Читать книгу Und wer hilft ihr? - Lennart Frick - Страница 5

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Am nächsten Morgen, dem siebenten November, hatte sie den Anruf vergessen. Sie fuhr zu dem monatlichen Abstimmungsgespräch mit der Familiengruppe des Jugendamtes, wo sie noch einmal die unterschiedlichen Auffassungen ihrer Kollegen zu den Gutachten der Sachverständigen für Familienfragen vortrug. Gegen einige der Vorschläge des Jugendamtes war Einspruch erhoben worden, und sie deutete die Möglichkeit an, daß die Familienfürsorger des ganzen Landes einen eigenen Vorschlag einbringen würden. Nach der Sitzung machte man ihr Komplimente für ihr Auftreten im Fernsehen, doch sie wehrte die Lobesworte geschmeichelt ab.

»Die anderen waren gut«, erklärte sie.

»Mein Gott, wie ich dich um deine Ruhe beneide«, sagte eine der jüngeren Fürsorgerinnen, Lena Haraldsson hieß sie wohl. »Du wirkst durch und durch sicher und unerschütterlich, nichts scheint dich aus der Fassung zu bringen. Weißt du, daß du beneidenswert bist?«

»Nun laß mal«, antwortete sie und lächelte der gerade von der Universität gekommenen Kollegin freundlich zu, die auf der Sitzung immer wieder in heftigem Ton und mit nur zum Teil durchdachten Argumenten auf die Notwendigkeit einer Politisierung des gesamten Sozialwesens zu sprechen gekommen war. »Das meiste ist Erfahrung. Ist man so lange dabei wie ich, gibt es kaum noch Dinge, die einen in Erstaunen setzen können!«

Es war schon nach elf, als sie ins Büro in der Tegnérgatan 12 kam. Elisabet, eines der Mädchen in der Anmeldung, begegnete ihr im Wartezimmer und winkte ihr erfreut zu.

»Gut, daß du kommst, Kristina«, sagte sie, »das Telefon ist schon den ganzen Vormittag heißgelaufen. Da ist ein Mann, der dich seit zehn zu sprechen wünscht. Er hat schon mindestens dreimal angerufen. Er scheint ein bißchen merkwürdig zu sein und will nicht sagen, wer er ist. Er behauptet, du hättest ihm versprochen, es werde sich keiner darum kümmern.«

»Ach du liebe Zeit!« Sie erinnerte sich plötzlich an das Gespräch vom Vorabend. »Ich habe ihm gesagt, er könne mich gegen zehn anrufen. Ich hatte völlig vergessen, daß ich heute drüben beim Jugendamt zu tun haben würde. Er ruft doch wieder an?«

»Da kannst du beruhigt sein«, meinte Elisabet. »Als letztes sagte er noch: ›Sie soll nicht glauben, daß sie so leicht davonkommt.‹ Worum geht es denn eigentlich?«

»Um nichts Besonderes«, antwortete sie leichthin und hängte ihren Mantel in die Garderobe neben der Küche. »Es ist nur so ein anonymer Anrufer, einer, der sich einmal alles von der Seele reden will. Er ist weiß Gott nicht der erste.«

»Übrigens«, fügte Elisabet schon auf dem Weg zur Anmeldung hinzu, »vergiß nicht, am Nachmittag mit Barbro zu sprechen. Ich glaube, sie hat ein paar neue Fälle für dich.«

»Zum Teufel«, brummte Kristina, als sie an ihrer Bluse einen lose hängenden Knopf bemerkte, »alles bleibt liegen. Es ist doch wohl nichts Eiliges?« rief sie dem Mädchen noch nach. »In dieser Woche ist mein Kalender voll bis oben hin.«

»Ich glaube nicht«, antwortete Elisabet, »sie müssen wohl die übliche Zeit warten.«

Im selben Augenblick klingelte das Haupttelefon, und sie hörte Elisabets Stimme einen verbindlichen Ton annehmen, als sie sich meldete.

»Kristina, das ist er! Ich stelle durch.«

»Es tut mir leid«, erklärte sie, sobald sie den Hörer abgenommen hatte, »ich vergaß, daß ich heute zu einer Sitzung mußte.«

»Ich verstehe«, antwortete er ein wenig spitz, »das kann wohl schnell einmal vorkommen.«

»Sie wollten mit mir reden«, fuhr sie fort und griff aus alter Gewohnheit nach dem Notizblock. »Geht es um etwas Besonderes, Herr ... ja, wie war Ihr Name?«

»Sie haben doch versprochen, nicht danach zu fragen«, entgegnete er scharf. »Sie haben versprochen, mich anzuhören, ohne sich zu erkundigen, wer ich bin. Haben Sie das schon vergessen?«

»Nein, nein, ganz und gar nicht«, entschuldigte sie sich. »Ich dachte nur ... Vielleicht können wir einen Zeitpunkt vereinbaren, an dem Sie herkommen können.«

Mit der linken Hand blätterte sie im Terminkalender und suchte nach ein paar freien Stunden. Sie war so gut wie ausgebucht, hatte vierzehn aktuelle Fälle, und mit all den Sonderaufgaben war das mehr als genug.

Ich sollte lernen, endlich einmal nein zu sagen, dachte sie und fragte dann so freundlich wie möglich: »Was meinen Sie zu Montag, dem Zwanzigsten? Irgendwann am Nachmittag?«

»Unmöglich«, erwiderte er kurz. »Ich habe nicht die Absicht, ein Sozialbüro aufzusuchen. Ich bin kein Klient. Ich will Sie privat treffen.«

»Entschuldigen Sie«, wandte sie ein, »jetzt verstehe ich Sie wohl nicht richtig. Hier oben in meinem Büro sind wir völlig ungestört. Niemand braucht von Ihrem Besuch zu erfahren. Es wird nicht einmal Buch geführt.«

»Unsinn«, sagte er, »auf so etwas lasse ich mich nicht ein. Und da hatte ich geglaubt, Sie seien nicht so wie die anderen, Sie seien bereit, etwas zu opfern. Ich muß Sie an einem Ort treffen, wo uns niemand sehen und keiner mich kontrollieren kann.«

Sie hatte plötzlich den Wunsch, das Gespräch abzubrechen, zwang sich jedoch, dem Impuls nicht nachzugeben.

»Wenn Sie also nicht herkommen wollen, können wir uns aber doch wohl hier in der Stadt treffen?« schlug sie vor. »Wir könnten vielleicht zusammen Mittag essen. Wo arbeiten Sie übrigens?«

»Lassen Sie das Aushorchen. Sie haben doch versprochen, es nicht zu tun«, erwiderte er heftig. »Und in ein Restaurant kriegen Sie mich nicht. Was ich zu sagen habe, ist viel zu wichtig, als daß irgendein Kellner mich stören dürfte. Ich will Sie an einem Platz treffen, wo wir allein sind. Können wir nicht einen langen Spaziergang auf Djurgården machen?«

»Nein, das ist nicht der richtige Ort«, sagte sie, und Unmengen von Zeitungsrubriken, die von Überfällen und Frauenmorden in abseits gelegenen Gebüschen berichteten, zuckten durch ihr Hirn.

Wie lächerlich du dich aufführst, dachte sie, du benimmst dich wie eine dumme Gans!

»Übrigens«, fuhr sie dann zögernd fort, »wenn Sie meinen, es sei besser, können Sie auch zu mir nach Hause kommen. An welchem Tag würde es Ihnen passen?«

»Danke«, sagte er, »das ist freundlich von Ihnen. Kann ich nicht schon heute abend kommen? Es ist dringend, wissen Sie, ich habe nicht mehr viel Zeit.«

Meine Güte, manche stellen vielleicht Ansprüche!, dachte sie und mußte sich beherrschen, um ihre Stimme nicht abweisend klingen zu lassen.

»Das ist ein bißchen schwierig, aber ... Jaja, kommen Sie nur heute abend. Kommen Sie um sieben. Wissen Sie, wo ich wohne?«

»O ja!« antwortete er erleichtert. »Ich habe Sie oft gesehen, wenn Sie Ihre Spaziergänge machten. Västerledstorget 7, das finde ich ohne weiteres. Es ist wirklich freundlich von Ihnen«, sagte er. »Doch es dauert also drei Stunden.«

»Ich habe es gehört«, antwortete sie. »Und drei Stunden sollen Sie haben, mehr aber nicht.«

»Du bist wirklich nicht normal!« sagte sie zu sich selbst und warf den Hörer auf die Gabel. »Worauf hast du dich da bloß eingelassen?«

Während der Mittagspause draußen in der alten Küche erzählte sie auch den anderen Kollegen von dem Gespräch; Elisabet hatte schon von den vielen Anrufen am Vormittag berichtet.

»Das ist einer, der nicht herzukommen wagt«, erklärte Kristina und bemühte sich, unbeschwert zu erscheinen. »Ich habe versucht, ihn in ein Restaurant zu locken, doch er hat Angst vor den Kellnerinnen. Aber zu mir nach Hause traut er sich. Er kommt heute abend um sieben!«

»Was sagst du da?« fragte Gunilla Granberg, eine der jüngeren Fürsorgerinnen, und stellte ihr Glas Quark hart auf den Tisch. »Soll das heißen, du willst ihn in deine Wohnung lassen? Man weiß doch nie, woran man bei so einem ist.«

»Ach was, so gefährlich wird es schon nicht sein«, entgegnete sie und fügte ein wenig lässig hinzu: »Und außerdem habe ich keine sonderlich große Angst vor Lustmördern.«

»Jaja, mach du nur deine Scherze!« Gunilla schien ein wenig ärgerlich. »Ich kenne jedenfalls eine, die dich heute abend um Viertel acht anrufen wird.«

»Vielen Dank«, sagte sie heiter, »doch es sollte mich wundern, wenn ich mich nicht melde.«

Da fiel ihr die Verabredung mit Lars-Göran ein.

Verdammt noch mal, dachte sie, jetzt muß ich ihm absagen! Wirklich nicht gut, daß es immer wieder ihn trifft.

Sie beeilte sich, die dicke Milch mit den Gesunde-Kost-Flakes aufzuessen, redete sich mit Arbeit heraus, die zu erledigen sei, und ging in ihr Zimmer zurück. Sie fühlte sich irgendwie irritiert, ihr war, als laufe etwas nicht so, wie es sollte, und sie zögerte einen Augenblick, ehe sie die Nummer des Rundfunks wählte. Sie glaubte zu hören, daß Lars-Görans Stimme enttäuscht, ja ein wenig gekränkt klang, obwohl er es hinter der gewohnten Munterkeit zu verbergen suchte.

»Ja, natürlich, ich verstehe«, antwortete er. »Es ist mir ja klar, daß bei dir etwas dazwischenkommen kann, aber hast du das nicht schon gestern abend gewußt?«

»Nein.« Sie entschloß sich, ihm die Wahrheit zu sagen und nicht nur, wie üblich, Überstunden vorzuschützen. »Ich hatte ganz vergessen, daß ich mit dir ausgehen wollte. Es ist wegen dieses Mannes, der gestern angerufen hat, ich habe ihm zugesagt, daß er heute abend zu mir nach Hause kommen und sich seine Sorgen von der Seele reden kann.«

»Bei dir zu Hause? Das kann doch nicht dein Ernst sein.« Lars-Görans Stimme klang aufrichtig verwundert. »Du willst doch jetzt nicht etwa anfangen, die Leute abends bei dir zu empfangen? Wer weiß, was das für ein Typ ist.«

»Mein Lieber«, sagte sie und bemühte sich, einen ruhigen, überzeugenden Ton anzuschlagen, »du glaubst doch wohl nicht, daß ich mich auf etwas Gefährliches einlassen würde. Übrigens«, sie versuchte, das Ganze wie einen Scherz klingen zu lassen, »wenn dich die Geschichte beunruhigt, kannst du mich ja zur Sicherheit anrufen.«

»Da kannst du dich drauf verlassen!«

»Vielleicht können wir uns morgen abend sehen? Paßt dir das?«

Er zögerte einen Augenblick, bevor er zustimmte, und sie schrieb mit roten Buchstaben »Cattelin, 18.00 Uhr« in ihren Kalender, um die Verabredung nicht noch einmal zu vergessen.

Ich darf ihn nicht vernachlässigen, dachte sie, darf ihn nicht unnötig kränken.

Dann versuchte sie, Clas zu erreichen. Sie schlug einen amtlichen Ton an, um den Wall von Sekretärinnen zu durchdringen, mußte sich jedoch mit dem Bescheid begnügen, Dozent Werner sei auf einer Sitzung.

»Würden Sie ihn bitten, sobald er Zeit hat, das Büro für Familienberatung anzurufen? Lundell ist mein Name.«

»Selbstverständlich, Frau Lundell. Ich richte es ihm sofort aus, wenn er zurückkommt.«

Auch Clas war besorgt, als sie ihm erzählte, sie habe den anonymen Anrufer zu sich nach Hause bestellt.

»Hast du dir das auch gut überlegt?« fragte er. »Du weißt doch überhaupt nicht, wer er ist.«

»Nein, das allerdings nicht«, entgegnete sie, »doch er kann kaum gefährlich sein. Und außerdem traue ich den Leuten nichts Schlechtes zu. Die meisten sind in Wirklichkeit bedauernswerte Geschöpfe.« Mit diesen Argumenten versuchte sie, die Unschlüssigkeit zu verdrängen, die allmählich in ihr aufkeimte. »Und vielleicht kann ich etwas für ihn tun.«

»Jaja, Kristina, es ist ja gut, daß du anderen helfen willst, doch alles muß seine Grenzen haben«, erwiderte er sanft und eindringlich. »Du kannst nicht jeden Klienten annehmen, der dir über den Weg läuft. Es ist unvernünftig von dir, dich kaputtzumachen, nur weil du Angst hast, einen Hilfsbedürftigen wegzuschicken.«

»So schlimm ist es ja wohl nicht«, widersprach sie rasch. »Ich habe inzwischen doch ziemlich viel Routine. Ich glaube, ich kann zuhören und helfen, ohne selbst mit hineingezogen zu werden. Wie sollte man deines Erachtens sonst mit einer solchen Arbeit fertig werden?«

»Jaja, schon gut«, sagte Clas ein wenig gezwungen. »Ich werde auf alle Fälle anrufen, um die Sache zu kontrollieren. Und ich wette nach wie vor, daß er Paranoiker ist!«

»Hast du heute abend auch Dienst?«

»Nein, ich bin zu Hause. Wir haben ein paar Freunde zum Essen eingeladen.«

»Aber kannst du denn dann anrufen? Wird deine Frau nicht mißtrauisch?«

»Nein, sie ist nicht so, das habe ich dir ja schon früher gesagt. Sie ist nicht eifersüchtig. Und übrigens glaube ich nicht, daß sie mir so etwas überhaupt zutraut. Außerdem kann ich mich selbstverständlich mal ein paar Minuten zurückziehen.«

Jetzt bin ich wirklich nach allen Seiten abgesichert, dachte sie. Gleich drei wollen anrufen und sich vergewissern, ob alles in Ordnung ist. Nun kann mir nichts mehr passieren.

»Übrigens«, sagte Clas mit veränderter Stimme, »ich wollte noch über eine andere Sache mit dir sprechen. Erinnerst du dich an die Studentin, die du vor ein paar Wochen zu uns geschickt hast?«

»Agneta Roslund?«

»Ja. Es ist schlimmer mit ihr geworden. Wir mußten sie in die Intensivabteilung verlegen. Heute nacht hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Weiß der Himmel, wo sie die Rasierklinge herhatte, mit der sie sich unter der Decke beide Pulsadern aufgeschnitten hat. Es war reiner Zufall, daß wir es bemerkt haben. Die Nachtschwester hörte sie stöhnen, warf einen Blick hinein und sah Blut auf dem Bettlaken. Das Mädchen ist übel dran, und keiner weiß, wie es ausgeht.«

»Verdammt«, sagte sie und konnte das Würgen in der Kehle nur mit Mühe unterdrücken, »das darf doch nicht wahr sein ... Das hätte ich nie von ihr erwartet.«

»Ich fand, du müßtest es erfahren. Du vermerkst so etwas ja wohl in deinen Journalen.«

»Du weißt ganz genau, daß es solche Journale bei uns nicht gibt. Wir haben nur Arbeitsnotizen, und auch die nicht immer. Doch es ist gut, daß du es mir erzählt hast. Seit sie das letztemal bei mir war, habe ich oft an sie gedacht.«

»Nun ja«, Clas versuchte, sich unbeschwert zu geben, »man wird sie schon durchbringen. Sie haben dort mit solchen Dingen ja einige Erfahrung.«

»Und was dann?« fragte sie nachdenklich. »Glaubst du, sie kann sich psychisch erholen?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht! Diesen extrem introvertierten Asthenikern steht man oft ziemlich machtlos gegenüber.«

»Vielleicht ist das alles meine Schuld«, überlegte sie laut, »vielleicht hätte ich sie bei dem Antrag nicht unterstützen sollen ...«

»Nun laß das aber«, widersprach ihr Clas, »was für ein Unsinn! Du hast getan, was du konntest.«

»Jaja, schon gut, reden wir nicht mehr davon.« Sie mußte sich zwingen, die Schmerzen in der Magengrube zu unterdrücken. »Und du vergißt doch wohl nicht, daß wir zur Konferenz nach Sigtuna fahren wollen?«

»Nein, nein, es ist bereits vorgemerkt. Ich kann beide Tage dortbleiben. Hast du deinen Vortrag fertig?«

»Nein, das ist ja das Schlimme«, antwortete sie und hörte selbst, wie kläglich ihre Stimme klang. »Ich habe noch nicht einmal angefangen. Was, zum Teufel, könntest du über die Wege zur Selbsterkenntnis sagen?«

»Ich gar nichts, du aber bestimmt einiges! Du weißt doch, daß du es kannst. Du bist doch gewissermaßen Experte auf diesem Gebiet.« In seiner Stimme klang ein Lachen mit, von dem sie nicht wußte, ob es ironisch oder freundlich gemeint war.

Und wer hilft ihr?

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