Читать книгу In diesen Tagen - Lena Simon - Страница 8
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ОглавлениеAlfons Ritter hatte Christina vorgeschlagen, nach der Versammlung zu seinem Lieblings-Italiener zu gehen. Da sei die Küche sehr zu empfehlen und die Atmosphäre am Abend angenehm ruhig. Jetzt sitzen beide mit einem Glas Rotwein vor sich, mit Blick auf den, auch zu später Stunde noch belebten, Kurfürstendamm und warten auf ihr Essen.
Ritter hat sich ein Spaghettigericht mit Meeresfrüchten bestellt und Christina mit einem Lächeln und leichten Schulterzucken erklärt, dass er an diesem Tag noch keine Zeit gehabt hatte für eine warme Mahlzeit.
„Ich lade Sie natürlich heute Abend ein. Worauf hätten Sie denn Appetit?“
Sie habe schon zu Abend gegessen antwortet sie, aber wenn er so frage, einen kleinen Salat könne sie wohl noch vertragen. Sie könne doch eine kleine Portion bestellen, versucht er sie zu überreden. Und Christina kann dann doch nicht widerstehen. Ob das auf Spesen ginge, fügt sie mit einem etwas flapsigen Grinsen hinzu.
„Nein natürlich nicht. Wir wollen den Konzern besser nicht schädigen wo der doch schon im finanziellen Koma liegt.“
Ritters Sarkasmus ist nicht zu überhören. 'Auch er wird Angst haben um seinen Job', denkt Christina.
„Steht es wirklich so schlimm? Oder ist das Ganze jetzt nur eine Masche, um die Belegschaft zu finanziellen Zugeständnissen zu bewegen?“ Christina spricht aus, was ihr den ganzen Abend immer wieder durch den Kopf gegangen ist.
„Nichts Genaues weiß man nicht. Aber wenn es hart auf hart kommt, kann es durchaus sein, dass wir uns auf Kürzungen einlassen müssen. Keine Kollegin und kein Kollege will seinen Arbeitsplatz verlieren.“
Für viele von den Frauen wäre es der kürzeste Weg in die Armut. Darin fühle sich aber keine wirklich wohl.
„Mit ihrem Gerede, dass die Leute lieber Hartz IV in Anspruch nehmen, statt zu arbeiten, liefern unsere Politiker doch nur den Stammtisch-Intellektuellen Stoff.“
Ritters Stimme klingt aufgebracht. Er wisse von einigen, vor allem von den älteren Frauen, deren Kinder schon aus dem Haus sind, dass sie froh sind, Arbeit zu haben und Kollegen.
„Die meisten von uns haben den Beruf doch auch gewählt, weil es uns Spaß macht, mit Menschen zu tun zu haben. Zu Hause sitzen und bestenfalls das Unkraut im Garten zu rupfen, der Gedanke ist schrecklich. Und auf einen neuen Job brauchen wir nicht zu hoffen. Vielleicht die ganz jungen noch. Sie wissen ja selbst, Arbeitsplätze sind rar.“
„Ja klar. Vorhin habe ich noch mit einer Frau gesprochen, die dringend auf ihren Hinzuverdienst angewiesen ist. Die erzählte, dass sie gebaut hätten und die Raten nicht bezahlen könnten wenn sie nicht mit verdiene.“
Man müsse sich nur vorstellen, wenn in einer solchen Familie auch der Partner noch ausfalle. Das eigene Häuschen war ja auch als Alterssicherung gedacht, bei Arbeitslosengeld II könnten sie das vergessen, ergänzt Ritter.
„Dann war alle Mühe, aller Verzicht in den Jahren vorher umsonst und man kann nur noch auf die Altersarmut warten.“
Christina hat mehr und mehr den Eindruck, dass der Betriebsratsvorsitzende auch von seinen eigenen Sorgen spricht. Ihr geht durch den Kopf was sie bisher über Hartz-IV Familien gelesen hatte. Das Geld reicht kaum zum Leben, das weiß sie aus eigener Erfahrung. Ganz sicher reicht es nicht um Kindern den Sportverein oder die Musikschule zu bezahlen. Sie spricht aus was sie denkt:
„Familien mit Kindern geraten dann in genau den Sog, den der unsägliche Herr S. so gerne beschwört. Keine gute Ausbildung, kein Job, abhängen im sogenannten 'sozialen Netz'“.
„Genau so ist das und es ist nicht die Schuld der Arbeitnehmer, wie ihnen so oft eingeredet wird. Dafür gibt es Beispiele genug. Manchmal kann man schon eine heilige Wut kriegen.“
„Kann ich das jetzt auch alles so schreiben, Herr Ritter?“
„Na ja, den letzten Satz vielleicht besser nicht.“
„Gut“.
Das Essen wird serviert und Ritter schenkt von dem Rotwein nach.
„So, jetzt sollten wir uns um unsere Mahlzeit kümmern, die kochen hier nämlich sehr gut. Das lassen wir uns nicht vermiesen durch Gespräche über gruselige Zukunftsaussichten.“
„In Ordnung.“
Die Spaghetti duften köstlich nach Meer und frischem Basilikum und sehen höchst appetitlich aus. Beide lächeln sich an. Die Atmosphäre entspannt sich beim wohligen Genießen. Das Gespräch kommt auf die neuesten Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau. Christina Stratmann will sich unbedingt die Frida-Kahlo-Ausstellung ansehen, Alfons Ritter interessiert sich eher für die Kunst von Olafur Eliasson, die im selben Haus gezeigt wird.
„Vielleicht treffen wir uns ja beim Anstehen in der Warteschlange“, Alfons Ritter grinst Christina Stratmann an.
Sie lächelt zurück.
„Wer weiß“.
Es ist später als geplant, als Christina nach Hause kommt. Am nächsten Morgen muss sie früh raus, wenn sie ihren Artikel über das Kaufhaus rechtzeitig in die Redaktion mailen will. Sofort einschlafen kann sie trotzdem nicht. Einiges von dem was sie gehört hat, ist doch sehr bedrückend.
Im ganzen Land kommt es immer wieder zur Schließung von Betrieben, selbst solche, die für die Ewigkeit zu bestehen schienen, geraten wegen finanzieller Schwierigkeiten in die Schlagzeilen auch schon vor der großen Wirtschaftskrise. Aber was zurzeit passiert, ist geradezu unheimlich, ob diese Betriebe tatsächlich durch die Wirtschaftskrise, wie das Desaster überall beschönigend genannt wird, ins Schlingern geraten sind oder ob nicht doch die einen oder anderen Unternehmen Trittbrettfahrer sind, um so Löhne zu drücken und Arbeitsbedingungen auf ein Mindestmaß zurück zu schrauben und staatliche Zuschüsse zu ergaunern? Und so wie es aussieht, werden die Banken, die mit beinahe krimineller Energie die Probleme verursacht haben, nicht wirklich zur Rechenschaft gezogen. Es heißt sogar, dass für einige Banken Staatsbürgschaften übernommen werden sollen, damit Versicherungen und Renten nicht in Gefahr geraten. Dass Abfindungen und Einkommen der Bankenmanager, sozusagen zur Strafe gedeckelt werden sollen, wie gelegentlich verlautbart wird, daran glaubt Christina nicht.
Den Zorn und die Enttäuschung der Kaufhausangestellten kann sie nur zu gut verstehen. So manche Verkäuferin und so mancher Verkäufer strampeln sich seit Jahrzehnten für 'ihr Haus' ab. Das Einkommen war noch nie üppig und die Anerkennung durch die Geschäftsleitung ebenso wenig, nur wenn von ihnen Sonderarbeiten erwartet werden, bekommen sie Honig ums Maul geschmiert, wie sich einer der Teilnehmer an der Betriebsversammlung ausgedrückt hatte. Aber auf den beinahe familiären Zusammenhalt der Kolleginnen und Kollegen, die Feiern zu Geburtstagen und Jubiläen, die sie privat organisieren, wollen sie nicht verzichten. Früher, so wussten die Älteren unter ihnen zu berichten, gab es einen Ruheraum und eine Sportgruppe. Soviel Fürsorgebereitschaft für die Belegschaft, die immerhin dafür geradesteht, dass jeden Tag die Kasse stimmt, ist schon lange nicht mehr eingeplant. In Christinas Kopf drehen sich die Gedanken.
Als sie aufwacht, erinnert sie sich an wirre Träume. Sie ist mit Thomas unterwegs, warum und wohin weiß sie nicht mehr. Ist aber sicher, dass sie es im Traum wusste. Unverhofft stehen sie vor der Universität in Dortmund. Sie haben im Gebäude etwas zu erledigen und einen bestimmten Raum zu erreichen. Thomas ist jetzt nirgends mehr zu sehen. Statt dessen muss sie eine steile Treppe hinaufsteigen. Am oberen Ende steht Alfons Ritter. Sie beginnt die Treppe hinauf zu gehen, aber die scheint kein Ende zu nehmen. Immer wenn sie hinauf sieht, ist die Strecke, die sie noch gehen muss, ebenso lang wie vorher. Um sie herum das Gewusel vieler Studenten, die ohne Probleme die Treppe hinauf und hinunter steigen. Ritter ruft ihr lachend zu: „Sie schaffen das“. Als könnte er von so weit oben erkennen, dass sie befürchtet, die steile Treppe nicht erklimmen zu können. Unterwegs weiß sie auch gar nicht mehr, warum sie überhaupt über die Treppe gehen wollte. Sie könnte doch ebenso gut den Lift nehmen und als sie sich entschließt, genau dies zu tun, wird sie wach. Und während sie dem Traum hinterher sinnt, wird an ihrer Wohnungstür heftig geklingelt. Noch etwas benommen springt sie hoch und rennt auf nackten Sohlen zur Tür.
„Hallo?“, ruft sie in den Flur hinunter.
„Post.“
„Müssen sie immer Sturm läuten und immer bei mir?“
Wütend schlägt sie die Tür zu, ohne auf Antwort zu warten. Wehe, wenn jetzt für sie gar keine Post dabei ist. Als sie hört, dass hinter dem Postboten die Haustür wieder zufällt, schlüpft sie schnell in ihre Hausschuhe, wirft sich den Bademantel über und läuft zum Briefkasten. Die Werbung für ein neues Handy landet gleich in der bereitgestellten Wegwerf-Kiste. Eine Ansichtskarte von Freundin Sylvia aus Granada. Die hat's gut, denkt Christina, die macht eine Rundreise durch Andalusien. Da ist das bestimmt schon richtig Frühling. Ein Brief vom Jobcenter. „Na hoffentlich nur der Bewilligungsbescheid“, murmelt sie vor sich hin aus unerfreulicher Erfahrung nichts Gutes ahnend und legt ihn auf den Schreibtisch.