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Kapitel 8

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Die Guillemot stampfte voran, kämpfte sich durch eine See, die zunehmend schwieriger zu befahren war. Die Wellen wurden länger. Noch vor wenigen Stunden hatten sich ihre Kämme weiß schäumend gebrochen, aber nachdem der Wind gedreht hatte, schlugen sie jetzt als schwere Dünung achtern gegen Backbord. Das Log, das die Geschwindigkeit des Schiffes anzeigte, zitterte jedes Mal, wenn das Schiff von einer Welle hochgehoben wurde. Die Guillemot neigte sich vornüber, wurde vorwärts geschoben, während sie in ein Wellental rutschte. Mal zeigte das Log zehn Knoten an, elf, zwölf, dreizehn, schwankte, zeigte für kurze Zeit sogar vierzehn Knoten an und sank dann wieder zurück.

Der Wind hatte gedreht, wie bereits am Abend zuvor in der Wetterfaxmeldung angekündigt worden war. Die Kaltfront war am frühen Morgen mit stoßartigen Böen und kurzen heftigen Schauern über sie hinweggezogen, und der Wind hatte seine Richtung um exakt die dreißig Grad gedreht, wie es die Veränderung der Isobaren auf dem Fax prophezeit hatte. Diana hätte also nicht überrascht sein dürfen.

Dennoch konnte sie es sich nur schwer vorstellen, was geschehen würde, falls der Wind wirklich neue Wellen bildete. In der Theorie war das alles ganz einleuchtend. Die vom Wind erzeugten Wellen vermischen sich mit den Dünungswellen und versuchen, die seitlich heranrollende See zu neutralisieren. Aber genauso häufig überlagern die neuen Wellen die alten und addieren ihre Höhe, Kraft und Energie. So bauen sich lokale Wellenberge aus Wasser und Schaum auf, die seitlich zur Dünung verlaufen, aber vollkommen unberechenbar sind und mal verschwinden und genauso plötzlich aus dem Nichts wieder auftauchen. Vielleicht folgten die Wassermassen doch geheimen Gesetzen, die niemand durchschaute. Der Besatzung fiel es schwer, den Ereignissen zu folgen. Die Bullaugen tauchten unter Wasser, und der Horizont hob und senkte sich, als würde er die Menschen an Bord vor dem Anblick verschonen wollen, der sie in wenigen Sekunden erwartete.

Serve Earth hatte die norwegische Küste bei den Lofoten verlassen, die Guillemot befand sich jetzt auf nördlichem Kurs. Ein kurzer Besuch auf Røst gab eine letzte Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten, die Tanks aufzufüllen, gefrorenen Fisch zu bunkern und in aller Ruhe die Pflaster gegen Seekrankheit hinter die Ohren zu kleben. Diana hatte die Insel zuvor schon einmal besucht, um eine Kampagne gegen anthropogene Artenverbreitung im Allgemeinen und die Königskrabbe im Besonderen zu lancieren. Sie erinnerte sich gut an die Bilder der bepanzerten Armee aus Scheren und Beinen, die über den Meeresboden pflügte und eine wahre Wüste hinterließ. Und sie erinnerte sich an ihren Enthusiasmus von damals, obwohl die Kampagne mit Ausbruch von Tandons Krankheit eingestellt worden war.

Røst lag eine Dreitagesreise hinter ihnen, fünfzig Seemeilen östlich von ihnen lag die Bäreninsel und zweitausendsiebenhundert Meter unter ihnen der Meeresboden. Ansonsten gab es keine weiteren Landmarken oder Anhaltspunkte, ehe sie die Inseln von Spitzbergen erreichen würden. Es hätte schlimmer kommen können, redete sich Diana gut zu. In der Nähe der Bäreninsel erhebt sich der Kontinentalsockel, die Wellen dort waren noch um ein Vielfaches höher. Sie waren schon so weit nach Norden vorgestoßen, dass das Zentrum des wandernden Tiefdruckgebietes hinter ihnen vorbeizog und sie vom Dauerregen verschont blieben. Sie hätten auch ein schlechteres Boot haben können, ein kleineres und anfälligeres oder eine Guillemot in dem erbärmlichen Zustand wie noch wenige Wochen zuvor.

Aber es war schwer, an diese Vorteile zu denken, wenn man die Tür des Salons öffnete und an Deck kletterte. Denn sogar in dem windgeschützten Sitzbrunnen, der für komfortable und gemütliche Stunden gebaut worden war, musste man Schutzbrillen tragen. Die Wellen brachen an Backbord, die Guillemot wurde von der Dünung hochgehoben und erst in letzter Sekunde wieder losgelassen. Kurz darauf verschworen sich die Wellen und trugen ihre schaumgekrönten Kämme heran, leicht und luftig zuerst, um dann achtern an Backbord zu brechen und wie Blei auf Deck zu schlagen. Die Luftblasen zerbarsten unter dem Druck, wurden zu Wasser, zu kaltem Wasser, das in Strömen über das Teakdeck floss, als Fontäne hochschoss, wenn es gegen die Winsch oder einen der Beschläge am Backstag schlug, das weitergepeitscht wurde wie ein vom Wind getragener Wasserfall, der einmal quer über das Deck der Guillemot fegte und sich steuerbord in den Sitzbrunnen ergoss.

Dort saß eine einsame Gestalt mit blauen Lippen, ein dunkelgraues Telefon in der Hand, das sie unter ihrer Regenkappe versteckte. Diana McManus. Es nahm keiner ab. Die Signale wurden gesendet, die Nummer stimmte, aber es nahm niemand ab. Dianas Zähne schlugen rhythmisch aufeinander. Die Rufzeichen surrten im Hörer. Keine Antwort. Die Uhrzeit war die vereinbarte, aber er nahm den Hörer nicht ab. Sie beschloss zu warten.

Trotz des Lärms der aufgepeitschten See und der strapazierten Takelage hörte sie jemanden an Deck kommen. Diana schielte unter ihrer Kapuze hervor und sah durch den Vorhang aus Wasser, wie Peter auf sie zukam. Sie entdeckte auch die Sorgenfalte in dem schmalen Spalt zwischen Skibrille und Kapuze. Er inspizierte sie mit kritischem Blick, und erst als er sah, dass sie ihre Rettungsweste trug und ordnungsgemäß gesichert war, entspannten sich seine Gesichtszüge. Sie hatte ihn beobachtet, wie er einige Male seinen Platz am Steuer verlassen hatte, eine kleine Runde im Salon drehte, sich dabei am Sicherheitsseil entlanghangelte und dann wieder ganz vorne backbord im Aufbau des Schiffes vor seinen Bildschirmen und Instrumenten Platz nahm. Jedes Mal hatte er Diana, die draußen saß, mit einem Blick angesehen, der sein Unverständnis ausdrückte, wie sich überhaupt jemand freiwillig an Deck aufhalten konnte.

»O ja, ein schöner Platz, um zu philosophieren!«

»Stimmt«, versuchte Diana zu antworten, aber ihre verfrorenen Lippen konnten nur einen zischenden Sch-Laut formen. Obwohl sie das Telefon schon längst aus der Kapuze zurück in die Jackentasche hatte gleiten lassen, fühlte sie sich ertappt.

»Der Wind flaut ab, merkst du das?«, fragte Peter. »Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht die ganze Zeit da oben sitzen und den Joystick festhalten muss. Sie fährt toll mit dem Autopiloten, ich kann nichts, was sie nicht selbst auch tun kann. Der Verkehr ist auch überschaubar. Um nicht zu sagen, gar nicht vorhanden.«

Diana nickte steif.

»Sieh dich nur um, ist das nicht herrlich!« Peter breitete die Arme aus. Ein Schwarm von Alkenvögeln, deren kleine kurze Stummelflügel im Gegenwind zitterten, zog steuerbord an ihnen vorbei und kämpfte sich dicht über dem Meer gen Süden. Ein paar Sturmvögel umkreisten sie, tanzten über den Wellenkämmen, die Flügelspitzen nur eine Schnabellänge entfernt von der Oberfläche. Diana nickte zustimmend, ohne wirklich etwas zu registrieren.

»In ein paar Tagen werden wir bestimmt den ersten Papageientauchern begegnen. Die bleiben lieber in der Nähe der Küste und können nicht so weit aufs offene Meer fliegen.« Er holte tief Luft. »Das nenne ich Leben!«

Dann erwähnte er seine frühere Arbeit als Mittelmeerskipper auf einer Charteryacht: In seinem vorherigen Job hatte er die Verantwortung über ein etwas größeres Boot gehabt, natürlich eher sachlich ausgestattet für Charterzwecke, ohne die aufwendigen Details der Guillemot. »Das Boot verfügte über vier Kabinen für acht Passagiere, von denen praktisch nie jemand nüchtern war. Immer dieselbe Route von Cannes nach Saint-Tropez, dann umkehren, runter nach Monaco. Dort gab es die Möglichkeit, in einer Nachtfahrt nach Korsika zu segeln, sie wurde immer wieder vorgeschlagen und immer abgelehnt, stattdessen lieber Wasserskifahren in Villefranche, der Bucht hinter den Kreuzfahrtschiffen, oder sinnlose Kreise auf dem Jetski drehen oder noch mehr Alkohol in irgendeinem Nachtclub in Torkelnähe.« Die S/Y Guillemot dagegen sei eine andere Welt. Serve Earth sei eine ganz andere Welt. Sein Beruf habe dadurch einen neuen Sinn bekommen. Er sei sehr froh und dankbar dafür, aber dieses Bekenntnis drang nur zögerlich in Dianas Bewusstsein.

Vielleicht war sie einfach zu ungeübt, Lob anzunehmen. Deshalb suchte sie sofort nach versteckten Andeutungen, wo gar keine waren. Aber vielleicht war ihr auch nur die Geschichte mit dem Telefon unangenehm gewesen, sie konnte nicht so schnell umschalten.

Da Diana ihn nicht unterbrach, ging Peter dazu über, die technischen Raffinessen der Guillemot zu preisen. Diese exquisiten Tischlerarbeiten, die versiegelten Aufbauten aus Kohlenstofffasern, die Isolierung, die das Dröhnen der Generatoren zu einem Fliegensummen reduzierte, alles lobte er in den höchsten Tönen.

»Du hast ihren schlechten Zustand nicht gesehen, bevor sie in die Werft kam«, sagte Diana und wischte das Wasser aus ihrer Schutzbrille.

»Das stimmt. Das mit der Reparatur lief ja problemlos ab.«

»War auch gut vorbereitet.« Diana versuchte, den sarkastischen Unterton zu unterdrücken.

Es hätte gutgetan, offen darüber zu sprechen. Erzählen zu dürfen, wie Peters Vorgänger ihr einen dicken braunen Umschlag mit Dokumenten überreicht, seinen Dienst quittiert und gepackt hatte. Darüber, dass sie sich keine großen Gedanken über die Besetzung seiner Stelle gemacht hatte, bevor sie den Begleitbrief durchgelesen und die Konsequenzen erfasst hatte.

Der Aluminiumrumpf der Guillemot war von elektrochemischer Korrosion befallen worden, einer Art Rost, der das Metall bei Kontakt mit Wasser auflöste. Zuerst hatte sie gar nicht richtig begriffen, was das bedeutete, trotz der beigefügten Bilder. Eine der Gewinneryachten des America’s Cup war davon ebenfalls befallen worden und so stark korrodiert, dass sie nach einem Jahr verschrottet werden musste. Weitere Beispiele tauchten in der Umgebung auf, nachdem sie begonnen hatte, sich umzuhören. Zwar schien die Korrosionsgefahr mit der Zunahme elektronischer Ausrüstung an Bord zu wachsen, weil es viel mehr Stromquellen gab, die fehlgeleitet und die Auflösung des Aluminiums vorantreiben konnten. Aber das Problem blieb dennoch schwer greifbar und rätselhaft. Es sah aus wie die Antwort der Boote auf den oralen Amalgamkrieg, nur viel sichtbarer und auch unabwendbarer. Im Süßwasser der Themse stellte das kein Problem dar. Nur das Meer war plötzlich außer Reichweite geraten für die Guillemot und für Serve Earth, nur das Meer.

Die Kostenvoranschläge hatten auch in dem Umschlag gelegen, den sie ausgehändigt bekommen hatte.

Sie hatte sich sofort dafür entschieden, den Gehältern der Besatzung Priorität einzuräumen. Die Besatzung und die Teilzeitangestellten in der kleinen Kanzlei hatten äußerst bescheidene Bezüge, ganz zu schweigen von den Stundenkräften in der Filiale in Buenos Aires. Die Kapitaldecke würde das alles mindestens ein halbes Jahr tragen. Das war beschlossene Sache, und die Gehälter wurden gezahlt, wie zuvor auch.

Die Guillemot in einen brauchbaren Zustand zu versetzen, war jedoch etwas ganz anderes gewesen.

Für zweihundertneunzigtausend Pfund könne sie wieder im Salzwasser fahren, und für zusätzliche einhundertdreißigtausend Pfund würden alle sechzehn Punkte auf der Schadensliste behoben werden, hieß es.

»Das war wie gesagt alles gut vorbereitet, schon bevor ich Generalsekretärin wurde. Die Werft hatte die nötigen Ersatzteile angefertigt. Aber nach Tandons Tod war kein Geld mehr da.«

Warum gehe ich jetzt darauf ein, fragte sich Diana, um mich selbst zu quälen? Sie drehte das Gesicht in den Wind und bekam statt einer Antwort eine Prise Salzwasser ab. Peter stellte die Fragen, die Diana erwartet hatte.

»Es stellte sich heraus, dass Tandon fast alles aus eigener Tasche finanziert hatte. Die Stiftung hatte keine stabile Kapitaldecke und erbte keinen Cent. Und unsere Treuhänder hatten nichts anderes getan, als Tandons Namen für eigene Zwecke zu benutzen. Sie hatten keinen Finger krumm gemacht. Aber keine Sorge! Es hat ein bisschen Zeit und Kraft gekostet, aber jetzt sind wir auf dem grünen Zweig. Serve Earth ist ein starkes Markenzeichen, und es liegt an uns, es auszubauen.«

»Hattet ihr denn nie Angst, alles hinschmeißen zu müssen? Ein Boot wie die Guillemot zu chartern kostet ja praktisch einen Mercedes jede Woche. Das Geld rinnt einem ja nur so durch die Finger!«

»Nein, das war zu keinem Zeitpunkt eine Option«, log Diana. »Und jetzt haben wir Aufwind«, fügte sie mit jenem breiten Lächeln hinzu, das sie bei unzähligen misslungenen Versuchen aufgelegt hatte, vermögenden Männern mittleren Alters Geld aus der Tasche zu locken.

»Und wer liefert jetzt die Kohle? Wo kommt denn das viele Geld her?«, wunderte sich Peter und versuchte Diana unter ihrer überdimensionierten Kapuze in die Augen zu schauen.

»Kein Kommentar!«, erwiderte Diana und versuchte zu lachen. »Ach, du weißt doch. Es gibt immer Leute mit zu viel Geld. Die gerne und großzügig abgeben, aber immer um ihren Ruf besorgt sind. Auflage ist, dass sie nicht im Rampenlicht erscheinen und wenn, dann nur im richtigen Licht. Wenn wir erfolgreich sind.«

»Verstehe«, nickte Peter, der schon so viele lichtscheue Millionäre getroffen hatte, dass er Dianas Notlüge glaubte. »Du kannst mit mir rechnen, ich mische mich nicht in Geldangelegenheiten ein, und mich interessiert auch unser Reiseziel nicht weiter. Um die Kampagne kümmert ihr euch. Und was den Zweck unserer Reise angeht, bin ich auch nicht so skeptisch wie andere Besatzungsmitglieder. Ich sorge nur dafür, dass wir heil dort ankommen.«

Die Wachliste ermöglichte ein erstes gemeinsames Abendessen an Bord. Karen beobachtete Diana, die ein Glas Rotwein zur Feier des Tages erhob, ihre langen Wimpern waren dunkel getuscht. Karen hat sie beim Schminken erwischt und selbst auch eine extra Schicht dunklen Lidschatten aufgelegt.

»Zum Wohl, meine Freunde! Lasst uns auf eine erfolgreiche Kampagne anstoßen!«, sagte Diana feierlich.

Eines schönen Tages wird sogar Diana ein kleines bisschen Vertrauensvorschuss bekommen müssen, sagte sich Karen. Immerhin hatte sie es geschafft, das Geld für die Bootsreparatur zu beschaffen, es musste ein Vermögen gewesen sein. Diana war wahrhaftig eine Zauberin von Rang.

»Zum Wohl!«, erklang es in unterschiedlichen Tonlagen und Akzenten.

Was diese Reise anging, war Diana so redebereit gewesen wie ein Silberfisch, fand Karen. Alles hing von diesem Trip ab, entweder würde es ein geglücktes Comeback werden oder ein totales Fiasko. Trotzdem hatte Diana darauf beharrt, sie alle über den Zweck der Reise im Ungewissen zu lassen. Der Tag für eine Anerkennung war noch nicht gekommen.

»Um was für eine Kampagne handelt es sich eigentlich? Gibt es noch andere außer mir, die nicht wissen, worum es hier geht? Ist es überhaupt eine Kampagne? Wie lautet dann die Zielsetzung? Aber vielleicht ist es gar keine Kampagne, sondern eine Vergnügungsreise, von der mir nur niemand erzählt hat«, meldete sich Karen zu Wort und versuchte Diana mit einem Blick aus ihren schwarzumrandeten Augen zu durchbohren.

»Das ist alles noch nicht so klar«, gab Diana zu und ließ ihren Blick über die versammelte Mannschaft gleiten. Wie eine unsichere Referendarin in der Schule, fand Karen. »Es ist doch so«, fuhr Diana fort, »wir müssen offen sein, oder? Wir fahren an die Front der internationalen Forschung, niemand weiß, was dabei herauskommen wird. Der Ballon, um den es geht, ist der größte, der jemals zuvor so hoch im Norden losgelassen wurde. Die ganze Guillemot hätte darin Platz, neben einer Autofähre, so groß ungefähr. Stellt euch den Millennium Dome vor!«

»Der Millennium Dome war ein Fiasko«, warf Karen ein und sah dabei auf ihre schwarz lackierten Nägel.

»Kannst du mich bitte aussprechen lassen? Ich meinte seine Ausmaße, die Größe des gesamten Projekts. Ich fang mal von vorne an. Die Forscher wollen den Gehalt an Fluormethan in der Atmosphäre messen. Das ist einer der abscheulichen Verursacher der Klimaveränderung, sechstausend Mal schlimmer als Kohlendioxid, sechs null null null mal so viel! Es handelt sich um ein Perfluorkarbon, noch dazu der schlimmste Vertreter aus dieser erbärmlichen Familie. Eines der sechs Gase, auf die sich das Kyoto-Protokoll konzentriert hat. Und zwar auch auf die Fragen nach Interessen und Geld, die daran geknüpft sind. Beinahe das gesamte Fluormethan, das in die Atmosphäre gelangt, stammt aus Aluminiumschmelzöfen.« Diana klammerte sich an die Leiste, die um den Tisch lief, als das Boot krängte. »Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn für Serve Earth nichts dabei herausspringt!«

»Die Umgebung ist sehr visualisierbar.« Klaus bekräftigte seinen Kommentar mit Kopfnicken. »Ich habe mich im Internet schlaugemacht. Die Gletscher, die ins Meer kalben, ihr wisst schon, diesen Quatsch, und dazu die Antennen und Seilbahnen und was es da so gibt. Bei Bildern muss man ja einfach denken. Aber Gas, was soll das denn? Das kann man nicht filmen! Nicht wahr? Aber mit einem Ballon, der so groß ist wie das Olympiastadion in München. Das ist hübsch, das ist effektiv. Dann, Schnitt zu einem Eisbären oder irgendeinem anderen großen Tier, das es als erstes erwischt. Kein Eis, kein Eisbär! Kaputt!« Klaus hatte rote Wangen nach seinem Vortrag. Je mehr er sich in Fahrt redete, desto mehr deutsche Wörter rutschten ihm dazwischen.

»Aber können die nicht woanders ihre Messungen machen? Wo es ein bisschen wärmer ist?«, protestierte Vanessa.

»Ja, solche Messungen werden auch in den Alpen vorgenommen. Aber um nach Österreich zu kommen, hätten wir durchs Schwarze Meer fahren müssen.«

»Keine Eisbären in Österreich!«, warf Klaus ein. Karen wusste nicht, ob das als Scherz oder ernst gemeint war.

»Okay, wir haben einen schönen Ballon und ein paar Eisbären, um die es uns leidtun könnte. Aber haben wir auch ein Ziel bei dieser Kampagne?«, fragte Karen.

»Natürlich haben wir das. Ich sagte doch schon, wie supergefährlich dieses Fluormethan ist«, erwiderte Diana.

»Ja, klar. Aber es gibt so vieles, was supergefährlich ist. Ganz bestimmt auch dieses Gas, das sich allerdings eher anhört wie eine Zahnspülung. Aber was wollen wir, was will Serve Earth dort erreichen?«

»Wir fahren, wie ihr wisst, auf eine Einladung von Emil Planck dorthin«, antwortete Diana. »Er ist der Experte auf diesem Gebiet, hat sowohl in Nature als auch in Science veröffentlicht. Nein, ich habe die Artikel nicht gelesen, die sind sehr fachspezifisch. Auf jeden Fall aber hat er mich gebeten zu kommen. Ich vertraue ihm vollkommen. Und wir werden die Einzelheiten mit ihm zusammen erarbeiten.«

»Dann ist er also schon da oben? In Ny-Ålesund?«, fragte Karen erstaunt.

»Das sollte er eigentlich sein, ja.«

»Sollte?«, hakte Karen nach. Sie ahnte, was hinter diesem Wort stecken könnte.

»Ja, im Moment ist es schwierig, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ein richtiger Professor eben. Aber sein Assistent ist bestimmt vor Ort. Kimi irgendwas. Komischer Name. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob das ein Mann oder eine Frau ist.«

»Vielleicht ein Hund?«, schlug Karen vor, als sie merkte, dass es keinen Sinn hatte, Diana unter Druck zu setzen.

In dem dichten Nebel, der sie umgab, war die Inselgruppe nicht zu sehen. Aber sie lag dort, das verrieten die Alken, Trottellummen und vereinzelten Papageientaucher. Sie näherten sich Land.

Der steife Wind, der zwei Tage lang die See um sie herum aufgepeitscht hatte, war abgezogen, ein letzter Gruß von dem wandernden Tiefdruckgebiet. Das nächste in der Schlange, das vom Nordatlantik zu ihnen zog, meldete sich mit milden, südlichen Winden an. Mit sieben bis acht Knoten glitten sie durch die glatte, freundlich gesinnte Wasseroberfläche, die sich vor dem Gennaker und dem Großsegel erstreckte. Das Logo von Serve Earth prangte in der Mitte des dünnen Nylonsegels wie ein fluoreszierendes Tattoo auf einem gigantischen Buddhabauch.

Der Sund zwischen der schmalen Insel Prinz-Karl-Vorland und Spitzbergen erwartete sie mit Nebel und heimtückischen Untiefen. Sie mussten ihre Geschwindigkeit drosseln, um möglichen Eisschollen aus Packeis und kleineren, vom Gletscher abgebrochenen Eisbergen rechtzeitig ausweichen zu können. Aber die südlichen Winde schienen auch hier alles weggeweht zu haben. Peter verzichtete auf seine Ruhepausen, um die Radarechos von den Steilhängen zu überwachen. Mit so weit wie möglich aufgeholtem Kiel fuhren sie in großzügigem Abstand über die Riffs weiter nach Norden und bogen am 15. Mai um 07:25 Uhr in den Kongsfjord ein.

Es sah alles so eingefroren aus, fand Diana. Nicht nur wegen des Schnees und des Gletschereises, vielmehr wirkte das ganze Land wie erstarrt. Als würden sie sich einem Ort nähern, an dem nichts wächst, nichts lebt und nichts geschieht. Eine Zone, die einerseits abstoßend wirkt, ungeeignet für den Menschen, andererseits einladend, so unglaublich schön durch die Stille und seine skulpturale Größe.

Diana beobachtete die Besatzungsmitglieder, wie diese einer nach dem anderen an Deck kletterten. Vanessa kam als Erste, vollführte einen kleinen Freudensprung mit passendem Laut, streckte Diana den hochgestellten Daumen entgegen und lief schnell wieder unter Deck, um sich dicker anzuziehen. Abraham ging, ohne zu zögern, zum Bug, setzte sich auf den Vordersteven und ließ die Beine zu beiden Seiten herunterbaumeln. Wenn man an der Haltung eines Rückens erkennen kann, dass jemand den Anblick einer Landschaft genießt, war das in Abrahams Fall so. Karen kam hoch, die Kopfhörer ihres mp3-Players tief in die Gehörgänge gepresst, sah sich kurz um, verschwand wieder unter Deck und blieb dort. Klaus schließlich erschien mit einer Videokamera in der Hand, drehte um, kehrte mit einem Fotoapparat zurück, tauschte diesen erneut gegen die Videokamera, versuchte dann beide gleichzeitig zu benutzen, kletterte ein letztes Mal unter Deck, um dann ohne ein Gerät nach oben zu kommen, sich in den Sitzbrunnen zu hocken und die Aussicht zu genießen, und um dann einen letzten Versuch mit der Videokamera zu starten.

»Entspann dich, Klaus«, sagte Diana und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Das ist morgen auch noch alles da und übermorgen und auch noch viele Jahre – hoffentlich.«

Als der rostfreie Anker sank und sich in den lehmigen Meeresboden der Thiisbucht vor Ny-Ålesund grub, war es kurz vor neun Uhr. Über die flache Ebene im Westen holperte ein verdrecktes Auto auf eine große Parabolantenne zu. Durchs Fernglas sah Diana drei Personen, zwei in einem roten Anorak, eine in einer blauen Daunenjacke. Sie liefen in verschiedene Richtungen.

Zu ihnen kam keiner.

Schmetterlinge im Eis

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