Читать книгу Schmetterlinge im Eis - Lennart Ramberg - Страница 9
Kapitel 6
ОглавлениеWer behauptete, Moskau sei grau und kalt, der hatte weder richtiges Grau noch richtige Kälte erlebt, fand Gusin, als er wieder in seinem Arbeitszimmer in Lesojansk saß. Der Boden vor seinem Fenster war bedeckt von einer frischen Schneeschicht, die Bäume trugen Raureif, und der Himmel hatte dieselbe graue Farbe wie der Rauch aus den Schornsteinen. Es sah aus, als würde der Himmel in Lesojansk hergestellt und aus den großen, grauen Zementschornsteinen hinauf in die Atmosphäre gepustet werden. Die gesamte Natur war farblos.
Gusin nahm einen letzten Bissen und warf den Rest in den Mülleimer. Er stand auf, sah sich suchend um, und sein Blick fiel auf die Stoffserviette unter der Glaskaraffe im Regal hinter seinem Schreibtisch. Er hob das Kristallgefäß hoch und versuchte das klebrige Zeug an seinen Fingern an dem steifen Stoff abzuwischen. Es gelang ihm nur teilweise, und er warf das Tuch ebenfalls in den Mülleimer. Er war nicht zufrieden mit dem Experiment, das gute Vollkornbrot durch Blätterteig zu ersetzen. Was seine Sekretärin da in einem Brotkorb auf seinen Schreibtisch hingestellt hatte, sollte wohl einem Croissant ähneln. Nur war der Bäcker noch nie in Paris gewesen, sondern nur in Archangelsk und hatte deshalb als Kompensation einfach alles unter Zucker begraben. Fürchterlich klebrig. Er würde es Jelena morgen sagen. Heute war es zu spät, denn er war allein im Bü-ro.
Das Telefon klingelte, Gusin zuckte zusammen.
»Hallo! Alles prima ... Nein, ich muss noch ein bisschen weitermachen, esst ihr schon mal ... Ich habe im Flieger was bekommen ... Herrlich. Die Palmen bogen sich im Wind, Kinder liefen in Shorts über den Rasen ... Nein, noch nicht. Natürlich war ich da, um den Leuten die Aktien zu verkaufen, aber es sind nicht meine eigenen. Ich habe doch keine. Nur Optionen, das ist alles. So macht man heutzutage Geld ... Nein, ich habe die Optionen nicht verkauft ... Es ist so: Falls, oder sagen wir lieber, wenn LesAl in London an der Börse eingeführt wird, kann ich für einen festen Preis selbst Aktien kaufen. Wenn die Aktie höher gehandelt wird als der Buchwert bei ihrer Einführung, kann ich sie sofort wieder verkaufen und sehr reich werden ... Nein, nicht reicher als Tretjakow ... Ja, von ihm habe ich ja die Kaufoption geschenkt bekommen ... Ihn kann man wohl kaum als Weihnachtswichtel bezeichnen, ich habe die vor einiger Zeit als eine Art Lohn bekommen ... Nein, das wird alles gutgehen ... Ja, schon, ach was, nein, ich bin nicht nervös. Tretjakow weiß, was er tut, und das weiß ich auch, Küsschen, meine Süße, warte nicht auf mich.«
Gusin legte auf und seufzte. Tretjakow wusste bestimmt, was er tat, aber es war leider nicht selbstverständlich, dass ihm das zugute kommen würde.
Vor sich hatte er einen fürchterlichen Wälzer liegen. Ungefähr dreihundert Seiten, der genaue Umfang war schwer zu schätzen, weil jeder Anhang aufs Neue nummeriert war. Die Hälfte der Seiten hatte nur eine Überschrift und war ansonsten leer, aber die andere Hälfte war von oben bis unten beschrieben und mit auffälligen schwarzen Punkten versehen, die signalisierten, dass hier noch Zahlen fehlten. Zweifelsohne würden sich die Bankiers noch zu Tode schuften müssen, bis alles in diesem umfangreichen Prospekt bis aufs letzte Kommazeichen stimmte. Das ärgerte Gusin aus zweierlei Gründen sehr. Zum einen, weil sie ganze sechs Prozent aller Einnahmen vom Börsengang der LesAl-Aktie einkassierten und das viel Geld war, womöglich sogar mehr, als er selbst herausbekommen würde. Zum anderen zwangen sie ihn, spät abends allein in seinem Arbeitszimmer zu sitzen und ohne richtiges Essen im Magen einen ganzen Vertragsabschnitt gegenzulesen.
Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und ließ den Kopf so tief in die Hände sinken, dass seine buschigen Augenbrauen an den Fingern kitzelten. Gelangweilt blätterte er den ungebundenen Stapel durch. Der Schriftgrad war sehr klein, abgesehen von dem LesAl-Logo in der obersten Zeile der ersten Seite. Die Namen der Bankiers waren vornehm klein gehalten, nicht einmal der Name des Koordinators aus London war größer als elf Punkt, und die übrigen Banken im Konsortium konnte man kaum ausmachen. Mit sechs Prozent Gewinn von mehreren Millionen Dollar kann man sich ein gewisses Maß an Diskretion auch leisten. Na, prima, hier hatte er es, bereits auf Seite vierzehn ging es los mit den »Risikofaktoren«.
Dreizehn Seiten über die Risiken, die sich ausschließlich auf LesAl bezogen, weitere sieben Seiten über die Risiken, in Russland Geschäfte zu machen. Was für ein Verhältnis! Natürlich wollten sie damit nur auf Nummer sicher gehen, um spätere Kritik zu verhindern, aber trotzdem! Was stand da? »Die Aluminiumindustrie ist zyklisch.« Ja, es geht auf und ab, so wie in fast allen Branchen, das weiß doch jeder. Etwas mehr als eine Seite für diejenigen, die es noch nicht wissen. »LesAl könnte seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßen.« Das klang ja äußerst umfassend. »LesAl könnte daran scheitern, neue Akquisitionsobjekte zu finden.« Klang wie ein Problem, das man leichter vermeiden als bekommen könnte. »LesAl könnte von Handelshindernissen betroffen werden.« Der Aspekt müsste eigentlich zu einem der anderen Hauptpunkte verschoben werden. »Die Gruben könnten geflutet werden.« Hier hatten sie den Wortlaut einfach aus einem anderen Prospekt kopiert, in den Gruben von Lesojansk gefror Wasser augenblicklich. »LesAls Haupteigner könnte mit den anderen Miteignern in einen Interessenkonflikt geraten.« Das wäre durchaus möglich, aber das sollte Tretjakow selbst beurteilen. »Härtere Umweltgesetze könnten die Produktion von LesAl beeinträchtigen.«
Gusin hob den Kopf und nahm das Blatt Papier in beide Hände. Drei Viertel der Seite waren beschrieben, in vier Absätze gegliedert. Er las sie sorgfältig durch. Zuerst gab es einen Gummiabschnitt, belangloses Geplapper über Gesundheit und Naturschutz. Im nächsten wurde über die laufenden Abgaben für Abwasser und ähnliches Rechenschaft abgelegt, allerdings fehlten noch die genauen Zahlen. Im letzten Jahr hatte LesAl laut drittem Absatz offensichtlich sechs Millionen Dollar bereitgestellt, um bei der Grube von Altjak die Landschaft wieder zu rekultivieren. Zuletzt kam ein Passus über die eventuellen Konsequenzen des Kyoto-Protokolls. Gusin sprach die langen, englischen Worte laut aus, versuchte ihr Gewicht zu bemessen, ihren tieferen Sinn zu erkennen. Es war die Sprache der Rechtsverdreher, weich wie Stahl und hart wie Kautschuk, unnachgiebig. Als er versuchte, mehrere Aspekte auf einmal zu berücksichtigen, fielen seine Argumente wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Wenn er doch nur jemanden hätte, mit dem er sich beraten könnte.
Es wäre eine natürliche Sicherheitsmaßnahme, die Warnung früh genug zu formulieren, wenn so eine Rubrik bereits existierte. Aber wie sollte er das umschreiben, damit diese kleine Zusatzversicherung nicht zur Zündschnur wurde und das ganze Feuerwerk in die Luft ging? Oder wortwörtlich in die Atmosphäre? Mit wem könnte er sich nur beraten? Die Bankiers waren logischerweise ausgeschlossen, die würden sich begraben, jammern bis zum Atemstillstand.
Er las die Absätze ein zweites Mal. Die Abhängigkeit von der Zuteilung großzügiger Emissionsrechte wurde aufgeführt, ebenso wie der damit einhergehende Effekt der Mehrkosten und die Beeinträchtigung der Produktion. Ein Haufen kurzer Sätze, die gespickt waren mit »vielleicht«, »möglicherweise«, »unter Umständen« und »eventuell«.
Gusin stellte sich ans Fenster. Dieselbe Dunstglocke, die tagsüber die Sonne verhüllte, versuchte jetzt, den Schein der wenigen Straßenlaternen zu dämpfen. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, hob das Papier erneut hoch und seufzte. Der Passus über die Risiken, die unmittelbar mit dem Unternehmen verknüpft waren – inklusive der Umweltrisiken –, war akzeptabel. Es musste so genügen.