Читать книгу Das Tal der Elefanten - Lauren St John - Страница 10

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Man lässt eine alte Frau doch nicht einfach stehen am Wegrand.» Es war 3 Uhr früh. Martine erstarrte vor Schreck. Das war nicht weiter erstaunlich, denn schließlich krakeelte ihnen aus der Dunkelheit eine wohlbeleibte Medizinfrau mit afrokaribischem Akzent entgegen.

Eigentlich hatte Martine nicht geplant, sich zu dieser Unzeit im Wildreservat aufzuhalten. Ursprünglich wollte sie um 21 Uhr ins Bett gehen, zwei Stunden schlafen und sich dann um etwa 23 Uhr, zu einer relativ zivilen Zeit also, ins Reservat begeben. Doch es lief anders. Sie schlief länger als zwei Stunden, schaffte es, als sie schließlich wach war, nur mit allergrößter Mühe aufzustehen, und hatte überdies ein schlechtes Gewissen, als sie sich in das Reservat schlich. Nicht weil sie verschlafen hatte, sondern weil sie sich über die Anweisungen ihrer Großmutter hinweggesetzt hatte. Unter normalen Umständen durfte sie nach Einbruch der Dämmerung nicht mit Jemmy ausreiten. Doch dann redete sie sich ein, dass die Umstände diesmal alles andere als normal waren.

«Grace!», rief sie, nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. Als die Sangoma hinter einem Busch hervorgetreten war, hatte Jemmy das Weite gesucht, doch jetzt stakste er zaghaft auf sie zu. Martine stieg von seinem Rücken und stürzte sich in die ausgebreiteten Arme der Zulufrau.

«Ich bin so glücklich, dich zu sehen. Wie war es in Kwazulu-Natal? Hat Tendai dir erzählt, was hier abgeht? Was für ein Albtraum! Ein Geschäftsmann will Sawubona übernehmen. Er behauptet, mein Großvater habe ihm einen Kredit nie zurückbezahlt, und wir müssen alle an Heiligabend verschwinden, und Jemmy …»

«Nur mit der Ruhe, Kind! Dafür haben wir genug Zeit später», unterbrach sie Grace. «Jetzt müssen wir gehen schnell zum Geheimen Tal.»

Dann legte sie eine Hand auf ihre ausladende Hüfte und blickte ratlos Jemmys langen weißen Rücken empor. «Und wie soll die gute alte Grace jetzt da hochkommen?»

Einen Augenblick lang verschlug es Martine die Sprache. Der bloße Gedanke, dass Grace – eine Frau, die ihre Desserts am liebsten gleich selbst verspeiste – Jemmy besteigen wollte, war gelinde gesagt besorgniserregend. Die Gefahr, dass die weiße Giraffe einen irreparablen Rückenschaden davontragen würde, war groß. Andererseits wäre ihre Freundin bestimmt verletzt, wenn sie sie darauf aufmerksam machen würde.

Glücklicherweise – oder unglücklicherweise – wurde ihr die Entscheidung abgenommen. Jemmy, der Fremden gegenüber normalerweise wie versteinert war, gab seinen flatternden, melodischen Ton von sich und legte sich zu Boden, woraufhin Grace mit majestätischer Eleganz auf seinen Rücken stieg und sich dort wie in einem bequemen Lehnstuhl niederließ. Dann streckte sie Martine eine Hand entgegen und sagte: «Komm Kind, was wartest du noch?»

Martine konnte nicht ablehnen, ohne Grace wegen ihres Umfangs vor den Kopf zu stoßen. Also kletterte sie auf den Widerrist der Giraffe, hielt sich an ihrer Mähne fest und sprach ein leises Gebet zu Jemmy und den vereinten Giraffengöttern.

Als Jemmy langsam aufstand, klammerte sich Grace an Martine fest und schnatterte wie wild auf Zulu vor sich hin. Martine wusste nicht, ob sie fluchte oder betete. Zu guter Letzt jedoch machte sich Jemmy, sehr langsam vorwärts schreitend, mit seinen zwei Reiterinnen auf den Weg.


Normalerweise bahnte sich Martine ihren Weg in das Geheime Tal, indem sie die Zähne zusammenbiss, tief Atem holte und sich an Jemmys Mähne und Hals festklammerte, während dieser mit voller Wucht auf den knorrigen Baum und den mit Dornen gespickten Vorhang aus Kriech- und Schlingpflanzen losgaloppierte, der den engen Felsspalt verdeckte. Mit der gewichtigen Passagierin Grace auf dem Rücken kam diese Methode heute jedoch nicht in Frage. So mussten die beiden Menschen eher schwerfällig durch das Unterholz kriechen, während sich die weiße Giraffe anmutig ihren Weg durch den Spalt suchte.

«Du solltest deinen Führerschein so bald wie möglich machen, Honey», sagte Grace, während sie Blätter, Moos und Dornen aus ihrer Frisur klaubte. «Auf einer Giraffe reiten – das ist zum Vergessen. Nun werde ich humpeln tagelang wie ein Rodeo-Cowboy. Aber wie bist nur du in das Tal gekommen durch den Dornenbusch, ohne dass du bist völlig zerfetzt?»

«Ich wusste gar nicht, dass es einen anderen Eingang zum Tal gibt», sagte Martine. Sie schaltete die Taschenlampe ein und ließ ihren Kegel durch das Tal gleiten. Sie standen in einem von Orchideenduft erfüllten Kessel, der von zwei nach innen geneigten Felswänden begrenzt war. Oben mündeten die Wände in ein dunkelblaues Himmelrechteck voller funkelnder Sterne. «Und wie gelangst du normalerweise ins Tal hinein?»

Geheimnisvoll lächelnd sagte Grace: «Ich habe meinen Weg, Kind. Du hast deinen.»

Martine war schon oft in der Gedächtnishalle gewesen, und doch hatte diese immer wieder etwas Magisches für sie. Die schwere, stickige Luft, ähnlich wie in einer von Weihrauch erfüllten Kathedrale, versetzte sie in jene ferne Zeit, in der die San-Buschmänner ihr Leben auf die Granitfelsen gemalt hatten. Bilder von wilden Tieren und Männern mit Speeren oder Löwenmasken huschten schemenhaft wie Schattengespenster über die Höhlenwände.

Martine und Grace ließen sich auf einem flachen Fels nieder, der wie eine natürliche Sitzbank aussah. Martine spürte, dass Khan, der Leopard aus Simbabwe, bei dessen Rettung sie mitgeholfen hatte, sich lautlos von hinten angeschlichen hatte. Sie stellte sich vor, dass er wie eine Sphinx auf einem Felssims hinter ihnen lag. Sein goldenes Fell mit den onyx-schwarzen Rosetten glänzte im Schein der Taschenlampe. Sie wusste, dass er sie mit einer Mischung aus Liebe und Verunsicherung beobachtete. Verunsicherung – weil seine Gefühle jedem einzelnen seiner Raubtierinstinkte widersprachen.

Martine ihrerseits hatte für ihn nichts als Liebe übrig.

Tränen quollen in ihren Augen auf. Schon bald würde man ihr das alles wegnehmen. Wenigstens erfüllte es sie mit einer gewissen Genugtuung, dass Reuben James diesen Ort wohl nie finden würde. Doch dieses Gefühl wurde durch den schmerzvollen Gedanken, sich von Khan und Jemmy verabschieden zu müssen, gleich wieder verdrängt. Darüber hinaus würde sie die Verbindung mit ihren Vorfahren verlieren, die ihre Geschichte auf die Höhlenwände gemalt hatten.

Grace reichte ihr ein Papiertaschentuch. «So, du erzählst mir jetzt von Anfang an die ganze Geschichte. Und dass du mir nichts auslässt.»

Martine fing an. Sie erzählte der Frau, die für sie Ratgeberin, Begleiterin, Freundin und Erdmutter zugleich war, von ihrer beunruhigenden ersten Begegnung mit Reuben James, von den Schulden ihres Großvaters und dem abgeänderten Testament, von Angels Angriff gegen den Fahrer, von der Entdeckung des Briefs ihres Großvaters mit der Bitte um Verzeihung und von der Abreise ihrer Großmutter nach England.

«Du siehst also, Grace, ich kann nicht warten, bis ich ausreichend Erfahrung habe, um die Höhlenmalereien zu lesen. Ich brauche die Antwort jetzt. Heute Abend. Es bleiben uns nur noch zehn Tage, um Sawubona zu retten. In zehn Tagen wird alles, was wir lieben, weg sein.»

Grace ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Die Stille zog sich in die Länge, bis Martine, deren Nerven zu reißen drohten, vor lauter Ungeduld aufschreien wollte. Schließlich stemmte sich die Sangoma von dem Sitz hoch und ging zur Felswand, wo sie vor einem Fleck stehen blieb, den sie mehrere, endlos lang scheinende Minuten musterte. Martine stellte sich neben Grace vor die Felswand. Gemeinsam starrten sie nun auf den Fleck.

«Du willst mir doch wohl nicht sagen, dass dieser Fleck etwas bedeutet?», begehrte Martine auf. «Da hat doch einer bloß etwas Farbe verschüttet oder sonst herumgekleckst.»

Grace schüttelte den Kopf und sagte: «Nein, die Vorfahren hatten für alles einen Grund.»

Dann ging sie durch die Höhle und strich auf der Suche nach weiteren Hinweisen mit ihren großen, kissenartigen Handflächen über den Stein. Plötzlich hielt sie inne. Aus dem Granit trat etwas hervor, das wie ein Kompass aussah.

Plötzlich wurde Grace ganz aufgeregt. «Komm her, Kind», sagte sie. «Wir müssen gehen!»

«Wohin?», fragte Martine, aber Grace sagte nichts, sondern packte nur Martines Taschenlampe und schaltete sie aus. Als hätte jemand die Fensterläden geschlossen, wurde es plötzlich stockdunkel.

So sehr Martine Khan liebte, war es ihr nicht gerade wohl dabei, mit dem größten Leoparden der Welt in einem Irrgarten gefangen zu sein, wenn sie nicht einmal die Hand vor ihrem Gesicht sehen konnte. Doch die Sangoma kannte keine derartige Angst. Sie nahm Martine bei der Hand und führte sie durch ein Labyrinth von Höhlen, die sich wie Schlangen durch den Berg rankten – Höhlen, die Martine bisher nie zu erkunden gewagt hatte.

Jetzt wurde die Luft noch schwüler und drückender. Eine tiefe Beklemmung beschlich Martine, und sie rang nach Luft, als sich plötzlich ein Sternenhimmel vor ihr auftat und frische Nachtluft ihr Gesicht überströmte.

Sie befanden sich auf der Bergflanke über dem Geheimen Tal. Überrascht stellte Martine fest, dass Khan mit ihnen gekommen war und ihnen wie ein treuer Hund auf den Fersen folgte. Sein gelber Blick war aufmerksam auf Grace gerichtet, die im Mondschein ihren Weg durch den Berghang suchte. Dann blieb sie stehen und knipste die Taschenlampe an.

«So, kannst du sie jetzt sehen?», fragte sie.

Martine ging zu Grace hinüber. In einer Mulde am Fuß eines mächtigen Felsblocks ragten zwei große Elefantenstoßzähne aus der Erde. Sie waren dreckverkrustet, als wären sie irgendwie aus dem Erdreich gerissen worden. Ihre Spitzen berührten sich. Sie wiesen nach Nordwesten.

«Ja, ich sehe sie, Grace. Aber was soll das bedeuten? Woher stammen sie? Wie sind sie hierher gekommen?»

Die Sangoma machte ihr ein Zeichen, sich hinzusetzen. Khan gesellte sich zu ihr und ließ sich neben ihr nieder. Martine legte den Arm um ihn, als handle es dabei um die natürlichste Sache der Welt. Es war die erste Berührung, seit sie ihn in Simbabwe gerettet hatte, und sie war so berückend wie damals. Sein goldenes Fell strahlte Wärme aus. Er zog seine Krallen ein und fing an, tief und behaglich zu schnurren.

Grace öffnete den Lederbeutel, den sie um den Hals getragen hatte, streute seinen Inhalt – mehrere Knöchelchen, Stachelschweinborsten, eine Wiedehopffeder und frische Kräuter – bei den Stoßzähnen aus und zündete ein Streichholz an. Sie schloss die Augen. Eine mit dem Duft von afrikanischen Veilchen und Moschus durchmischte Weihrauchwolke verbreitete sich in der Luft. Grace begann, laut vor sich hin zu brabbeln. Martine verstand kein Wort. Es klang, als würde sie mit jemandem streiten – mit den Geistern der Vorfahren vielleicht. Jetzt schien sie sie um etwas anzuflehen. Sie verschränkte die Arme über der Brust und wankte vor- und rückwärts. Es war offensichtlich, dass sie Qualen litt.

Martine war verunsichert. Sie klammerte sich an Khan. Sollte sie versuchen, Grace aus ihrer Trance zu holen, oder würde sie damit ein heiliges Ritual stören? Khan begann zu knurren.

Plötzlich öffnete Grace die Augen. Sie blickte Martine starr an und sagte: «Die vier Blätter werden dich führen zum Kreis. Der Kreis wird dich führen zu den Elefanten. Die Elefanten werden dich führen zur Wahrheit.»

«Welche Wahrheit?», fragte Martine von einem Déjàvu-Gefühl überwältigt. An ihrem ersten Morgen in Südafrika hatte sie Grace genau dieselbe Frage gestellt. Und sie hatte sie immer wieder gestellt, ohne je eine Antwort darauf zu erhalten.

«Welche Wahrheit?», fragte Martine nochmals, weil Grace sie mit einem Gesichtsausdruck anschaute, den sie nicht deuten konnte.

«Deine Wahrheit», antwortete Grace und strich Martine eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Wenn ein Dorn steckt in deinem Herz, musst du ihn herausziehen, ganz egal, wie weit du gehen musst für eine Medizin, die dir wird helfen dabei.»

Mehr verriet sie nicht. Stattdessen umarmte sie Martine und redete ihr gut zu, Stärke zu zeigen. In Gedanken vertieft ritt Martine zum Haus zurück. Die Sangoma hatte ihr Angebot, auf Jemmy mitzureiten, nicht angenommen. Stattdessen murmelte sie, sie habe noch Dinge zu erledigen. Martine mochte gar nicht daran denken, was Grace wohl um 4 Uhr morgens in einem stockdunklen Wildreservat zu erledigen hatte. Sie stellte deshalb auch keine weiteren Fragen. Wie Ben hatte sie gelernt, dass es manchmal besser war, Dinge unausgesprochen zu lassen.

Auf ihrem langsamen Ritt durch das Reservat grübelte sie über die Worte von Grace nach, als sie am Horizont plötzlich einen weißen Lichtschein sah. Sie blickte auf die Uhr. Es war 4.30 Uhr und immer noch dunkel. Aber das noch weit entfernte Haus war hell erleuchtet. Entweder hatten Tendai oder Ben ihr Verschwinden bemerkt und waren in Panik geraten, oder es spielte sich eine Tragödie ab. Fest griff sie in Jemmys Mähne und trieb ihn zu einem gestreckten Galopp an.

Am Eingang zum Reservat wartete bereits Ben auf sie. «Geh zur Vordertür hinein», sagte er hektisch. «Ich lenke Tendai und den Wachmann in der Küche ab, während du wieder in dein Pyjama steigst. Tendai weiß nicht, dass du weg warst. Ich habe ihm gesagt, dass man dich – wenn du erst einmal schläfst – nur mit einer Bombe wecken kann.»

«Danke», sagte Martine. «Aber wenn er nicht weiß, dass ich weg war, warum ist das Haus denn wie ein Christbaum erleuchtet?»

Ben zog das Eingangstor hinter sich zu und verschloss es. «Weil wir Besuch von Einbrechern hatten.»


Das Tal der Elefanten

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