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Kapitel 9
ОглавлениеMichail Gusin hatte mit der ausgestreckten Hand zur Tür gewiesen, und sein Sohn verschwand mit gesenktem Blick durch den Dienstboteneingang. Er schloss hinter ihm die Tür. Lilja klappte eine dicke Zeitschrift zu, deren Titelblatt von einem großen, verputzten Haus geschmückt war, das man durch eine geschmiedete Gartenpforte betrachtete, und legte sie oben auf einen Stapel ähnlicher Magazine. Das glatte Papier der Hochglanzzeitschriften brachte den Stapel ins Rutschen, und er ergoss sich über den Esstisch.
»Ehrlich gesagt, mein Liebster, weißt du doch, dass mir Moskau vollkommen genügen würde. Ich glaube, ich könnte dort glücklich werden. Eine Wohnung im Arbat-Viertel oder ein eigenes Häuschen in einem der neuen Vororte, ein ganz neues. Einen Garten. Einen Garten, in dem Bäume stehen und Blumen wachsen.«
»In Russland gibt es keine Rechtssicherheit mehr«, brummte Gusin und bemühte sich, Gelassenheit auszustrahlen. »Du weißt, dass ich diese Unsicherheit nicht ertragen kann. Vor allem wegen der Kinder. Auch deinetwegen, natürlich.«
»Aber dir will doch niemand etwas anhaben. Bitte sag, dass dir noch nie gedroht wurde! Sag es!«
»Jeder kann unter Druck gesetzt werden. Nur die kleinen Fische haben nichts zu befürchten.«
Es beunruhigte ihn, dass sie schon wieder darüber diskutierten. Vor einem Monat noch waren sie sich eigentlich einig gewesen, sie hatten nur zu wenig Zeit gehabt, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.
»Sag den Maklern Bescheid, dass sie uns ihre neusten Listen zuschicken sollen. Sie sollen sich auf die Halbinseln konzentrieren. Besonders Cap d’Antibes, das sollte ihnen ordentlich Beine machen. Cap Ferrat ist auch in Ordnung. Monaco lassen wir sausen, wir haben nichts zu verstecken. Oder nein, lieber doch nicht. Lass es auf der Liste, so können wir sie uns besser warmhalten.«
Lilja nickte wie erhofft. Genau genommen musste er eher sie warmhalten als die Makler. Wenn sie nächste Woche nach Nizza fuhr, sollte sie den richtigen Blick für die Objekte haben, die sie sich ansah. Sie brauchte dieses gewisse Kribbeln im Bauch. Sonst würden sie niemals verlockend genug wirken können. Dass die Häuser ihr Geld wert sein würden, war für Lilja ohnehin vollkommen ausgeschlossen.
»Überleg doch mal«, fuhr Gusin fort und legte die Fingerspitzen aneinander, »ein Garten, in dem Wein und Spargel wachsen, Dinge, die Menschen froh machen, wenn sie auf den Tisch kommen. Und viele der Nachbarn sprechen Russisch. Denk an die russische Gemeinde dort, alle Leute, die wir dort kennenlernen können, und es gibt auch viel bessere Schulen für Vitus und Nastja. Stell dir ein kleines Boot vor, mit dem wir durch die Gegend segeln können. Stell dir vor, morgens barfuß die Zeitung zu holen, barfuß durchs Gras!«
Lilja griff nach einem der Magazine mit einem Weinschloss auf dem Titelblatt.
Der Chauffeur hielt die Wagentür auf. Michail Gusin ging die vornehme Treppe hinunter und setzte sich auf den erhöhten Rücksitz. Er lehnte sich zurück, drückte seinen Kopf gegen die Nackenstütze und ließ seinen Atem zur Ruhe kommen. Sein Blick war sehr wachsam. Lilja schloss häufig die Augen, wenn sie durch Lesojansk gefahren wurde, und weigerte sich, durch die abgedunkelten Fensterscheiben zu sehen. Diese Art von Überreaktion zeigte er nicht. Sein Vater hatte bedauert, dass seine Karriere die Familie von Werchojansk über Jakutsk, Magadan und Irkutsk bis nach Barnaul geführt hatte, von der Kälte in die Wärme und nicht andersherum. Der alte Mann hatte befürchtet, dass Michail und seine fünf Brüder zu sehr verweichlichen würden, aber er hatte sich unnötig Sorgen gemacht. Über Michails Lippen war nie ein Wort der Klage gekommen. Auch nicht während seines Militärdienstes, den er in einer unterkühlten Radarstation am Beringsund absolvierte, die in drei langen Jahren kein einziges Flugzeug registrierte. Und auch heute beklagte er sich nicht. Oft gab er sogar vor, er würde Lesojansk und Umgebung schätzen. Die Kälte, die den Alkohol in den Flaschen gefrieren ließ. Die Mückenscharen, deren Population in den kurzen Sommern schier zu explodieren schien. Den Flugplatz, der manchmal wochenlang wegen Unwetter geschlossen wurde und somit den Ort von der Außenwelt abschnitt. Den kalten, steifen Wind, der die eine Hälfte des Jahres von Norden über sie hinwegfegte und die andere Hälfte von Süden kam.
Gusin nahm sich den Stapel Kopien, der neben ihm auf dem Sitz lag. Ein paar Mitarbeiterinnen aus der Wirtschaftsabteilung wechselten sich damit ab, früh morgens die Financial Times, das Wall Street Journal und noch drei weitere Finanzzeitschriften aus dem Internet herunterzuladen, die Artikel zusammenzustellen, auszudrucken und zusammenzuheften. Gusin war zwar zu Ohren gekommen, dass sie sich hinter seinem Rücken darüber lustig machten, dass er die Artikel auf rosa Papier ausgedruckt haben wollte, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihnen das zu erklären. Aha, der Rubel hatte sich gegen den Dollar behauptet, las er da, der Zins war um zwölf Punkte gefallen, die Aktie von West Texas Intermediate war leicht gestiegen, ebenso die Brent-Aktie. Er warf die Unterlagen zurück auf den Sitz. An der gesamten Küste zwischen Cannes und Menton konnte man sich alle fünf Zeitschriften frei Haus liefern lassen, am Erscheinungstag. Bereit, unter der Pergola mit Blick aufs Meer gelesen zu werden. Barfuß.
Schon von weitem konnte er die Hallen mit den Schmelzöfen erkennen, die sich in der kargen und flachen Landschaft erhoben. Diese gewaltigen Hangars, in denen die Schmelzöfen in zwei Reihen standen, strahlten etwas Kraftvolles aus, und das gefiel Gusin. Auf jeden Fall zog er die Fabriken so manch anderen Vergnügungen vor, wie der Jagd zum Beispiel. Witali Tretjakow und seine Gäste auf einer Rentierjagd aus dem Helikopter zu begleiten, wurde zwar von ihm als geschäftsführender Direktor erwartet. Sein Begriff von Männlichkeit jedoch – auch wenn er nicht sicher war, ob es darum wirklich ging – sah anders aus. Er schätzte die massive Urgewalt der Turbinen mehr als die Fluchtsprünge einer Vaja, eines Rentierweibchens. Er sah einen weitaus größeren Reiz in den Tausenden von Amper, mit denen Bauxit gespalten wurde, als in den Todeszuckungen eines Sarven, eines männlichen Rentieres. Schon während seines fünfjährigen Ingenieurstudiums in Nowosibirsk hatte er gelernt, die Schönheit in den Siegen des Menschen über die Natur zu entdecken. LesAl und seine Anlagen spiegelten diesen Kampf in monumentaler und grandioser Weise wider. Er wusste, dass er das vermissen würde.
LesAl dominierte Lesojansk, wie die Marineflotte die Skyline von Murmansk beherrschte. Als direkter Nachfolger einer steil nach unten führenden Hierarchie war er Anführer eines ganzen Gefolges von sowjetischen Schmelzofenchefs und hatte in der Stadt automatisch den Posten, der den größten Respekt einflößte. Zumindest, seitdem eine Bank in das Hauptquartier der Staatspartei eingezogen war. Aber er wusste auch, dass er bei LesAl nicht der unangefochtene Vize war. Er war vielmehr der unwichtige Zweite, ein gekaufter Handlanger, der mit einem Federstrich seinen Schreibtisch, seine Stellung und alles andere verlieren konnte, wenn es der Besitzer so wollte, der Oligarch Witali Tretjakow.
Hätte Tretjakow sein Versprechen gehalten und ihn zum Direktor des Chemiekombinates in Rostow ernannt, wäre die Situation eine vollkommen andere. Die Arbeit wäre besser auf seine Ausbildung zugeschnitten gewesen, das Kombinat war kleiner als LesAl und weniger prominent in der öffentlichen Wahrnehmung. Aber Tretjakow hatte seine Meinung geändert. Das Kombinat war mittlerweile verkauft, und der damalige Direktor war ein vermögender Mann mit Datsche und einem Haus in Kroatien. Lilja schwärmte noch heute von der schönen Lage der Stadt am Schwarzen Meer, von der Möglichkeit, am Wochenende auf die Krim-Halbinsel zu fahren, von den Zwiebeltürmen, den bunten Farben und den Blumen, die in den Beeten wuchsen.
Wenn alles nach Plan verlief, würden Herr und Frau Gusin bald über Tretjakows Nichtberücksichtigung hinweggekommen sein. Das Mittelmeer war außerdem viel wärmer als das Schwarze Meer.
Der Wagen hatte die nordwestliche Ecke der Anlage erreicht, wo die Demontage des alten Wachturms noch in vollem Gange war. Es sei unklug, die alte Flutlichtanlage zu verschrotten, war ihm gesagt worden, und es sei schade um die schönen Plattformen. Vielleicht könnte man die eines Tages wiederverwenden. Man wusste nie. Nein, vielleicht doch lieber nicht. Dafür wusste Gusin aber ganz genau, dass die Investoren für ein modernes, ziviles Aluminiumschmelzwerk ganz andere Summen zahlten als für ein altes Militärlager. Er hatte die Order gegeben, sämtliche Wachtürme abzureißen, die die Mauer des sechs Quadratkilometer großen Werksgeländes an zentralen Stellen krönten. Dieser Turm war der letzte, und die Zeit drängte. An dieser Stelle würden die Investoren und Finanzanalytiker zuerst vorbeikommen, hier würden sie mit ihren Limousinen eintreffen, wenn der Börsengang vermeldet wurde. Genau an dieser Ecke sollte den Besuchern der erste Eindruck von LesAl vermittelt werden, bevor sie es auf Herz und Nieren prüften. Hier durfte dann auf keinen Fall ein Symbol des alten Gulags stehen.
Sie passierten ein frisch gestrichenes Schrankenhäuschen, an dessen geöffnetem Schlagbaum der Wachposten stramm salutierte. Gusin schauderte bei dieser militärischen Geste und bat den Chauffeur, dem Wachmann mitzuteilen, dass er damit ein für alle Mal aufhören solle. Dann rollten sie durch das Haupttor.
Als Gusin an den Glaswänden vor dem alten, marmornen Treppenhaus vorbeilief, sprang seine Sekretärin Jelena von ihrem Schreibtisch auf und stürzte in sein Arbeitszimmer. Mit ihrem Dialekt, der vor zischenden R-Lauten auf der Zungenspitze nur so sprühte, zählte sie die anstehenden Aufgaben auf, die bereits auf seinem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Er winkte ein wenig abwehrend mit der Hand, schließlich lagen die Papiere vor ihm, und er konnte lesen. Aber gerne eine Tasse Tee, vielen Dank.
Sein Schreibtisch war modern und bestand aus einer Platte aus gehärtetem Glas, die auf einem Gestell aus glänzendem Stahl lag. Er hatte sich noch nicht so richtig mit der kalten Oberfläche angefreundet. Die übrigen Einrichtungsgegenstände in dem großen Raum, der Konferenztisch und die Sofagruppe, waren erst vor kurzem als Ausbeute einer langen Reise nach Mailand dazugekommen und standen in einem starken Kontrast zu dem frisch geschliffenen sowjetischen Stabparkett aus Birke. Er überflog die Unterlagen, das meiste bezog sich auf Vorbereitungen für das bevorstehende Abteilungsleitermeeting. Ein neuer Großkunde aus Harbin forderte besondere Zahlkonditionen, sollte er das akzeptieren oder es an die Bank weiterdelegieren? Preisdruck aus Kanada, weil ein einheimischer Hersteller die Marktführung für Aluminiumfolie übernehmen wollte, wie lautete LesAls Antwort darauf? Schwere Frostschäden in Gebäude Nr. 5, der ehemaligen Lagerhalle: verstärken oder abreißen? Und so weiter, zwei dicht beschriebene Seiten lang. Das meiste davon würde er im Meeting besprechen und lösen können.
Jelena kam mit dem Tee in einem höchst unpraktischen Glas, das wahrscheinlich bei der Möbellieferung aus Italien dabei gewesen war. In der anderen Hand hielt sie ein Fax. Sie sah besorgt aus.
»Also gestern, als Sie in London waren, rief ein Kriminalbeamter aus Moskau an und wollte mit Ihnen sprechen. Er unterstützt die schwedische Polizei bei der Suche nach einem Professor.«
Sie legte das Fax vor Gusin auf den Tisch. Ein grobkörniges, vergrößertes Passfoto starrte ihn an.
»Das war doch der Mann, der hier zu Besuch war, oder nicht? Ich erkenne ihn wieder, auch wenn das Foto ziemlich alt ist. Ich erinnere mich an seinen Blick. Was soll ich dem Kriminalbeamten sagen, wenn er noch einmal anruft?«
»Sagen Sie ihm, wie es war. Dass er hier war, sich äußerst unfreundlich verhalten hat und dann wieder abgereist ist. Dass wir keine Ahnung haben, warum er überhaupt gekommen ist, und dass er gegangen ist, ohne sich zu verabschieden. Sagen Sie ihm das. Und, danke für den Tee.«