Читать книгу Das Tal der Elefanten - Lauren St John - Страница 6
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ОглавлениеMartine dachte nicht oft an den Brand, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren – dieses Thema hatte sie zur Sperrzone in ihrem Kopf erklärt. Wenn sie es dennoch tat, schob sich stets eine ganz bestimmte Szene in den Vordergrund. Es war nicht der Moment, in dem sie in der rauchgeschwängerten Horrornacht zu ihrem elften Geburtstag aufgewacht war und realisiert hatte, dass ihr Elternhaus in Flammen stand und ihre Mutter und ihr Vater auf der anderen Seite einer brennenden Tür waren. Und es war auch nicht jener Moment, in dem sich ihr Zimmer in einen Glutofen verwandelt hatte, der Pyjama auf ihrem Rücken dahinschmolz, sie aus ihren Bettlaken einen Strick knüpfen und sich zwei Stockwerke hinunterhangeln musste, bevor sie schließlich in den kalten Schnee stürzte.
Nein, es ging um etwas, das erst nachher geschehen war: Als sie, nach Atem ringend, um die Hausecke stolperte, erblickte sie auf dem Rasen vor dem Haus eine ganze Menschenmenge. Und sie hörte die Schreckensrufe der Nachbarn, die sie längst als Brandopfer in den Flammen gewähnt hatten und sie jetzt plötzlich – nach ihren Eltern rufend – auf die schwelende Ruine zustürzen sahen. Ein Nachbar, Mr. Morrison, hatte es mit knapper Not geschafft, sie zurückzuhalten, und seine Frau hatte sie in die Arme genommen, wo sie schluchzend mit ihrem Schicksal haderte.
Martine erinnerte sich ganz genau, wie es ihr auf einen Schlag klar geworden war, dass sie ihre Eltern, mit denen sie noch vor wenigen Stunden ihren Geburtstag gefeiert und Pfannkuchen mit Schokoladen- und Mandelfüllung gegessen hatte, nie wieder sehen würde.
Das war der Augenblick, in dem ihr Leben offiziell zu Ende war. Der Augenblick, in dem sie alles, was ihr lieb gewesen war, verloren hatte.
Und nun geschah es wieder.
Am nächsten Morgen um 9 Uhr fuhren die Bulldozer in Sawubona auf. Wie eine Karawane gelber Raupen kamen sie dahergekrochen, bereit, alles aufzufressen, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie blieben unmittelbar vor dem Tierasyl stehen und jagten mit ihren rasselnden Ketten und dröhnenden Motoren den kranken, verwaisten Tieren tausendmal mehr Angst und Schrecken ein als die Limousine von Reuben James am Tag zuvor.
Gwyn Thomas trat ihnen vor dem Haus mit einem grimmigen Gesichtsausdruck entgegen. Martine war erstaunt, dass die Fahrer nicht gleich kehrtmachten und das Weite suchten. Ihre Großmutter baute sich, die Arme in die Hüfte gestützt, vor dem ersten Bulldozer auf – wie ein Demonstrant vor einem Panzer.
«Was soll das? Sie dringen in mein Grundstück ein und erschrecken die ohnehin schon traumatisierten Tiere zu Tode», rief sie.
Der Vorarbeiter kletterte von seiner Maschine herab und sagte grinsend: «Wir führen nur Befehle aus, Madam.»
«Und diese Befehle führen Sie direkt ins Gefängnis, wenn Sie nicht sofort verschwinden. Wenn Sie mein Grundstück nicht in drei Minuten verlassen haben, rufe ich die Polizei!»
«Ich werde Sie bestimmt nicht daran hindern», sagte der Mann, während er ein Papier aus seinem Overall zog und auseinanderfaltete. «Das hier ist eine gerichtliche Verfügung, die uns die Erlaubnis gibt, die Arbeiten auf diesem Grundstück unverzüglich aufzunehmen. Wir wissen, dass Sie das Reservat erst in zwei Wochen verlassen werden, aber in der Zwischenzeit müssen wir mit den Vorarbeiten für den Safari-Park beginnen.»
«Von mir aus können Sie mit den Vorarbeiten für Schloss Windsor beginnen», fauchte Gwyn Thomas zurück. «Sie werden hier kein einziges Sandkorn bewegen …» Plötzlich hielt sie inne. «Entschuldigung. Habe ich richtig gehört? Womit wollen Sie beginnen?»
Der Mann überreichte ihr das Dokument. Gwyn Thomas setzte ihre Brille auf. Martine, die die Szene aus sicherer Entfernung beobachtete, sah wie sich die Schultern ihrer Großmutter verspannten.
Ihre Stimme wurde gefährlich ruhig. «The White Giraffe Safari Park», sagte sie. «Das also wollen sie hier bauen?»
Das Grinsen verschwand aus dem Gesicht des Mannes. «Ich denke schon. So jedenfalls steht es hier geschrieben.»
«Dann hören Sie mal gut zu», sagte Gwyn Thomas. «Sie können sich die ganzen Probleme sparen. Hier wird kein Safari-Park entstehen. Nicht mit einer weißen Giraffe. Auch nicht mit einem rosa Elefanten, einem schwarzen Nashorn oder was Ihnen sonst noch Abwegiges in den Sinn kommen mag. Nur über meine Leiche wird Mr. James Sawubona erben.»
«Nun beruhigen Sie sich mal, Madam», entgegnete ihr der Chef der Bulldozerfahrer. «Sie vergreifen sich im Ton. Wir tun hier nur unsere Arbeit.»
Gwyn Thomas gab ihm das Dokument mit gespielter Höflichkeit zurück. «Natürlich tun Sie nur Ihre Arbeit. Wie konnte ich das nur vergessen. Sie befolgen nur Befehle. In dem Fall wird es Sie ja wohl auch kaum stören, dass der Wildhüter meinen Befehl befolgt, dieses Tor offen zu lassen, damit die Löwen zwischen den Bulldozern herumspazieren können, während ich mich auf den Weg nach Storm Crossing zu meinem Anwalt mache. Hoffentlich haben die Tiere schon gefrühstückt. Sie lieben es nämlich, auf ihrem Morgenspaziergang einen frischen Happen Fleisch zu verspeisen …»
Martine hörte schon längst nicht mehr zu. Das Gefühl der Ohnmacht, das sie erfüllte, seit sie von Sawubonas bevorstehendem Schicksal erfahren hatte, war einer zügellosen Wut gewichen. Reuben James hatte Jemmy als Paradepferd für seinen grandiosen Plan auserkoren, das Wildreservat zu einem berühmten Zoo zu machen. Nicht genug, dass man ihr Jemmy, ihren Freund und Seelenverwandten, wegnehmen wollte. Nein, er sollte auch noch zum gefeierten Star der Reuben James Show werden.
Während sie auf den Fersen von Gwyn Thomas zum Haus zurückging, wiederholte sie still für sich: «Nur über meine Leiche, Mr. James.»