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Kapitel 3

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Michail Alexandrowitsch Gusin beugte sich vor und kniff einem kleinen Schimpansen ins Ohr. Es war steif. Und das Fell war rau. Allerdings glänzte es und hatte eine schöne Farbe. Aber Nastja sollte etwas Kuschliges bekommen. Groß und ganz weich. Er ging mit dem Verkäufer im Schlepptau an dem Regal entlang, das vom Boden bis zur Decke mit Löwen, Elefanten und Affen in leuchtenden Farben gefüllt war. Ein Dromedar in Lebensgröße markierte den Übergang zu der eher traditionellen Bärenabteilung. Er drückte einem Braunbären auf die Nase.

»Gibt es den hier auch eine Nummer größer?«

»Ja, hier in der Ecke, Sir.«

Gusin zerrte prüfend am Auge des ungefähr einen Meter hohen Bären. Es schien festzusitzen. Er hob ihn hoch, setzte ihn wieder ab, schätze Gewicht und Stabilität. Genau das Richtige für meine kleine Dame, dachte er und nickte dem Verkäufer zu, der daraufhin den Teddybären zur Kasse hievte. Dort wartete bereits die Modelleisenbahn mit den sechs Waggons und einem Transformator, die Gusin vor ein paar Wochen schon hatte kaufen wollen. Damals hatte sein kleiner Sohn auf einem der Transportzüge vom Schmelzwerk zum Hafen mitfahren dürfen und war so begeistert gewesen, dass er nicht wieder hatte aussteigen wollen. Gusin bezahlte mit einem dicken Bündel Geldscheine und schob das Wechselgeld zurück über den Tresen, als er sah, wie der Verkäufer das Stofftier in eine schöne weiße Baumwolltasche steckte und diese mit einer bunten Schleife versah.

Im Taxi schielte der Fahrer auf das unförmige Paket. Mein kleines Geheimnis, grinste Gusin in sich hinein. Er stellte sich die neugierigen Blicke der Investoren vor, wenn er die Tasche mit dem Plüschbären neben sich aufs Podium stellen würde. Sicher würden sie denken, er habe Präsente für sie mitgebracht. Offensichtlich keine Materialproben, Aluminiumbarren waren ja vergleichsweise kantig, nein, eher etwas Weiches, Kostspieligeres und Russisches. Pelzmützen zum Beispiel. Er schob den Gedanken beiseite, und das nicht nur wegen der Hitze, die ihn umgab. Schließlich war er nicht nach Dubai geflogen, um sich über jemanden lustig zu machen, weder über die Fondsverwalter, die Analytiker noch über die Privatinvestoren oder wer auch immer gleich seinen Vortrag über LesAl hören würde. Er wusste es ja nicht. Das Publikum war von der Bank eingeladen worden, die auch den Börsengang in London organisierte. Aber er wusste genau: Je größer sein Eindruck auf die Zuhörer war, desto schneller würde der Wert seiner eigenen Aktienanteile an der Firma steigen. Und desto schneller würde sich auch das Risiko verringern, dass sie eines Tages wertlos wurden.

Das galt selbstverständlich für alle Finanzzentren, die er auf seiner Reise durch die Welt besucht hatte. Singapur war ein Erfolg gewesen, Zürich ausgezeichnet und sein allererster Termin – in London – geradezu brillant. Als er dort zum ersten Mal vor Leuten stand, die er von der Notwendigkeit überzeugen musste, beim Börsengang in London LesAl-Aktien zu kaufen, hatte er gespürt, wie sich Hoffnung in Erwartung verwandelte. Gusin war drauf und dran, den Teddybären fest zu umarmen, als er sich an diese Premiere erinnerte.

»Testpublikum« hatte die Bank seine Zuhörer damals genannt, als Gusin erstmals allein auf dem Podium stand, umgeben von Präsentationsbildern. Vor ihm saßen einige ausgewählte Großkunden der Bank, denen ein Vorkaufsrecht eingeräumt worden war, für das Entgegenkommen, sich ein oder zwei Minuten ihrer wertvollen Zeit zu nehmen, um anstelle der sonst üblichen Abstimmung ihre Meinung zu dem Vortrag zu äußern, zu sagen, warum sie dieses Paket kaufen oder sofort verwerfen würden.

Gusin erinnerte sich genau an das Gesicht des Investitionschefs der Allied Insurers. In den kleinen Augen des Iren hatte man das Eurozeichen förmlich leuchten sehen können, als wäre es in seine Netzhaut gebrannt, als er, Michail Gusin, die Prognosen der zu erwartenden Bruttogewinnspanne der kommenden Jahre verkündete. Ihm war es anhand eines Rückblicks auf bisherige Entwicklungen gelungen, allen Einwänden zuvorzukommen. Denn der Gewinn lag sogar noch höher als im Laufe seiner eigenen Amtszeit bei LesAl. Er erinnerte sich auch gern an die Finanzanalytikerin eines Pensionsfonds, eine Französin im Seidenkleidchen, die sich auf die Kosten der Elektrizitätswerke versteift und ganz offensichtlich die Zahlenangaben in Rubel als Summen in Dollar gelesen hatte. Pas du tout, keineswegs, hatte er eine seiner neuen französischen Vokabeln angebracht und ihr daraufhin erläutert, dass die Verbindlichkeiten lediglich ein Zehntel der Summe ausmachten, die sie angenommen hatte. Peinlich berührt hatte sie ihren Kopf gesenkt und sich eifrig Notizen gemacht.

Die Bankiers waren vor der ersten Begegnung mit den Investoren äußerst unruhig gewesen. Sie hatten ihn mit unpassenden Tipps überhäuft und ihn hauptsächlich mit Hinweisen genervt, wie er die Fragen über den Umwelteinfluss von LesAl abwehren sollte. Sie schienen ganz eindeutig seinen direkten und offenherzigen russischen Charme unterschätzt zu haben. Die Bankleute, die er für den Börsengang engagiert hatte, waren alle Herdentiere, Männer und Frauen hinter uniformierten Nadelstreifenfassaden. Sie alle betonten die Vokale und Diphthonge in derselben Art und Weise und hatten eine Schwäche für Dienstleistungsunternehmen, in die sie sich einkaufen konnten, ohne sich ihre Anzüge schmutzig zu machen. Die Wahrheit jedoch war, dass die meisten ernstzunehmenden Investoren nach echten Fabriken, die tatsächlich Produkte herstellten und reale Gewinne erzielten, geradezu lechzten. Am Ende war ihm lediglich eine einzige umweltrelevante Frage gestellt worden! Die Mitarbeiterin eines Hedge-Fonds aus Boston hatte die mit Kernkraft betriebenen Eisbrecher aber nur aus einem einzigen Grund angesprochen: Sie wollte selbst gerne an einem der Winterkonvois teilnehmen, um sich angeblich die Logistik genauer ansehen zu können. Natürlich dürfte sie mit einem Eisbrecher mitfahren! Wenn sie dafür die Emission der Aktien befürwortete, würde sie auch eine Kabine mit Blick aufs Vordeck bekommen. Er würde sie mit vier Kisten Champagner an den Nordpol schicken, wenn sie das wollte. Bei einem erfolgreichen Börsengang würde genug Geld da sein ... für alles.

Gusin warf einen Blick auf seine teure Armbanduhr und bat den Taxifahrer, am Hotel vorbeizufahren. Er hatte keine Lust, den Bankiers etwas über die Spielsachen zu erzählen. Außerdem blieb noch genug Zeit für eine Tasse Kaffee.

Im Gartencafé des Hotels war jeder Tisch mit einem Ventilator ausgestattet, der den Gästen kühle Luft zuwehte. Gusin war davon ein wenig irritiert, behielt seine Jacke an, machte es sich bequem und rührte in seinem Kaffee. Dann setzte er sich die Brille auf und ging die zwei To-Do-Listen in seinem ledernen Notizbuch durch. Die eine war problemlos zu bewältigen, davon konnte er viele Punkte delegieren. Die andere war ungleich schwieriger.

An erster Position stand der Kauf einer Partie Aluminium. Da musste er sich vorsichtig verhalten. Ihm fiel es ausgesprochen leicht, als Geschäftsführer mehrere tausend Tonnen in alle Welt zu verkaufen, aber als Einkäufer musste er bedächtiger vorgehen. Um die Transaktion musste sich seine Firma auf den Cayman-Inseln kümmern. Das Unternehmen gehörte ihm über eine Strohfirma, seine Beteiligung daran war so nicht nachzuweisen. Dennoch gab es viel zu bedenken. Schnell wurde mal ein praktisches Detail übersehen, das den Kauf einer so spezifischen Menge als zu ungewöhnlich aussehen ließ. Und das könnte wiederum einen seiner Mitarbeiter veranlassen, sich diesen Vorgang etwas genauer anzusehen. Gusin klopfte mit dem Stift gegen seine Zähne und schrieb einige abstrakte Symbole in sein Notizbuch, die er mit Datum versah und mit Pfeilen verband.

Dann klappte er den Planer zu, unterdrückte ein Gefühl von Unbehagen und versuchte, sich auf seine Firmenpräsentation zu konzentrieren. Bankiers und PR-Leute waren sich ausnahmsweise einmal einig gewesen: Er solle nicht versuchen, die geographischen Bedingungen zu verschweigen. Trotz der künstlichen Palmengärten und Inseln hatte die Wüstenkultur auch heute noch einen starken Einfluss. Es bestand keine Veranlassung zu verheimlichen, dass die Hauptanlage von LesAl in Lesojansk nahe der unbewohnten sibirischen Küste an der eisigen Karasee lag. Seine These würde sein, dass dies der ideale Standort für ein Aluminiumschmelzwerk sei. Er experimentierte mit verschiedenen Formulierungen, mit denen er Lesojansk und dessen Lage auf der Jamal-Halbinsel ansprechend beschreiben könnte ... den Hafen in Lesinka in der Nähe der Ob-Mündung sowie die karge Küste in der Umgebung. Er fand Parallelen zwischen der Tundra und der Sandwüste Dubais, hob beispielsweise die Gemeinsamkeit fehlender Infrastruktur hervor, betonte aber auch deren Vorteile und suchte Begriffe für die menschlichen Qualitäten, die durch so extreme Kälte und Hitze hervorgebracht würden. Die brauchbarsten Vergleiche notierte er in kyrillischen Buchstaben in sein Buch und versah sie mit der Überschrift »Triviales Gelaber (das niemand überprüfen kann)«.

Trivial, Gusin erhob sich, das kann man wohl laut sagen. Er verließ seinen Platz und spürte augenblicklich den Temperaturanstieg. Sobald das Dach keinen Schatten mehr spendete, übermannte ihn die Hitze, aber er ließ sich nicht beirren und lief den Kiesweg des Hotelgartens entlang, der von Büschen gesäumt war. Bestimmt gab es Menschen, die den Winter mochten, der sich wie ein eisiges Gespenst bis weit in den Juni hinein im Nacken festkrallte. Oder diese Dunkelheit, die schon im Oktober schwer auf Körper und Seele drückte und dann fünf lange Monate herrschte. Oder die Mückenplage ... Warum gab es überhaupt Verrückte, die das Leben dort liebten?, fragte er sich und strich vorsichtig mit der Hand über die harten Blätter der Büsche. Ein paar Schmetterlinge wurden durch die Bewegung des Zweiges aufgeschreckt und flatterten davon. Er wusste genau, was er wollte. Und was Lilja wollte. Was sie verdiente.

Lilja, meine Lilja, du bist nicht geschaffen für die eisige Tundra. Unter deinen Zehen solltest du Grashalme spüren, umgeben von Rosenduft und Geißblättern solltest du sein. Du hast es verdient, bei offenem Fenster zu schlafen und von den Gesängen der Nachtigall und Amsel geweckt zu werden. Anders, als es jetzt ist. Du wohnst an einem Ort, wo das Thermometer kaum eine Plusskala benötigt, wo man nichts anpflanzen kann und wo kaum einer weiß, was eine Parkbank ist, wo niemand in einer Hängematte liegen kann, die zwischen uralten Eichen hin und her schaukelt.

Gusin betrachtete die riesigen Palmen.

Zwergbirken! Was sind das überhaupt für Bäume? Missgebilde sind das, und wenn wir nicht bald nach Süden ziehen, sehen wir auch bald so knorrig und verkrüppelt aus. Unsere Kinder ertrinken in Spielsachen, aber sie haben noch nie einen Schmetterling gesehen, dachte Gusin traurig, als die zwei Falter, die er aufgeschreckt hatte, wieder an ihm vorbeiflatterten. Sie waren orange mit einer schwarzen Umrandung. Unsere Kinder haben noch nie Schmetterlinge gesehen!

»Das muss sich ändern!«, rief Michail Alexandrowitsch Gusin und verließ den kleinen Garten, um eine Handvoll jener Investoren zu treffen, die ihm diese Veränderung ermöglichen sollten.

Schmetterlinge im Eis

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