Читать книгу Blackwood - Lena Knodt - Страница 10

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Kapitel 4

Lively bearbeitete ihre Unterlippe mit den Schneidezähnen und musterte Jack, der vollkommen in das Buch in seinen Händen vertieft war. Er ignorierte sie, hob einen Finger an den Mund und befeuchtete die Kuppe mit der Spitze seiner Zunge. Dann verharrte er einen Moment, seine Augen flogen über die Buchstaben, bevor er umblätterte. Den Bruchteil einer Sekunde schweifte sein Blick nach oben und streifte sie, bevor er sich wieder den Zeilen vor ihm zuwandte. Seine Augenbraue hob sich.

Lively beugte sich vor, stützte die Unterarme auf ihre Oberschenkel und musterte ihren Bruder weiter. Ihr Herz pochte zu schnell und ihr war so furchtbar heiß, dass sie am liebsten das Feuer im Kamin gelöscht hätte. Es prasselte unaufhörlich vor sich her und warf Schatten in dem kleinen Raum. Es war bereits dunkel draußen, nur schwach schien der Mond durch das einzige Fenster hinein.

»Lively«, sagte er nach einer Weile ruhig, ohne aufzusehen. »Ist alles in Ordnung?«

Ruckartig lehnte sie sich in dem ramponierten Sessel zurück, verschränkte ihre Hände im Schoß, umschloss die eine mit der anderen. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf und schweiften immer wieder zu der schwarzen Mappe. Der schwarzen Mappe, über die dringend Redebedarf bestand. Doch sie hatte ein Versprechen gegeben.

Mit einem genervten Stöhnen erhob sie sich und streunerte durch den Raum. Nicht nur, dass sie die Papiere in dieser verdammten Mappe gelesen hatte und daraufhin den ganzen Nachmittag durch die Stadt gestreift war, sie war auch der einzigen Person über den Weg gelaufen, die sie nicht hatte treffen wollen: Randly. Diesem verdammten Bastard, mit dem sie geschlafen hatte, um bei der Armee arbeiten zu dürfen. Der ihr die Sterne vom Himmel versprochen hatte, nur damit er ihren Körper unter seinen Händen spüren konnte.

Es war nicht so, dass sie es nicht genossen hatte. Randly war ein Soldat durch und durch. Aber sie hasste es, wenn man sie belog. Wenn sie sich wie ein naives, leichtgläubiges Mädchen fühlen musste, nur weil sie einmal Vertrauen in einen Menschen gesetzt hatte. Aber die Armee stand Frauen nicht offen, da konnte sie so viele Soldaten verführen, wie sie wollte. Sie fragte sich, wie sie nur für einen anderen Moment etwas anderes hatte denken können. Frauen gehörten in den Haushalt, arbeiteten als Dienstbotinnen oder stellten Kleidung her. Lively hasste diesen Umstand. Das war nicht das Leben, das sie sich für sich selbst wünschte. Sie wollte raus, wollte Abenteuer erleben. Aber es war, als band die Gesellschaft ihr tonnenschwere Gewichte an die Knöchel, nur weil sie eine Frau war.

Sie trat an den Kamin und umfasste die Dose mit dem Tabak mit einer Hand. Gott, sie musste fort aus dieser Stadt. Hier war sie niemand, nur die kratzbürstige junge Frau, die ihrem Bruder auf der Tasche lag. Hier war sie ein Nichts und versank von Tag zu Tag tiefer in der Bedeutungslosigkeit.

»Geht es dir gut?«, erklang die Stimme ihres Bruders hinter ihr. Natürlich wusste er, dass dem nicht so war. Dass sie genauso litt, wie er es vorausgesagt hatte.

»Bestens«, presste sie hervor und drehte sich um. Sie zwang ihre Mundwinkel hoch zu einem Lächeln. »Ist dein Buch spannend?«

»Durchschnittlich«, antwortete er und sein Blick glitt forschend über ihr Gesicht. Seine Augen blitzten. Machte er sich über sie lustig? Der Morgen war eine Folter gewesen, als er auf der Arbeit gewesen war, doch seine Anwesenheit machte alles noch schlimmer. Er hatte so recht gehabt. Ihr Blick strich über seine Züge, seine Nase und die dichten Augenbrauen, die seinem Gesicht eine markante Note verliehen. Er erwiderte ihren Blick geduldig.

»Zwei Stunden von hier«, stieß sie hervor und hasste sich im selben Moment dafür.

»Was?«, fragte Jack und eine seiner Brauen wanderte höher. Seine Unterlippe zuckte.

»Sie kommen aus einem Dorf, kaum zwei Stunden entfernt von hier«, flüsterte Lively, als würde die fehlende Lautstärke ihren Worten die Bedeutung nehmen.

Einige Sekunden lang starrte Jack sie an, dann schlug er sein Buch geräuschvoll zu. Er presste die Lippen aufeinander. »Wieso überrascht mich das nicht?«

»Du wusstest davon?«, fragte sie, wandte sich ihm vollständig zu.

Jack schnaubte. »Als ob. Es überrascht mich nicht, dass du es ausgeplaudert hast. Das passt zu dir.«

Kurz wallte Wut in Lively auf, die sie jedoch schnell wieder unterdrückte. Wenn dieses Gespräch in einen Streit ausartete, würde er ihr nie zuhören, geschweige denn die Mappe anschauen. »Du musst es wissen«, sagte sie nur. »Glaub mir. Wenn du wüsstest, was ich weiß, würdest du mir zustimmen.« Sie überwand den Abstand zwischen ihnen und umgriff die Handgelenke ihres Bruders. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, gab sich jedoch nicht genug Mühe. Einige Sekunden hielt sie ihn fest, bis er die Gegenwehr einstellte, dann schaute sie hinauf in sein Gesicht. Hinter seinen hellgrauen Augen tobte ein Sturm, den sie selbst ausgelöst hatte. Sie war sich sicher, dass es hinter ihren genauso aussah. Diesen Sturm teilten sie sich - und das nicht nur in den letzten Tagen.

»Jack«, wiederholte sie und dämpfte ihre Stimme. »Hör mir zu. Ich brauche dich. Ich muss es dir erzählen.« Damit hatte sie ihn. Jack musterte sie und seine Züge wurden weich. Kurz hasste sie sich dafür, seine Gefühle so gegen ihn auszuspielen, doch ihre Worte waren nicht gelogen.

Sanft löste er seine Gelenke aus ihrem Griff und strich ihr abwesend über den Handrücken. Dann ließ er sich mit einem Stöhnen in seinen Sessel sinken. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn. »In Ordnung. Sag es mir.«

Lively lächelte halb und setzte sich ihm gegenüber. »Sie wohnten in einem kleinen Dorf namens Westingate.«

»Wohnten?«, wiederholte Jack. Er verzog keine Miene, doch seine Stimme klang tonlos.

»Sie sind tot.« Lively nickte. »Sie waren es bereits, als wir im Kinderheim abgegeben wurden.« Die Worte lösten in diesem Moment dasselbe in ihr aus, wie in dem Moment als sie sie gelesen hatte: Gar nichts.

Jack nickte. Langsam lehnte er den Kopf auf die eine Seite. Doch auch er wirkte nicht sonderlich schockiert. Lively glaubte zu wissen, was er dachte. Vielleicht ist es besser so. Das wäre es auch, wenn die Geschichte an diesem Punkt zu Ende wäre. »Es steht nicht viel in der Akte. Wir wurden im Alter von fünf Monaten bei der Kirche abgegeben. Man legte uns nicht einfach auf der Schwelle ab, sondern eine Frau brachte uns her, sie war jedoch nicht mit uns verwandt. Niemand suchte uns danach noch auf. Niemand fragte nach uns.«

»Weiter?« Jack beugte sich vor. Seine Miene zeugte von Skepsis, doch es schien, als überwog nun die Neugierde. Mit der Spitze der Zunge befeuchtete er seine Lippen.

Lively hob zögerlich die Schultern. »In der Akte steht der Name unseres Vaters.«

Er schloss die Augen und stieß langsam die Luft aus. »Sein Name?«, flüsterte er. Dann öffnete er die Augen und sah sie flehentlich an.

Livelys Mundwinkel zuckten. »Es ist nur sein Name. Nur ein Name, den ich selbst noch nie gehört habe. Wenn wir dieser Sache nicht nachgehen, bedeutet er nichts.«

»Er bedeutet alles«, entgegnete Jack.

Kurz biss sie sich auf die Lippe, doch ließ sie gleich darauf wieder los. »Blackwood.«

Jack schluckte und schüttelte den Kopf. Der Blick in seinen Augen war trüb.

»Aber es scheint, als haben wir noch Verwandte, nicht weit von hier. In Westingate, dem Dorf, in dem wir geboren wurden. Vielleicht können sie uns unsere Fragen beantworten und uns sagen, woran unsere Eltern starben ...«

»Liv, ich weiß nicht ob das eine gute Idee ist.«

»Stell dir vor, Jacky! Wir haben vielleicht Geschwister oder Großeltern! Vielleicht auch ein Zuhause!«

»Liv!«, unterbrach sie Jack energischer. Bedauern stand in seiner Miene und er überlegte lange, bevor er die Worte wählte. »Wir wurden in ein Kinderheim gegeben. Das wird einen Grund gehabt haben und bedeutet sicher nicht, dass da irgendwo unbekannte Verwandte auf uns warten und uns herzlich willkommen heißen werden.«

»Wir sollten hinfahren. Du musst mit mir kommen, Jack. Ich werde morgen früh fahren und ich will nicht allein gehen müssen.«

Mit offenem Mund starrte Jack sie an. »Ich ... ich weiß nicht, Liv.« Er klappte das Buch zu und wollte es ins Regal stellen, doch seine Finger zitterten so, dass es ihm aus der Hand glitt und zu Boden fiel.

Sie konnte sich nicht erinnern, ihren Bruder jemals so verwirrt gesehen zu haben. Normalerweise war er ruhig und wusste für alles eine Lösung. Schnell schloss sie den Mund und schluckte die Worte herunter, die sie noch hatte sagen wollen.

»Verdammt«, murmelte Jack und stand ruckartig von seinem Stuhl auf. Er durchquerte den Raum und riss seine Jacke vom Haken. Mit einer Hand auf der Klinke drehte er sich wieder um. Er hatte nicht mal seinen Zylinder mitgenommen. »Sie haben uns weggegeben, Lively. Sie ... sie wollten uns nicht mehr. Das musst du akzeptieren.« Unsicher warf er einen Blick auf sie und verließ die Wohnung.

Stumpf sah Lively ihm hinterher. Sie war wütend, weil er einfach abhaute, aber lange sauer konnte sie ihm nicht sein. Er würde draußen seine Runden ziehen, bis es dunkel wurde und dann zurückkehren. Manchmal brauchte er das – vor allem ein Mensch wie er, dessen Kopf zu jedem Zeitpunkt mit Sorgen, Ängsten und Überlegungen bis zum Bersten gefüllt war. Trotzdem hoffte sie, dass er sie begleiten würde.


Der Zug fuhr um fünf Uhr in der Früh. Es war einer dieser Tage, an denen die Kälte unter die Klamotten kroch und sich bis auf die Knochen durchbiss. Auch Livelys dicker Wintermantel, der sie im letzten Jahr die Hälfte von Jacks monatlichem Gehalt gekostet hatte, schützte sie nicht davor. Sie ließ den Blick den trostlosen Bahnsteig hinauf und hinab wandern. Außer ihr waren zwei Männer hier, die sie flüchtig kannte und die sich nur auf den Weg in das nächste Dorf machten. Auf sie wartete jedoch eine Zugfahrt von zwei Stunden. Sie warf einen Blick über die Schulter, doch die Straße hinter ihr war leer. Ein Teil von ihr hoffte noch immer, dass es Jack sich anders überlegen und sie begleiten würde. Doch nach ihrem Gespräch am letzten Abend war er lange nicht zurückgekehrt. Und auch danach hatte er kein Wort mit ihr gesprochen. Wie so oft.

Sie hatte das Gefühl, dass ihr Bruder lieber gar nicht kommunizierte, als zu streiten. Am Morgen war er wieder verschwunden gewesen. Sie hatte ihm einen Zettel auf dem Tisch zurückgelassen und sich dann an seiner Geldbörse bedient. Jack musste jeden Gedanken noch tausend Mal hin und her wälzen, aber sie für ihren Teil konnte nicht mehr warten. Etwas in ihr wühlte sie auf, zerrte sie nach Westingate. Ein gieriges Brennen, das nur mit Informationen gestillt werden konnte.

Mit einem Schnauben drehte sie sich um und blickte sehnsüchtig das Gleis entlang in die Richtung, aus der der Zug kommen würde. Bisher war sie noch nie mit der Eisenbahn gefahren und ihr Herz pochte in kindlicher Vorfreude.

Früher hatte sie manchmal die Züge beobachtet. Der Bahnhof lag unweit des Kinderheims und laute, Dampf ausstoßende Kolosse wirkten auf Kinder ungemein faszinierend. Wenn sie sich umdrehte, konnte sie das St. Alberts hinter den Spitzen der Bäume sehen.

Die Akte in dem Koffer in ihrer Hand wog plötzlich das Doppelte. Das Geräusch der nahenden Eisenbahn drang an ihr Ohr und sie schloss kurz die Augen. Sie presste die Lippen aufeinander. Sie war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Oft hatte sie davon geträumt, sich jedoch immer erhofft, dass es unter besseren Umständen geschehen würde. Es fühlte sich wie ein Aufbruch an, ein Umsturz von allem, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte.

Auch wenn Lively ansonsten eher pragmatisch veranlagt war, konnte sie der Faszination einer herannahenden Eisenbahn nicht widerstehen. Das Rattern der Reifen, der dicke Qualm, der aus dem Stahlrohr der Lock strömte. Das Quietschen von Metall auf Metall. Sie kannte sich mit der Mechanik nicht aus, die es benötigte, um solch einen Riesen aus Eisen zu bewegen und Menschen damit zu transportieren, doch sie fand den Gedanken daran hochgradig faszinierend. Es war berauschend, darüber nachzudenken, was die Menschheit sonst noch alles erreichen konnte. Mit kreischenden Rädern hielt die Eisenbahn vor ihr, rutschte einige Meter weiter. Lively widerstand dem Drang, die Hände auf ihre Ohren zu pressen. Als die Eisenbahn vor ihr hielt, warf sie einen letzten Blick über die Schulter. Gerade, als sie sich wieder umdrehen wollte, sah sie am Ende der Straße eine kleine Gestalt mit einer Tasche in der Hand, die stetig näherkam.

Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie war sich sicher gewesen, dass er kam, und er enttäuschte sie nicht. Lively wusste, dass sie Jacks Schwäche war. Bei weitem nicht seine einzige, mit Sicherheit aber seine größte.

Schnell wandte sie sich dem Schaffner zu, der sich den Aufstieg zum Abteil herunterschwang und dann neben ihr auf dem Boden zum Stehen kam. Es war ein junger Mann mit flachsblonden Haaren. Nachdem die beiden Männer vor ihr eingestiegen waren, musterte er sie betont langsam.

»Wo will die hübsche Dame denn hin?« Ein schmieriges Lächeln verzerrte seine Lippen.

Lively ignorierte den Kommentar und schenkte dem Mann einen Augenaufschlag, der nicht von Herzen kam, seinen Zweck aber erfüllte. »Könnten Sie noch einen Moment warten?« Sie nickte in Jacks Richtung, der schnellen Schrittes näherkam.

Das Lächeln des Schaffners verblasste. »Wir haben einen Zeitplan einzuhalten«, sagte er knapp und drehte sich um.

»Warten Sie.« Livelys Hand zuckte vor und schloss sich um den fadenscheinigen Ärmel des Mannes. Sie hörte Jacks Schritte hinter sich. Hatte er sich keinen früheren Zeitpunkt für seinen dramatischen Auftritt wählen können?

Der Schaffner schenkte ihr einen wütenden Blick, doch Lively setzte ihrerseits den Fuß auf die unterste Stufe und schob sich betont langsam hinein. Schnell ließ sie den Ärmel wieder los und versuchte, den Mann mit einem weiteren Lächeln zu besänftigen, doch der beachtete sie nicht weiter.

Sie hörte Jacks keuchenden Atem hinter sich und die gestammelte Entschuldigung, die er dem Schaffner zuwarf, als er hinter ihr den Wagen betrat. Lively lächelte in sich hinein, betrat dann das nächste Abteil und ließ sich auf einer der hölzernen Bänke nieder.

Jack verstaute seine Tasche in dem Fach über ihren Köpfen und ließ sich dann ihr gegenüber sinken. Sein Gesicht war gerötet und sein Atem ging stoßweise. Trotz der merkwürdigen Situation musste er lächeln. »Das war knapp.«

Lively presste die Lippen aufeinander und hob die Mundwinkel. »Das nächste Mal solltest du mich nicht so lange warten lassen.« Sie musterte ihn, seine zerwuschelten dunklen Haare. Sie sahen sich kaum ähnlich dafür, dass sie Zwillinge waren. Nur die Augenfarbe, das dunkle Braungrün, war gleich.

Jacks Miene wurde ernst. »Es tut mir leid. Deine Worte gestern, dieser Name ... irgendwie hat mich das überwältigt. Als wäre ich nicht mehr Herr über meine Gefühle gewesen.« Er ergriff ihre Hand. »Hast du wirklich gedacht, ich komme nicht?«

»Ich hätte es verstehen können, wenn du Angst gehabt hättest.«

Jack sah aus dem Fenster. Der Zug rollte an und nach und nach wurden die tristen Häuser ihrer Heimatstadt durch eine nicht weniger triste Landschaft abgelöst. »Habe ich auch. Aber das ist unwichtig.«

Dann schaute er ihr in die Augen und Lively las die wahre Bedeutung der Worte aus seinem Blick. Sie wusste, wie Jack zu ihr stand. Dass er trotz ihrer Differenzen das Gefühl hatte, jede Sekunde mit ihr auskosten zu müssen. Weil sie das Einzige war, was er hatte. Weil er dauerhaft mit der Angst lebte, dass sie irgendwann fort sein könnte. Lively wusste nicht, woher diese Angst kam, denn sie selbst verspürte sie nicht. Sie liebte ihren Bruder, aber der Drang nach Neuem war größer als das Gefühl, ihn an sich binden zu müssen.

Jack drückte ihre Hand. »Diesen Weg gehen wir gemeinsam.« Kurz schloss er die Augen, schwieg und stieß dann Luft durch seine Nase wieder aus. Er lächelte halb.

Lively erwiderte sein Lächeln und strich mit ihrem Daumen über seinen Handrücken. »Danke.« Selbst wenn er ihr zuliebe mitkam, konnte er nicht leugnen, dass er selbst interessiert war - auch wenn er es niemals zugegeben hätte.

Jack hatte immer darunter gelitten, nicht zu wissen, wieso ihre Eltern sie fortgegeben hatten. Jetzt hatte er die Gelegenheit, diese Ungewissheit aus seinem Leben zu streichen.

Trotzdem glaubte sie, dass dieser Ausflug für sie selbst viel mehr bedeutete. Denn Jack hatte eine Arbeit, er bezahlte ihre Wohnung – er war ein Mann. Aber sie hatte nichts, so lange sie nicht heiratete. Ein kleiner Teil von ihr klammerte sich an die Hoffnung, dass sich das ändern würde, wenn sie herausfand, wo sie herkam. Wenn sie wusste, wer ihre Eltern waren – vielleicht wusste sie dann endlich, wer sie selbst war.

Ihr Bruder lehnte sich zurück, nahm endlich den lächerlichen Zylinder ab und platzierte ihn vor sich auf dem Tisch.

»Also willst du jetzt die restliche Akte sehen?«, fragte Lively.

»Ich würde es lieber aus deinem Mund hören.«

Lively schmunzelte und hob die Hand wieder auf den Tisch, die bereits zu ihrer Tasche gewandert war. »Sehr viele Informationen gibt es leider nicht. Der Name unserer Mutter fehlt, aber der unseres Vaters ist vermerkt.«

»Blackwood«, flüsterte Jack.

»Ezra. Ezra Blackwood.«

»Ezra?« Jack runzelte die Stirn. »So einen Namen habe ich noch nie gehört.«

»Er ist hebräisch.« Nun zog Lively doch die Mappe hervor und legte sie flach vor sich auf den Tisch. »Ich habe mich ein bisschen umgehört.«

»Also war unser Vater Jude?«

Sie schüttelte den Kopf. »In der Akte steht, dass wir Christen sind. Vielleicht waren unsere Großeltern nur experimentierfreudig, was die Namen ihrer Kinder anging.«

»Ihrer Kinder?« Jack lehnte sich vor. »Das heißt, dass unser Vater Geschwister hatte?«

Lively musste ein Lächeln unterdrücken. Es machte ihr Spaß, sich von Jack jede Information einzeln entlocken zu lassen. Das war die Rache dafür, dass er anfangs gar nicht hatte wissen wollen, was in der Akte stand.

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Hier sind zwei weitere Namen vermerkt.« Sie schlug die Mappe auf und blätterte, bis sie die entsprechende Stelle fand. Schnell fuhr sie mit dem Finger die Zeile hinab und verharrte unter den entsprechenden Worten.

»Einmal Milla Herrins, die Frau, die uns ins Kinderheim gebracht hat.« Sie hob den Blick. »Schwester Josepha meinte, dass es eine Haushälterin oder ein Zimmermädchen gewesen sein musste. Als du weg warst, habe ich mich noch ein wenig mit ihr unterhalten.«

»Und der andere?«

»Edith Blackwood.« Lively schaute wieder hinab. »Und bei ihrem Namen ist die Adresse vermerkt, die wir zuerst aufsuchen werden.«

»Edith Blackwood«, murmelte Jack. »Wer mag sie wohl sein? Unsere Tante? Oder eine entferntere Verwandte?«

Lively lächelte beim Anblick ihres Bruders. Sie wusste, dass sie ihn spätestens jetzt am Haken hatte. Jack liebte die Abenteuer, die er in seinen Romanen erlebte, aber am meisten liebte er Kriminalgeschichten. Und was war besser, als eine Kriminalgeschichte, die das echte Leben schrieb?

»Was steht da noch?«, fragte Jack, als Lively die Akte zuschlug. »Komm schon. Das kann doch nicht alles gewesen sein.«

»Leider doch, Herr Kommissar.« Sie ließ die Mappe wieder in ihrer Tasche verschwinden. Sie lehnte ihren Kopf an die Scheibe der Eisenbahn und schaute hinaus in die Landschaft. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Geräusche des Zugs, das gleichmäßige Ruckeln unter ihnen und das hohe Quietschendes aufeinandertreffenden Eisens.

»Das meinst du nicht ernst«, entgegnete Jack und verschränkte die Arme. »Gib mir die Akte.«

»Glaub mir ruhig.« Sie legte eine Hand auf ihre Tasche.

Glücklicherweise kam gerade in diesem Moment der blonde Schaffner, der sie mit missbilligendem Blick musterte. »Wohin geht die Reise?«

»Westingate«, antwortete Lively und griff schnell nach der kleinen Geldbörse, in der sie die geklauten Münzen von Jack aufbewahrte. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung ihres Bruders bezahlte sie ihre beiden Karten und sah dann dem Schaffner hinterher, der sich aus ihrem Abteil entfernte.

»Ich wusste nicht, wo ich sonst Geld herbekommen sollte«, sagte sie und schenkte ihn ein Lächeln, das ihn versöhnlich stimmen sollte.

Doch trotz seiner in Falten gelegten Stirn sah sie an seinen zuckenden Mundwinkeln sogleich, dass er ihr nicht böse war.

»Es sind etwa zwei Stunden bis nach Westingate«, sagte Lively, froh, das Thema auf etwas anderes lenken zu können. Geld war ihre Schwachstelle.

Jack nickte. Dann schaute er aus dem Fenster. »Ich habe ewig in keinem Zug mehr gesessen. Das letzte Mal als ...«

»Ich weiß, Jacky«, unterbrach sie ihn.

Ihr Bruder lächelte. Die Haare hingen ihm durcheinander ins Gesicht, plattgedrückt von dieser Kopfbedeckung, die er dauerhaft trug, obwohl Lively ihm schon hunderte Male gesagt hatte, dass er dafür viel zu jung war. Ein seliger Ausdruck lag auf seinen Zügen. Lively betrachtete ihn und Wärme breitete sich in ihrer Brust aus.

Eins wusste sie: Auch wenn er es immer war, der sie beschützen wollte, so war es in Wirklichkeit andersherum. Denn er war es, der beschützt werden musste.

Blackwood

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