Читать книгу Und wer hilft ihr? - Lennart Frick - Страница 8

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Sein Bericht war gut gegliedert und durchdacht, logisch und klar, sorgfältig ausgearbeitet und gründlich gegen alle nur denkbaren Einwände abgesichert; er war nicht das Werk einer Stunde. Doch sehr bald wußte sie auch, woran sie war, seine Erzählung glich einem Lehrbeispiel aus einer populärwissenschaftlichen Schrift über Psychiatrie.

Das ist gar zu eindeutig, dachte sie immer wieder und fühlte die Unruhe unter der Haut kribbeln, das klingt wie eine Parodie.

Wäre nicht der Schrecken gewesen, der in seinen Augen brannte, hätte sie seinen Bericht sehr leicht als schlechten Scherz abtun können, als plumpen Versuch, einen Sozialfürsorger an der Nase herumzuführen.

»Jetzt sehe ich das Ganze klar vor mir«, fuhr er fort, und Schweiß perlte am Haaransatz hervor, »jetzt passen die Stücke zusammen, jetzt sehe ich, was mein Leben eigentlich gewesen ist, und jetzt weiß ich, was geschehen wird. Sie allein können etwas dagegen tun.«

Ausgehend von einem scheinbar unbedeutenden Vorfall – vor sieben Jahren hatte ihm seine Schwägerin vorgeschlagen, wegen seiner Magenbeschwerden einen bestimmten Arzt aufzusuchen, der ihm wiederum geraten hatte, sich an einen Psychiater zu wenden –, ausgehend von dieser Tatsache, errichtete er mit manischer Exaktheit eine geschlossene Pyramide, konstruierte er ein gigantisches Komplott, in das sich all seine Erlebnisse einfügen ließen. Zuerst legte er in chronologischer Reihenfolge dar, was ihm nach dem ersten Arztbesuch zugestoßen war. Das Ganze war ein mit vielen Details angereicherter Bericht über einen stillen, bescheidenen Beamten in einer anonymen staatlichen Behörde, der sich allmählich kaltgestellt fühlt, der glaubt, immer mehr zur Seite gedrängt und behindert zu werden, der immer unsicherer wird, der freiwillig auf jeden Versuch verzichtet, mit anderen zu konkurrieren, und mehr und mehr die leichten, weniger anspruchsvollen Aufgaben vorzieht, der aus Angst vor dem Mißlingen schließlich keinerlei Initiative mehr zu ergreifen wagt und letztlich aus eigenem Entschluß kündigt. Der sich dann neue Arbeitsstellen sucht, für eine Zeit aus Stockholm flieht, nach Malmö und Göteborg geht, doch überall von den Widrigkeiten verfolgt wird, die er schließlich nicht mehr verkraften kann. Er gibt auf, zieht sich von allen und allem zurück, isoliert sich in völliger Einsamkeit.

In dieser ersten Darstellung, die ihre Verwunderung hervorrief, weil er einerseits mit exakten Daten und Zeitangaben operierte und Arbeitsvorgänge präzise beschrieb, andererseits sorgfältig vermied, auch nur einen einzigen Namen zu nennen – er schien seine Anonymität auf jede Weise schützen, ihr jede Möglichkeit zur Nachforschung verbauen zu wollen –, in dieser Darstellung tauchten dann und wann auch Bilder aus weiter zurückliegenden Jahren auf. Da gab es frühzeitig das Gefühl, den Ansprüchen nicht zu genügen, von den Eltern nicht geliebt zu werden, ständig im Schatten des jüngeren, hübscheren, begabteren und erfolgreicheren Bruders zu stehen, da gab es die Erinnerung an die ersten Jugendjahre, in denen er mit neidischer Bewunderung die Erfolge seines Bruders in der Schule und bei den Mädchen beobachtete, an Demütigungen durch seine Mitschüler und an gemeine Schikanen beim Militär. Da erklärte er, nicht wirklich imstande zu sein, feste soziale Kontakte herzustellen, da erfuhr man von halbherzigen, vor lauter Ungeschick mißglückten erotischen Initiativen, da gab es die unfruchtbaren platonischen Liebesgeschichten, die nie zu einem Ergebnis führten, da war überall und immer wieder die deutliche Fixierung auf den Bruder, den Erfolgreichen, dem nichts unmöglich war.

Das ist die reinste Parodie, dachte sie zuweilen. Es ist zuviel von allem, die Geschichte ist gar zu deutlich!

Nach zwei Stunden war er mit dem chronologischen Bericht fertig, seine Stimme war immer lauter, seine Bewegungen immer eckiger und nervöser geworden, und als er dann sofort dazu überging, die Darstellung zu wiederholen, diesmal aber, um die Fakten zu deuten, um zu zeigen, was sich hinter dem Geschehen tatsächlich verbarg, konnte er nicht mehr stillsitzen. Er wanderte im Zimmer auf und ab, und sie folgte ihm mit den Blicken, fasziniert von seiner Ausstrahlung und erschreckt von seiner Heftigkeit. Immer mehr verwischte der krankhafte Zug an ihm die anfangs vorhandene versierte Eleganz und Gewandtheit seiner Ausdrucksweise. Er flößte ihr Angst ein, zugleich aber empfand sie auch starke Zärtlichkeit für ihn, und sie wußte nicht, wie sie die Geschichte zu Ende bringen sollte.

Als er voller Verbissenheit und Entrüstung vor ihr ausbreitete, welche Rolle die Schwägerin bei all seinen Mißerfolgen gespielt hatte – daß sie gegen ihn intrigiert und Gerüchte über ihn auf seinen Arbeitsstellen verbreitet, daß sie ihren Mann verleitet hatte, bei dem Komplott mitzumachen, daß es ihr auch gelungen war, die Nachbarn, die Behörden, die Polizei, die Geschäftsleute und die Kinder für diese gigantische Verschwörung zu gewinnen –, da entglitt er ihr jedoch völlig. Es war nicht möglich, mit Fragen oder Einwänden zu ihm vorzudringen, er schob jeden Einwand beiseite, duldete keinen Widerspruch, nichts mehr durfte seine Konstruktion erschüttern.

Fünf Jahre lang habe er eingesperrt in einer dürftig möblierten Wohnung gelebt und über seine Mißerfolge nachgegrübelt, nun habe er die Gründe herausgefunden, nun wisse er, was geschehen werde. Nachts höre er das Knacken in den Wänden, er wisse genau, was das Gerenne auf den Treppen bedeute, er habe weiß Gott die heuchlerische Freundlichkeit der Schwägerin durchschaut, die ihn immer wieder aufsuche und ihm empfehle, einen Arzt zu konsultieren, er wisse auch, warum sie die Dosen und Fläschchen mit Tropfen und Tabletten zu ihm hineinschmuggele, sie wolle ihn aus dem Gleichgewicht bringen, ihn aus dem Wege räumen, sie möge ihn nicht, habe ihn noch nie gemocht. Und die Nachbarn! Sie solle nur mal sehen, wie die sich aufführten, dann würde sie verstehen, was sie vorhaben!

Er ist krank, sehr krank, dachte sie, er ist ein Opfer seiner Wahnvorstellungen, er kann nichts dafür, er ist einfach von ihnen besessen.

Aber ich, überlegte sie weiter, ich muß versuchen, etwas zu tun, mir vertraut er ja, er ist doch von selbst zu mir gekommen. Sie stand auf, und es gelang ihr, seinen Redefluß einen Augenblick zu unterbrechen und einen Einwand vorzubringen.

Und wer hilft ihr?

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