wir noch etwa zwanzig Minuten Zeit haben, bis eure nächste Stunde beginnt, oder?“

Ailina sah auf ihre Uhr und nickte.

„Was kommt danach ...“ Mingan sah aus dem Fenster und schwieg. Als Felicitas schon dachte, er hätte ihre Frage vergessen, antwortete er. „Unsere Aufgabe ist es, den Menschen den richtigen Weg zu zeigen. Das tun wir in ihren Träumen. Indem wir diese beeinflussen, zeigen wir ihnen neue Perspektiven – bessere Perspektiven. Es gibt viele Wandler auf der Erde. Auch wenn wir über alle Kontinente verteilt sind, haben wir doch das gleiche Ziel: die Menschheit zu einen und sie in eine bessere Zukunft zu führen. Und das tun wir durch ihre Träume.

Früher war es so, dass Schüler, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, wählen durften, welcher Aufgabe sie sich speziell verschreiben wollten. Sie konnten Lehrer werden oder Krieger. Wobei man zwei Arten von Kriegern unterscheiden musste: einmal die, die wirklich gekämpft haben, gegen Hakan und seine Wandler, und zum anderen jene, die die Träume der Menschen manipuliert haben. Auch sie wurden als Krieger bezeichnet, da sie für eine bessere Welt gekämpft haben.“ Mingan machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob die Schülerinnen ihm folgen konnten.

„Heute ist das allerdings ein wenig anders. Die Zeiten haben sich geändert und inzwischen ist es wichtig, dass sich jeder ausgebildete Wandler in allen drei Bereichen auskennt.“ Er schwieg kurz. „Habe ich deine Frage beantwortet?“, wollte er dann von Felicitas wissen.

Felicitas nickte nur. Lehrer und Krieger. Kämpfen. Die Worte spukten ihr im Kopf herum und noch immer schien ihr Gehirn sich zu weigern, die volle Bedeutung zu begreifen. Wo war sie hier nur hineingeraten? Sie erinnerte sich an den Drachen, golden und wunderschön. Etu. Er hatte ihr ihre Kräfte verliehen. Ob es ihm wohl auch möglich war, sie ihr wieder abzunehmen?

Mingan schien ihre Gedanken gelesen oder anhand ihrer Gefühle darauf geschlossen zu haben, denn er sagte: „Niemand kann dir deine Fähigkeiten abnehmen, Felicitas. Sie sind ein Teil von dir. Ob Gabe oder Fluch, liegt ganz bei dir.“

Felicitas antwortete nicht auf seine Bemerkung. Sie starrte nur in das kleine Kaminfeuer, beobachtete, wie die Flammen immer höher züngelten und das Holz auffraßen. Ihr war klar, dass Mingan noch immer auf eine Antwort bezüglich ihrer zusätzlichen Unterrichtsstunden wartete. Widerwillig löste sie ihren Blick vom Feuer und sah Mingan an, der ihren Blick ruhig erwiderte. „Ich möchte euch helfen, Felicitas. Nicht schaden“, erklärte Mingan sanft.

„Ich weiß.“ Felicitas zögerte kurz. „Wir können es ja mal versuchen. Wenn es zu viel wird, hören wir einfach wieder auf.“

Mingan lächelte erleichtert. „Ich würde vorschlagen, wir beginnen gleich heute Morgen, direkt nach dem Essen. Ist das für euch in Ordnung?“ Felicitas und Ailina nickten nur.

Nach dem Unterricht saß Felicitas in einem der gelben Sitzsäcke im Gemeinschaftsraum. Sie lehnte sich zurück, zog die Beine an den Körper und schlang die Arme darum. Als sie eben in ihr Zimmer gekommen war, hatte Ailina gezeichnet und Felicitas hatte sie nicht stören wollen. Außerdem machte es ihr nichts aus, alleine zu sein. Im Moment zumindest tat ihr die Stille um sie herum gut.

Sie warf einen Blick auf das Blatt Papier und den Stift, die sie mitgenommen hatte. Ituma verlangte von ihnen einen dreiseitigen Aufsatz zum Thema Die Grenzen der Freiheit, und das, obwohl sie die letzten Unterrichtsstunden nur über das Höhlengleichnis und den Begriff Wirklichkeit gesprochen hatten.

Aber Felicitas hatte keine Lust, sich jetzt noch Gedanken zu irgendeinem philosophischen Thema zu machen. Ihr Kopf fühlte sich auch so schon viel zu voll an. Die Spiele gestern, Medas rätselhafte Prophezeiung, das Mädchen in ihrem Traum ...

Plötzlich überkam sie Sehnsucht nach einem Menschen, dem sie vertraute, mit dem sie über all das reden konnte. Sie stand auf und öffnete das Fenster, lehnte sich weit nach draußen. Als Erstes konnte sie die Lichter in den gegenüberliegenden Fenstern ausmachen. Dann sah sie in den Himmel. Ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch schließlich konnte sie Wolken erkennen, die sich vor dem Mond zusammengeballt hatten und nur selten hier oder da einen einzelnen Stern hindurchblinzeln ließen. Die Luft war warm und schwer und schien vor Spannung zu knistern. Ein Gewitter bahnte sich an.

„Sandra, wo bist du?“, flüsterte Felicitas hinaus in die Nacht. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe so viel Angst davor, irgendwann kämpfen zu müssen, oder ... oder ...“ Sie hielt inne und dachte darüber nach, wovor sie eigentlich Angst hatte. „Ich habe Angst vor dem, was kommt“, murmelte sie dann, „weil ich keine Ahnung habe, was es sein wird.“

Sie schloss die Augen und sah ihre Schwester vor sich. Sandra, die unbeschwerte, tollpatschige Sandra, die immer den Augenblick gelebt und sich noch nie Gedanken über ein Morgen gemacht hatte.

„Hat mein Verschwinden sie verändert? Vermisst sie mich?“ Angestrengt spähte Felicitas in die Dunkelheit, als wäre irgendwo dort draußen ihre Schwester, die sich ihr zeigen würde, wenn sie sich nur genug anstrengte, sie zu sehen.

Irgendwo in der Ferne grollte Donner.

Die Chroniken der Wandler

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