Читать книгу Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke - Страница 40
Gefallene Engel
ОглавлениеEs ist falsch, Menschen Waffen in die Hand zu geben, denn sie sind noch nicht bereit dafür. Es ist auch falsch, Schüler mächtige Fähigkeiten zu lehren, denn niemand weiß, wozu sie diese einmal einsetzen werden.
Mingan saß aufrecht in dem Sessel hinter seinem breiten Schreibtisch und musterte Ailina und Felicitas abschätzend.
„Ihr seid weit gekommen in den letzten sechs Monaten“, erklärte er schließlich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einen Schritt weitergehen.“ Er schwieg kurz. „Ihr habt inzwischen gelernt, Materie aus Energie zu formen. Aber wie man Energie aus Materie zieht, hat man euch noch nicht gezeigt. Aus gutem Grund, möchte ich bemerken. Die Techniken, die ich euch in den nächsten Wochen versuchen werde beizubringen, sind nicht nur schwierig, sondern vor allem auch sehr gefährlich: die Anevay-Techniken.“
Felicitas und Ailina wechselten einen ratlosen Blick. Sie hatten noch nie etwas von diesen Anevay-Techniken gehört.
„Wir müssen dafür rausgehen, deswegen solltet ihr euch wärmer anziehen. Wir treffen uns dann im Wald. Bitte benutzt die kleine Hintertür.“
Als Felicitas und Ailina ungesehen durch die Hintertür schlüpften, empfing sie die Dunkelheit der Nacht. Es dauerte einige Augenblicke, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten.
Dann erst bemerkten sie die schmalen Streifen aus Licht, die aus den hell erleuchteten Fenstern des Schlosses fielen und den Schnee zu ihren Füßen zum Glitzern brachten. Mond und Sterne wurden von Wolken verdeckt.
„Es ist so lange her, dass ich draußen war. Richtig draußen, meine ich.“ Ailinas Atem bildete vor ihrem Mund eine weiße Nebelwolke. Felicitas antwortete nicht. Immer wieder sah sie über die Schulter zurück, während sie auf den dunklen Waldrand zugingen.
Sie hinterließen klare Fußabdrücke in dem hohen Schnee. „Jeder kann uns folgen“, schoss es Felicitas durch den Kopf. „Gehen wir nicht unser ganzes Leben lang auf weichem, formbarem Boden und hinterlassen unsere Fußabdrücke? Sind sie nicht das, was uns ausmacht?“
Erst als sie zwischen die hohen Bäume traten, bemerkte Felicitas Mingan. Er war vollständig in seinen langen, schwarzen Umhang gehüllt und nur seine Augen leuchteten unheimlich unter der Kapuze hervor. Sofort erinnerte Felicitas sich an ihre Pflicht, außerhalb des Schlosses unerkannt zu bleiben, und ein schlechtes Gewissen überkam sie.
„Wir hätten die langen Gewänder anziehen sollen“, sagte Ailina, als hätte sie Felicitas' Gedanken gelesen.
Mingan winkte ab. „Keine Sorge. Hierher verirrt sich normalerweise niemand.“
„Außer, man macht einen Spaziergang“, dachte Felicitas bitter und fragte sich wieder, ob Aranck nicht schon längst erraten hatte, was sie war.
„Wir sollten anfangen, bevor wir uns eine Erkältung holen“, meinte Mingan und trat einen Schritt vom Stamm des Baumes weg. Ein kalter Windstoß ließ die kahlen Zweige über ihnen erzittern. Ailina hauchte in ihre Handflächen und sah ihren Lehrer erwartungsvoll an, doch Mingan hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zum Himmel empor, wo gerade der Mond hinter einer großen Wolke hervorkam. In dem silbrigen Licht wirkte der Lehrer auf einmal um Jahre gealtert: Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen lagen tief in den Höhlen und überall waren Schatten. Felicitas wunderte sich darüber, dass ihr das alles nicht schon früher aufgefallen war.
„Energie ist etwas unendlich Wertvolles“, begann Mingan zu erklären. Seine Stimme klang seltsam rau, was vermutlich an der Kälte lag. „Jedes Lebewesen hat von der Natur eine gewisse Menge Energie erhalten. Genau so viel, wie es zum Leben braucht. Und manche sind dazu bestimmt, länger zu leben, andere kürzer. Ich weiß, dass das grausam klingt. Und vielleicht ist es das auch.“
Noch immer blickte Mingan zum Himmel empor. Felicitas spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Auf einmal hatte sie Angst, ihr Lehrer könne sich in einen Wolf verwandeln und den Mond anheulen.
„Aber es ist nicht an uns, das zu ändern“, fuhr Mingan mit seinem Vortrag fort. „Meiner Ansicht nach nicht. Aber Etu war anderer Meinung. Er gab uns nicht nur die Kraft, Materie aus Energie zu formen, sondern auch umgekehrt Energie aus Materie zu gewinnen. Und ihr wisst sicher, dass alles aus Materie besteht: jedes Blatt, jeder Stein, ihr und ich und sogar die Sterne. Aus Gegenständen können wir keine Energie ziehen, aber aus Lebewesen. Es ist noch nicht einmal sonderlich schwer.“
Jetzt sah er Felicitas und Ailina doch an, lange und ernst. „Die Fähigkeit, Lebewesen ihrer Energie zu berauben, nennt man die Anevay-Techniken“, erklärte er weiter. „Es gibt einige Wandler, die diese Techniken beherrschen, Enapay natürlich, aber auch Hakan, Ituma oder Meda.“ Beim Namen der alten Bibliothekarin zuckte Felicitas zusammen. „Früher wurden die Anevay-Techniken erst dann gelehrt, wenn ein Schüler seine Ausbildung abgeschlossen und den heiligen Eid auf unsere Aufgabe geschworen hatte. Und selbst dann durfte jeder selbst entscheiden, ob er diese Fähigkeiten überhaupt lernen wollte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Jetzt wird schon längst keine Wahl mehr gelassen.“ Er streckte eine Hand aus und strich über den kalten, glatten Stamm des Baumes. „Ich will ehrlich zu euch sein, auch wenn Enapay das nicht befürworten würde: Ihr lernt diese Techniken nicht nur, um euch zu schützen. Ihr lernt sie auch, um zu töten.“
„Ich möchte niemals töten“, flüsterte Ailina kaum hörbar.
„Zum Töten kann dich niemand zwingen, aber manchmal führt kein Weg daran vorbei.“ Mingan klang traurig, als er das sagte, und uralt.
„Sie haben es schon getan, nicht wahr?“, hörte Felicitas sich sagen.
„Ein paarmal.“ Mingan kniff die Augen zusammen, als würde er irgendeinen fernen, für Ailina und Felicitas unsichtbaren Punkt fixieren. „Aber das ist jetzt nicht von Bedeutung.“ Er räusperte sich, als würde ihm das helfen, die lästigen Erinnerungen abzuschütteln. „Die Anevay-Techniken“, wiederholte er, offenbar um sich selbst daran zu erinnern, wo er stehen geblieben war. „Wie gesagt: Jedes Lebewesen besitzt Energie. Sie fließt durch seinen Körper wie Blut, vorangetrieben von einem unsichtbaren Herzen. Wenn ihr euch darauf konzentriert, könnt ihr sie spüren.“
„Die Energie?“, fragte Felicitas verwirrt.
„Genau. Kommt her und legt eure Hand auf den Baumstamm.“
Ailina und Felicitas taten, wie ihnen geheißen.
„Und jetzt schließt die Augen und konzentriert euch. So, wie ihr es schon unzählige Male zuvor gemacht habt. Doch dieses Mal versucht ihr nicht, die Gefühle eines anderen Menschen zu erspüren oder eure eigene Energie, sondern die Energie des Baumes. Aber ihr müsst aufpassen: Wenn ihr es einmal geschafft habt, mit der Natur um euch herum zu verschmelzen, kann es sein, dass ihr euch in ihren Weiten verliert! Sollte es euch also wirklich gelingen, die Grenzen eures eigenen Bewusstseins zu überschreiten, müsst ihr umgehend zurückkehren!“
Felicitas Finger waren inzwischen so kalt, dass sie den glatten Stamm gar nicht mehr fühlen konnte. Trotzdem schloss sie die Augen und bemühte sich um Konzentration. Sie zwang ihren Atem in einen bestimmten Rhythmus, versuchte, alles um sich herum auszublenden, außer diesem Baum. Doch plötzlich schob sich Aranck vor ihr inneres Auge. Aranck, wie er ihre Tasse gehalten und verkündet hatte, er sähe darin einen Baum. Aranck, wie er ihr hinterhergerufen hatte, er wolle sie noch einmal treffen. Verzweifelt versuchte sie, diese Gedanken zu verdrängen und sich ganz auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.
Obwohl sie sich sehr bemühte, wollte es ihr in dieser Nacht nicht gelingen und auch nicht in der nächsten.
Es war bereits weit nach Mittag, als Felicitas leise aufstand, sich umzog und in ihre Stiefel schlüpfte. Wie immer gelang es ihr, ungesehen bis zu der kleinen Hintertür und dann in den Wald zu gelangen. Zu ihrer eigenen Überraschung war es für sie kein Problem, die kleine Lichtung wiederzufinden, auf der sie sich vor drei Tagen mit Aranck getroffen hatte. Sie sah den Jungen schon von Weitem. Mit seinen schwarzen Haaren und einer olivfarbenen Jacke, die ihr noch nie zuvor aufgefallen war, stand er in der Mitte der Lichtung und blickte ihr entgegen.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte er, als sie zwischen den Bäumen hervortrat.
Felicitas zuckte mit den Schultern. „Kein Problem. Danke fürs Warten.“ Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer Fleecejacke. Obwohl sie sich dieses Mal extra einen warmen Pullover darunter angezogen hatte, war ihr noch kalt. Sie würde Unsummen für ein Paar Handschuhe bezahlen. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie sagen sollte, und auch Aranck schwieg verlegen.
„Wollen wir uns hinsetzen?“, fragte er schließlich.
„Lieber nicht, ich bin jetzt schon eine halbe Eissäule.“
Er lächelte schüchtern. Gemeinsam gingen sie über die Lichtung, hin und her, immer wieder. „Erzähl mir etwas von dir“, bat Felicitas schließlich. „Wie ist es so, alleine im Wald zu leben?“
„Meistens ziemlich einsam. Aber das macht mir nichts aus. Ich habe nichts dagegen, alleine zu sein. Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten, weil meine Mutter, als ich sieben Jahre alt war ...“ Er hielt kurz inne und schien selbst überrascht zu sein, wie viel er erzählt hatte. „… weggegangen ist. Sie ist weggegangen – und nicht mehr zurückgekommen. Mit meinem Vater habe ich mich nie gut verstanden. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Dann hat der Förster mir angeboten, dass ich in seiner Hütte im Wald leben könne. Er würde mir Essen und alles Notwendige bringen, wenn ich für ihn schnitzte und bestimmte Kräuter sammelte, die er auf dem Markt verkaufen kann.“
„Ein ziemlich großzügiges Angebot“, bemerkte Felicitas.
„Ja.“ Aranck nickte. „Er ist ein guter Mensch.“ Dann blieb er stehen und sah Felicitas an. „Was ist mit dir?“
In ihrem Magen zog sich etwas zusammen. Sie wollte ihn nicht belügen. Diesen gutgläubigen Jungen, der sie nachts in seine Hütte gelassen hatte. Aber sie hatte keine Wahl. „Du gibst wohl nie auf, was?“
„Ich habe zwar nichts gegen Frauen mit Geheimnissen, aber so viele Geheimnisse, wie du hast, sind doch ein wenig unheimlich.“
„Wenn du wüsstest, wie viele“, dachte Felicitas, während sie fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung suchte. „Ich ... ich wohne seit einigen Wochen bei meinem Onkel. Er lebt hier ganz in der Nähe in einem kleinen Dorf.“ Sie bezweifelte zwar, dass es irgendein Dorf gab, das von hier aus an einem halben Tag bequem zu Fuß erreicht werden konnte, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. „Und ... und ...“
„Lass gut sein.“ Aranck winkte ab. „Es ist mir lieber, wenn du gar nichts sagst, als wenn du mir Lügen auftischst.“
„Du hast gefragt!“, konterte Felicitas wenig überzeugend.
„Tut mir leid.“
Überrascht sah sie ihn an. „Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen!“
„Ich sollte aufhören, zu versuchen, etwas aus dir herauszukitzeln.“
Gegen ihren Willen musste Felicitas grinsen. „Das solltest du wirklich, ja. Es ist nämlich sinnlos.“
„Das habe ich schon gemerkt. Du bist stur wie ein Esel.“
„Und du feinfühlig wie ein Trampeltier.“
Erst zu spät merkte sie, dass Aranck stehen geblieben war. Als sie sich zu ihm umdrehte, konnte sie gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, um seinem Schneeball auszuweichen. Nur wenige Sekundenbruchteile später flog ein zweiter durch die Luft und traf Aranck am Arm. „Eins zu null für mi-hich!“, rief Felicitas etwas zu laut, als sie sich auch schon unter einem weiteren Geschoss hindurchducken musste.
Sie wusste nicht, wie lange sie so durch den Schnee hüpfte, Schneebällen auswich und selbst welche warf. Dabei lachte und kreischte sie und es kam ihr vor, als würde all die Anspannung und Verantwortung der letzten Monate von ihren Schultern fallen und sie wäre wirklich nur ein Mädchen, das sich mit einem Jungen im Schnee balgte. Irgendwann ließ sie sich lachend nach hinten fallen. Die Kälte, die durch den längst durchnässten Stoff ihrer Jeans drang, fühlte sich angenehm an auf ihrer überhitzten Haut.
Sofort tauchte Arancks Gesicht in ihrem Blickfeld auf, er hielt zwei Schneebälle in den Händen und grinste.
„Gnade“, wimmerte Felicitas und streckte die Arme aus, „Gnade, ich tue alles, was Ihr wollt, gnädiger Herr!“
Aranck lachte und schmetterte die Schneebälle gegen einen Baumstamm. Dann ließ er sich neben sie fallen.
„Früher habe ich mit meiner Schwester immer Schnee-Engel gemacht.“ Felicitas wunderte sich darüber, wie leicht es war, mit diesem Jungen zu reden. Wie schnell ihr Sätze herausrutschten, die sie so gar nicht hatte sagen wollen.
„Und was hält dich davon ab, sie jetzt zu machen?“, wollte Aranck wissen.
„Alles“, wollte Felicitas sagen. „Sandra ist mindestens zweihundert Kilometer von hier entfernt, ich bin eine Wandlerin, eingesperrt in einem hübschen Käfig und gefüttert mit Wissen, mit dem ich Menschen großen Schaden zufügen könnte.“
Aber als Aranck ihr schließlich aufhalf, blickte sie auf zwei Schnee-Engel hinab, die vom Himmel gefallen waren. Nun lagen sie nebeneinander auf dem kalten, glitzernden Waldboden und ihre ausgebreiteten Flügel berührten sich, machten sie zu Verbündeten in einer gegen sie verschworenen Welt.