Читать книгу Das Tal der Elefanten - Lauren St John - Страница 5
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ОглавлениеAls das Auto aus ihrem Blickfeld verschwunden war, überlegte Martine, ob sie nicht zu ihrer Großmutter eilen sollte, um sie vor dem unheimlichen Mann zu warnen. Doch sie hatte vergessen, nach seinem Namen zu fragen, und Gwyn Thomas ärgerte sich manchmal über Martines «Bauchgefühle». Und überhaupt: Wie sollte sie ihr Misstrauen begründen? Der Mann war elegant gekleidet, ließ sich in einem schicken Wagen durch die Gegend fahren und hatte sich nichts Schlimmeres zuschulden kommen lassen, als sie nach ihrem Namen zu fragen und zu bemerken, dass sie wohl kaum aus Südafrika stammte. Martine beschloss, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden. Es wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass ihr Instinkt sie in die Irre geführt hätte.
Die Wüstenluchse waren so hungrig, dass sie an ihrem Gitterzaun herumkauten, und als sich Martine schließlich dem Gehege näherte, legten sie sich sprungbereit auf den Boden, um sich gleich auf das Fressen stürzen zu können. Sie waren als fauchende Kätzchen mit langen Pinselohren nach Sawubona gekommen und anfangs so klein und schwach gewesen, dass sie während der ersten Wochen auf Martines Bett schlafen mussten. Doch in der Zwischenzeit waren sie so kräftig geworden wie kleine muskelbepackte Löwen. Als Martine ihnen das Fleisch zuwarf, sprangen sie – wie von Düsenaggregaten angetrieben – fast drei Meter hoch in die Luft, schnappten sich ein Stück und verdrückten es bedrohlich knurrend in einem Mal. Bald schon würde man sie wieder in die freie Wildbahn entlassen können. Martine wusste jetzt schon, wie sehr sie sie vermissen würde.
Das Äffchen Ferris hockte auf ihrer Schulter, während sie die restlichen Tiere versorgte. Alle mussten sie gefüttert und getränkt werden, und die Dik Dik, eine zierliche Zwergantilope mit zwei kurzen, spitzen Hörnchen, brauchte einen neuen Wundverband. Das Tier blickte Martine vertrauensvoll an, während sie die Wunde mit einer Naturarznei pflegte, die ihr Tendais Tante Grace gegeben hatte. Grace war eine Sangoma, eine Medizinfrau und Heilerin. Sie war eine Zulu, doch ein Teil ihrer Familie stammte aus der Karibik. Sie war auch der einzige Mensch, der die Wahrheit über Martines geheime Gabe kannte – eine Gabe, die Martine die Kraft verlieh, Tiere zu heilen, und die nicht einmal sie selbst völlig verstand. Aus diesem und vielen anderen Gründen hatten sie eine ganz besondere Beziehung. Jetzt in den Schulferien hoffte Martine, Grace öfter sehen zu können als üblich.
Nachdem sie den protestierenden Ferris in seinen Käfig zurückgebracht hatte, lief sie zum Reservat, um Jemmy zu begrüßen. Die Eingangspforte lag ganz in der Nähe des Hauses. Als sie den Garten durch ein Seitentürchen betrat, sah sie die schwarze Limousine wieder. Wie ein Leichenwagen stand sie auf dem Fahrweg zum Haus. Der Fahrer rauchte, gegen die Motorhaube gelehnt, eine Zigarette. Er hob die Hand, als er Martine durch den Garten gehen sah. Sie winkte ohne große Begeisterung zurück.
Wie jeden Morgen erwartete Jemmy sie am Eingangstor zum Reservat. Sein weiß-silbernes und zimtfarben gesprenkeltes Fell schimmerte in der Sonne und hob sich vom eisvogelblauen Himmel ab. Martine ging es immer schlagartig gut, sobald sie Jemmy erblickte. Auch wenn sie sich jetzt schon seit zehn Monaten kannten und sie in dieser Zeit sogar gelernt hatte, auf ihm zu reiten, war sie jedes Mal aufs Neue aufgeregt, ihm gegenüberzustehen. Wenn sie ihn hinter den Ohren kraulte und auf seine seidenweiche, silberne Nase küsste, senkten sich seine langen, gebogenen Wimpern vor lauter Glückseligkeit und Freude.
«Noch drei Wochen Ferien, Jemmy», sagte sie. «Ich kann es kaum fassen. Drei wundervolle Wochen ohne Schularbeiten, ohne Mathematik, ohne Geschichte, ohne Mrs. Volkner, die mich rügt, weil ich zum Fenster hinausschaue, ohne Nachsitzen, ohne Schule. Punkt. Schluss. Und dann kommt auch noch Ben zu uns wohnen. Ich schwebe jetzt schon auf Wolke sieben. Wir werden jedes Mü von Sawubona erforschen, von frühmorgens bis spätabends die Sonne genießen, im See paddeln und vielleicht sogar zelten gehen.»
Jemmy stupste sie liebevoll mit der Nase an. Einen Moment lang war sie versucht, einen kleinen Ausritt mit ihm zu machen, doch dann erinnerte sie sich, dass Ben demnächst aus Kapstadt zurückkommen würde. Sicher hatte er eine Menge zu erzählen. Außerdem wollte sie ihm dabei helfen, sich im Gästezimmer häuslich einzurichten, wo er während der Weihnachtstage untergebracht sein würde, während seine indische Mutter und sein afrikanischer Vater auf Kreuzfahrt waren. Eigentlich hätte Ben mit dabei sein sollen, doch er wollte sich von Tendai zum Fährtenleser ausbilden lassen und verzichtete auf die Kreuzfahrt, um stattdessen seine Buschkenntnisse aufzufrischen.
Zusammen mit Martine freute er sich diesmal auf friedliche und lustige Ferien in Sawubona, nachdem die beiden letztes Mal ihre freie Zeit damit verbracht hatten, in der Wildnis von Simbabwe einen Leoparden vor bösen Jägern und einer wilden Bande von Schatzsuchern zu retten.
Martine war gerade dabei, das Tor zum Reservat zu schließen, als unvermittelt der Motor der schwarzen Limousine aufheulte. Der Wagen preschte mit hoher Geschwindigkeit über den Fahrweg und warf dabei fast einen Blumentopf um. Zu Martines Überraschung war ihre Großmutter weit und breit nicht zu sehen. Dabei war Höflichkeit für sie die höchste aller Tugenden. Sie begleitete Besucher immer bis zu ihrem Wagen und winkte ihnen hinterher, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Ein ungutes Gefühl beschlich Martine.
Schnell lief sie durch die Mangobäume zum Haus. Da kam Tendai in seinem Jeep dahergerattert. Auf dem Beifahrersitz saß Ben. Als er Martine sah, glitt ein breites Grinsen über seine Züge, das die blendend weißen Zähne in seinem honigfarbenen Gesicht hell erstrahlen ließ.
«Tendai hat mich mitgenommen.» Er warf den Rucksack über eine Schulter und sprang vom verbeulten Fahrzeug herab. Er trug eine khakifarbene Weste, weite Tarnhosen und Wanderstiefel. «Die Leute, mit denen ich bis zur Hauptstraße fahren konnte, wollten mich nicht bis zum Haus bringen, weil sie Angst hatten, von Löwen aufgefressen zu werden.»
Normalerweise hätte Martine mit einer lustigen Bemerkung reagiert. Heute war es anders, denn das Haus kam ihr immer noch seltsam ruhig vor. Um diese Zeit saß ihre Großmutter normalerweise am Frühstückstisch, aß Toast mit Stachelbeermarmelade, trank Tee dazu und hörte die Nachrichten und den Wetterbericht im Radio. Außerdem hatte sie gesagt, sie wolle zu Bens Begrüßung Scones backen.
«Wo ist denn deine Großmutter, Kleine?», fragte der Wildhüter. «Ich habe versucht, sie über Festnetz und Mobiltelefon zu erreichen, um sie etwas wegen einer Lieferung zu fragen. Keine Antwort.»
Martine blickte ihm starr in die Augen. «Tendai, hier stimmt etwas nicht. Es ist so ein unheimlicher Mann aufgetaucht, der sie besuchen wollte. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Nein, ich weiß, dass irgendetwas faul ist.»
«Was für ein unheimlicher Mann?», fragte Ben und ließ den Rucksack auf den Rasen fallen.
Tendai legte die Stirn in Falten und sagte: «Meinst du den Mann in der schwarzen Limousine? Der hat uns fast von der Straße gefegt.»
Dann ging er schnellen Schrittes mit Martine und Ben im Schlepptau auf das Haus zu. Martine hätte sich ohrfeigen können, dass sie nicht darauf beharrt hatte, den Mann bis zum Haus zu begleiten. Was, wenn ihrer Großmutter etwas zugestoßen war?
Warrior, der schwarz-weiße Kater ihrer Großmutter, saß auf den Stufen vor der Eingangstür in der Sonne. Sein Schwanz peitschte wild hin und her, und seine Rückenhaare waren aufgestellt. Tendai machte einen Bogen um ihn und ging in das Wohnzimmer. «Mrs. Thomas?», rief er. «Mrs. Thomas, alles in Ordnung?»
«Großmutter», schrie Martine.
«Kein Grund, so zu schreien», tönte eine schwache Stimme durch den Flur. «Ich bin im Arbeitszimmer.»
Martine stürmte den Flur entlang und klopfte aus lauter Gewohnheit an die Tür des Arbeitszimmers. Gwyn Thomas saß zusammengekrümmt hinter ihrem Schreibtisch, und ihr Gesicht hatte etwa dieselbe Farbe wie das Bündel Dokumente, das sie in den Händen hielt. Als sie aufblickte, stellte Martine erschrocken fest, dass ihre blauen Augen rot unterlaufen waren, als hätte sie geweint.
«Kommt herein, Martine, Tendai», sagte sie. «Und du auch, Ben. Du gehörst zur Familie.»
«Dieser fiese, unheimliche Mann hat etwas getan, das dich so durcheinander gebracht hat. Ich wusste sofort, als ich ihn sah, dass er nichts Gutes im Schilde führte.»
«Martine, wie oft muss ich dir sagen, dass du nicht aus dem Bauch heraus über andere urteilen sollst», schimpfte Gwyn Thomas. Doch dann krampften sich ihre Hände um das Papierbündel, und sie fügte hinzu: «Nur ist es leider so, dass du in diesem Fall wahrscheinlich sogar recht hast.»
Sie hielt einen Moment inne und ließ ihre Augen sehnsüchtig aus dem Fenster schweifen, als wolle sie sich das Bild der am Wasserloch grasenden Springböcke und Zebras im Gedächtnis festschreiben. «Ich wünschte, ich müsste euch nicht erzählen, was ich euch jetzt zu erzählen habe.»
«Was immer es sein mag, es wird alles gut, Mrs. Thomas», versuchte Tendai sie zu beruhigen.
Martine war keineswegs davon überzeugt, dass alles gut würde. «Großmutter, du machst uns Angst. Was ist passiert? Wer war dieser Mann?»
«Sein Name ist Reuben James», sagte Gwyn Thomas schließlich und wandte sich ihren drei Zuhörern zu. «Er war ein Geschäftspartner meines verstorbenen Ehemanns. Ich erinnere mich dunkel daran, ihm einmal begegnet zu sein, und schon damals habe ich ihm nicht über den Weg getraut. Dabei ist das Geschäft, das er mit Henry abwickelte, eigentlich ganz gut abgelaufen. Mr. James hält sich meist in Namibia oder außerhalb Afrikas auf und behauptet nun, er habe erst vor Kurzem entdeckt, dass Henry vor zweieinhalb Jahren von Wilderern getötet worden ist. Und heute hat er mir dies hier gebracht.»
Sie hielt eines der Dokumente in die Höhe, in dessen Mitte geschrieben stand: LETZTER WILLE UND TESTAMENT VON HENRY PAUL THOMAS. Oben rechts prangte ein nach außen ausfransendes Wachssiegel, das wie ein Blutfleck aussah. Als sie näher trat, konnte Martine ein Firmensignet entziffern, auf dem Cutter & Bow, Rechtsanwälte, Hampshire, England stand.
Tendai war verwirrt. «Aber wie kommt er zu diesem persönlichen Dokument?»
«Gute Frage, und genau die habe ich ihm auch gestellt. Er sagte mir, dass Henry vor drei Jahren, als Sawubona in finanziellen Schwierigkeiten steckte, bei ihm einen großen Kredit aufgenommen habe. Er soll sich im Gegenzug bereit erklärt haben, sein Testament so abzuändern, dass das Reservat und alles, was dazugehört, im Falle einer Nichtrückzahlung des Darlehens bis zum 12. Dezember dieses Jahres – also heute – automatisch überschrieben würde an … Reuben James.»
«Oh, mein Gott», sagte Tendai und ließ sich in einen Stuhl fallen.
Martine stand wie versteinert da. Die Worte hatten zwischen ihrem Hirn und ihrem Herzen eine Lunte gelegt. Das Reservat und alles, was dazugehört … Das Reservat und alles, was dazugehört.
Ben sagte: «Bedeutet das nun, dass das ursprüngliche Testament, das Sie beim Tod von Mr. Thomas zur rechtmäßigen Besitzerin von Sawubona machte, null und nichtig ist?»
Gwyn Thomas nickte. «Ja, denn dieses Testament ist mindestens zehn Jahre älter als das Testament, das mir Mr. James heute unter die Nase hielt. Aber es kommt noch schlimmer …»
Martine schnappte nach Luft. «Noch schlimmer?»
«Ja leider. Es liegt ein Räumungsbefehl vor, der besagt, dass wir eine Frist von dreizehn Tagen haben, um Sawubona zu verlassen, dem Personal zu kündigen und uns von den Tieren zu verabschieden. In dreizehn Tagen gehört uns Sawubona nicht mehr.»