Читать книгу Und wer hilft ihr? - Lennart Frick - Страница 9

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Kurz nach elf klingelte das Telefon noch einmal, und als sie ins Schlafzimmer flüchtete, um zu antworten, schloß sie sorgfältig die Tür hinter sich. Vor Müdigkeit und Anspannung war ihr beinahe übel. Sie war in der letzten Stunde ständig bemüht gewesen, das Gespräch in die Hand zu bekommen, ihm seine Verfolgungsideen auszureden, ihm klarzumachen, daß seine perfekt gebaute Pyramide auf unbegründeten, im nachhinein konstruierten Erklärungen beruhte. Doch jeder Versuch, seinen Redefluß zu bändigen, war fehlgeschlagen, und seine Ungeduld hatte ihn immer heftiger und aggressiver werden lassen.

»Ich habe doch gesagt, daß Sie solche psychiatrischen Termini nicht benutzen dürfen«, hatte er ein ums andere Mal wiederholt, und sie hatte auf seiner Oberlippe einen leichten Schaumrand bemerkt. »Sie legen mich damit nur fest, Sie sehen mich nicht, wenn Sie diese Bezeichnungen anwenden, dann bin ich für Sie doch nur ein ganz gewöhnlicher Patient!«

Er war in der Wohnung hin- und hergelaufen, vom Wohnzimmerfenster hinaus auf den Korridor und wieder zurück, und hatte versucht, seine Worte zu unterstreichen, indem er mit der rechten Hand hart und energisch auf die linke Handfläche einschlug. Sie hatte ihm mehrere Male vergebens zugeredet, sich hinzusetzen, sich ein wenig zu beruhigen, doch er hatte sich heftig dagegen gewehrt, und bei dem Gedanken, er könne seine Aggressivität gegen sie richten, war ihr angst geworden.

Der Anruf gab ihr die lang ersehnte Möglichkeit, wenigstens für kurze Zeit nicht so angespannt aufmerksam sein zu müssen. Es war Clas.

»Bist du jetzt allein? Oder ist er immer noch da?«

Clas sprach sehr leise, und im Hintergrund hörte sie fröhliches Geplauder, Gelächter und Gläserklirren.

»Nein, er ist noch hier«, antwortete sie flüsternd. »Doch ich glaube, ich kann ihn jetzt bald wegschicken. Ich habe nicht mehr die Kraft, ihm noch länger zuzuhören. Man dringt einfach nicht zu ihm vor, es nützt nichts, wenn man etwas sagt, er hat sich völlig eingekapselt.« Lauter sagte sie dann: »Wunderbar! Selbstverständlich kannst du hier übernachten. In einer halben Stunde sagst du? Gut! Ich werde aufpassen, damit ich dir die Haustür aufschließen kann.«

»Mir gefällt das nicht«, sagte Clas. »Bist du wirklich sicher, daß du mit ihm fertig wirst?«

»Das geht schon in Ordnung«, antwortete sie mit gespielter Begeisterung und fügte dann flüsternd hinzu: »Aber du kannst mir glauben, daß es anstrengend ist. Ich komme nicht an ihn heran, er sitzt mitten in einer perfekt gebauten Pyramide. Falls du Gelegenheit hast, rufe mich doch etwas später noch einmal an.«

»Ich weiß nicht, ob es gehen wird. Wir haben das Haus voller Gäste, und das Telefon steht im Korridor. Auf alle Fälle lasse ich morgen von mir hören. Sei bloß vorsichtig!«

Er sorgt sich um mich, dachte sie und fühlte sich von seiner Fürsorge erwärmt.

Als sie wieder in den Korridor hinaustrat, wäre sie beinahe mit dem Mann zusammengestoßen. Er mußte an der Tür gestanden und gelauscht haben, und diese Erkenntnis jagte ihr Angst ein.

Nun glaubt er vielleicht, auch ich konspiriere gegen ihn! dachte sie, und ihr fiel auf, daß der weiße Kragen seines Hemdes von den heftigen Schweißausbrüchen und weil er die Angewohnheit hatte, mit den Fingerspitzen den Druck des Kragens gegen den Kehlkopf zu lindern, allmählich schmutzig geworden war.

»Sie müssen mich entschuldigen«, sagte sie ein wenig gezwungen und stellte sich in die Küchentür. »Das war ein Bekannter von mir, besser gesagt, mein Freund. Er ist gerade mit dem Zug aus Malmö angekommen und wird heute hier übernachten. Deshalb müssen wir dieses Gespräch nun wohl beenden. Es sind ja bereits einige Stunden vergangen.«

»Ja, ich weiß, vier Stunden«, sagte er und ging ins Wohnzimmer zurück. »Aber daran sind allein Sie schuld. Sie wollen mich ja nicht verstehen, Sie widersprechen mir dauernd, Sie versuchen alles, um mich einzuwickeln. Wenn Sie mir nur glauben wollten, dann wäre alles viel einfacher.«

»Das ist es nicht«, entgegnete sie. »Ich verstehe sehr gut, daß Sie Ihre Situation so erleben, wie Sie sie schildern. Doch Sie legen sie falsch aus, Sie sehen zwischen den Ereignissen Zusammenhänge, die ganz unwahrscheinlich sind. Sie können sicher sein, daß Ihre Vorstellungen von einer Verschwörung gegen Sie absurd sind. Daß Ihre Nachbarn in solch phantastische Komplotte verwickelt sein sollen, ist wirklich nicht anzunehmen.«

»Und das müssen Sie sagen«, erwiderte er und ballte die Hände mit solcher Kraft, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Sie kennen sie doch gar nicht. Ich aber habe gesehen, wie sie sich aufführen, sie sind schon lange hinter mir her, und ich weiß, daß meine Schwägerin dahintersteckt, daß sie jetzt ...«

»Nein, nein, nein«, unterbrach sie ihn, »genau das ist Ihr ständiger Fehlschluß. Ich bin völlig sicher, daß kein Psychiater ...«

»Psychiater«, rief er triumphierend. »Da haben wir es! Jetzt haben Sie sich verraten. Sie glauben, ich sei krank, ich leide an paranoiden Vorstellungen. O ja, ich kenne mich mit diesen Begriffen aus, sie stehen in allen Handbüchern. Aber die lügen, allesamt! Ich bin nicht krank. Versuchen Sie doch, das zu begreifen. Was ich erzählt habe, sind keine Hirngespinste. Ich weiß, was die vorhaben, ich merke doch, wie sie mich durch Telefonterror und Gift zugrunde richten wollen. Meine Probleme sind nicht psychischer Natur, es sind solide Probleme. Versuchen Sie doch endlich, das zu begreifen!«

Er stand über den niedrigen Sofatisch gebeugt, sein Blick flackerte nicht mehr umher, sondern saugte sich an ihrem Gesicht fest, und sie sah die panische Angst in seinen Augen. Seine Stirn war schweißnaß. Das schüttere Haar war verklebt, und immer wieder wischte er sich mit einer hastigen Bewegung den Schaum aus den Mundwinkeln und feuchtete zugleich mit der Zungenspitze die Lippen an. Im Laufe des Abends war seine Stimme immer schwächer und heiserer geworden, und das leicht Übertriebene und Überkultivierte seiner Ausdrucksweise war völlig verschwunden. Sie sah die Angst in seinem Blick und begriff plötzlich – und diese Erkenntnis traf sie wie ein harter Schlag in die Weichteile –, daß nichts an seinem Verhalten gespielt war.

Für ihn existiert all das tatsächlich, und es ändert überhaupt nichts, daß ich seine Vorstellungen als krankhaft ansehe.

»Bitte, bitte«, sagte er, und seine Stimme wurde flehend, »versuchen Sie doch zu begreifen, daß ich zugrunde gehe, wenn Sie mir nicht helfen! Ich ertrage es nicht mehr, allein zu Hause zu sitzen und zu grübeln, ich brauche Hilfe, und zwar jetzt. Wenn ich alles noch einmal von Anfang an erzählen dürfte, werden Sie mich bestimmt verstehen. Lassen Sie mich noch zweimal kommen, nur noch zweimal. Vielleicht konnte ich Sie nur deshalb nicht überzeugen, weil ich mich heute abend ungeschickt ausgedrückt habe. Wenn Sie mir nur einmal wirklich zuhören wollten, könnten Sie der Sache ganz schnell Einhalt gebieten. Sie können das, ich weiß, daß Sie es können.«

»Verzeihen Sie«, sagte sie und strich sich kraftlos über die Stirn. Sie war wie benommen und wußte, daß sie die Geschichte nun schnell zu Ende bringen mußte. »Verzeihen Sie, aber es ist jetzt gleich halb zwölf. Ich kann nicht mehr. Und Sie wissen ja, daß ich Besuch erwarte.«

»Nur noch zwei lumpige Abende, können Sie die nicht für mich opfern?« fragte er, als hätte er ihren Einwurf nicht gehört. »Ich weiß, Sie haben viel zu tun, Sie brauchen keinen Abend allein zu sein. Aber bedenken Sie doch, ich habe niemanden, ich kann mich nur an Sie wenden. Und vergessen Sie nicht, ich vertraue Ihnen wirklich. Ich weiß, Sie könnten mich bei Ihren Verbindungen zu den Ärzten mit Leichtigkeit ausfindig machen und einsperren lassen. Doch ich glaube nicht, daß Sie irgendeinem Menschen übelwollen, so sind Sie nicht, das weiß ich vom Radio her. Und deshalb muß ich bis zu Ende reden dürfen, verstehen Sie das nicht?«

Sie nahm seinen Mantel vom Haken und hielt ihn ihm hin wie eine Garderobenfrau, die schon seit langem aller Gäste überdrüssig ist.

»Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme fest und überzeugend klingen zu lassen. »Es tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber ich glaube nicht, daß ich etwas für Sie tun kann. Sie weigern sich ja, mich überhaupt anzuhören.«

»Nur noch einen einzigen Abend, eine einzige Stunde«, flehte er, und in seiner Stimme war deutlich panische Angst zu hören.

»Ich weiß nicht«, sagte sie müde. »Im Augenblick weiß ich überhaupt nichts mehr. Und außerdem sehe ich auch wirklich nicht so recht ein, wozu ein weiteres Treffen gut sein soll. Aber rufen Sie mich in ein paar Tagen im Büro an, dann gebe ich Ihnen endgültig Bescheid.«

Das war eine Notlüge, mit der sie ihn loswerden wollte. Sie hörte es selbst und spürte, daß auch er es begriff. Während er Mantel und Galoschen anzog, blickte er sie unaufhörlich an, und es tat ihr weh, die Angst in seinem Blick zu sehen. Dann reichte er ihr die rechte Hand, und sie schauderte, als sie den kalten Schweiß auf seiner Handfläche und die rissige Haut der Finger fühlte. Er verbeugte sich ein wenig steif und sagte mit einer Feierlichkeit, die beinahe tragikomisch wirkte:

»Ich gehe jetzt, und niemand soll mehr von mir belästigt werden.«

Sie fühlte sich bemüßigt, das von ihr Gesagte ein wenig zurückzunehmen und das Gespräch nicht so scharf ausklingen zu lassen.

»Sagen Sie doch nicht so etwas«, erwiderte sie und versuchte, freundlich und aufmunternd zu lächeln. »Denken Sie über das nach, was ich Ihnen gesagt habe, und melden Sie sich dann wieder. Wir werden damit schon fertig werden.«

Er war bereits auf dem Weg nach draußen, drehte sich jedoch im Treppenhaus noch einmal um, sah sie ein Weilchen an und sagte dann mit unverkennbarer Ironie: »Wir? Wieso wir?«

Dann ging er. Sie schloß die Tür, hörte seine schleppenden Schritte sich die Treppe hinunter entfernen, dann schlug die Haustür zu, und plötzlich war es um sie herum völlig still. Sie ging in die Küche, wartete auf seine Schritte unten auf dem Kiesweg und löschte das Licht, um ihn davongehen zu sehen. Doch es waren keine Schritte zu hören, und soviel sie auch in das Dunkel hinausspähte – sie konnte ihn nicht entdecken.

Vielleicht steht er unten an der Tür und wartet, überlegte sie. Vielleicht soll ich nicht sehen, in welche Richtung er geht. Ihr fiel die Notlüge mit dem Freund ein, und Angst packte sie. Es kommt ja keiner, dachte sie. Dann weiß er, daß ich gelogen habe, und denkt vielleicht, ich gehöre auch dazu. Und dann wird er vielleicht ...

»Schluß damit, beruhige dich jetzt, Kristina«, sagte sie halblaut vor sich hin, »du darfst dich jetzt nicht genauso verrückt benehmen wie er. Du darfst dich nicht anstecken lassen. Es reicht, wenn einer übergeschnappt ist.«

Als sie ins Badezimmer ging, spürte sie, daß ihr die Beine zitterten wie nach einem schnellen Dauerlauf.

Und wer hilft ihr?

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