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Kapitel 4

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In fünfundzwanzig Kilometern Höhe fegte der Wind unverändert mit achtzig Stundenkilometern Richtung Nordost durch die Atmosphäre, teilte der Meteorologe aus Oslo in seinem täglichen Faxbericht mit. Es war ungewiss, wann der Jetstrom abnehmen und schließlich seine Richtung ändern würde. Ebenso ungewiss war, wann der Wetterballon aufsteigen konnte. In einer Woche, in zwei, vielleicht auch früher.

Das Fax hing am Schwarzen Brett in der Sverdrupsbase, der norwegischen Forschungsstation von Ny-Ålesund. Von den etwa zwei Dutzend Holzhäusern unterschiedlicher Baujahre war es eines der neueren Gebäude. Zwei kleine zusätzliche Experimente sollte Plancks Ballon mit in die Atmosphäre nehmen: Das eine bezog sich auf die ultraviolette Strahlung, das andere konnte Kimi nicht zuordnen. Er sah nur, dass es offenbar die Befestigung von langen Antennen erforderlich machte, die wie Stacheln aus dem Korb herausragten. Wahrscheinlich hatte der für das Antennenprojekt zuständige Forscher, Professor Legernes, das Fax ans Brett gehängt. Er war es auch, der Kimi indirekt dazu veranlasst hatte, die Station aufzusuchen, um das Telefon zu benutzen.

Der Blick, mit dem ihn Legernes während seines Vortrags gemustert hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es war keine große Geste, wirkte noch nicht einmal künstlich herablassend, lediglich eine Augenbraue hatte er gehoben. Die Skepsis und das Mitleid der Welt gefangen in einer einzigen Sekunde. Kimi machte den Umweg über die Station, um eben diesem Blick nicht erneut begegnen zu müssen. Er hatte ihm bedeutet, dass seine Anstrengungen, Emil Planck aufzuspüren, bei weitem nicht ausreichten.

Ein kurzbeiniges Spitzbergen-Rentier hatte sich zwischen den Gebäuden verlaufen und glotzte blöde durch das Fenster, als er die Nummer der Universität Uppsala wählte. Kennet Wilhelmsson war einer von Plancks engeren Kollegen, und als Verantwortlicher für die fünf Forscher der Atmosphärendynamikgruppe musste er auch etwas mit Plancks Klimaveränderungsgruppe zu tun haben. Na ja, Gruppe war hier nicht gleich Gruppe, Plancks Einheit wurde auf der Website so bezeichnet, allerdings war Emil Planck deren einziges Mitglied.

»Wilhelmsson!«, rief es am anderen Ende der Leitung. Leider wusste er aber auch nicht, wo Planck sich aufhielt. »Nein, wie soll ich sagen, unsere ›Wechselwirkung‹ zeichnet sich nicht durch eine hohe ›Frequenz‹ aus. Ja, viele Reisen, sogar nach Las Vegas, ich weiß, das klingt immer ein bisschen komisch, aber die Konferenzhotels sind billig da. Nein, meines Wissens betreut er im Augenblick keinen Studenten als Doktorvater. Ich hatte den Eindruck, dass er an vielen internationalen Kooperationen arbeitete. Natürlich werde ich ihn grüßen, wenn ich ihn sehe. Kimmy, war das, oder? Ach so, ja. Hier ist es noch ein bisschen früh am Morgen!«

Das Rentier trottete davon. Ein Paar Seeschwalben attackierten es in Sturzflügen und wirbelten um seine Geweihspitzen herum, als wäre es dabei, ihr Nest zu zertrampeln. Doch das Rentier ließ sich nicht beirren, blieb stehen, scharrte mit dem Huf, rupfte Flechten aus und kaute genüsslich darauf herum.

Die Institutssekretärin war zwar gesprächiger als der Universitätskollege, wusste aber ebenso wenig. »Nein. Keine Ahnung. Leider, leider. Ich weiß nur selten, wo er hinfährt, und – unter uns gesagt – auch nicht, wo er gewesen ist. Dabei mache ich sogar seine Reisekostenabrechnung. Früher konnte man das ja an der Währung erkennen, aber jetzt mit dem Euro ... Es gibt schließlich länderspezifische Aufwandsentschädigungen, nicht wahr! Wenn er zu viel bekommt, gilt das als ein steuerpflichtiges Einkommen, und das betrifft ihn dann ja wohl auch?« Dabei hatte Kimi lediglich gefragt, ob sie wisse, wann Planck zurückkomme ... Einfach zu raten, wo er als Nächstes hinfahren könnte, wäre schließlich auch eine Zumutung ... »Nach Spitzbergen? Hieß das so? Nördlich von Norwegen, Richtung Nordpol, ach so! Herr Professor Planck ist sehr erfolgreich, er wird oft zu Konferenzen eingeladen, auf denen er Vorträge halten soll. Allerdings tauchen die Hotelkosten nie auf einer der Spesenabrechnungen auf, das spricht doch für sich!«

Emil Planck hatte doch bestimmt eine Familie und ein Zuhause. In Schweden gab es ein paar Dutzend mit dem Namen Planck, aber Kimi wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, auch nur einen davon anzurufen. Noch bevor er erstmals von den viel gerühmten Artikeln in der Nature gehört hatte, war ihm eine Geschichte über den Dozenten an der Universität Uppsala zu Ohren gekommen, die ihn noch heute staunen ließ: Plancks Schönheits-OP seines Namens. Ein kleines zusätzliches ›c‹ befreite ihn von den Assoziationen ›Sägespäne und Holzkopf‹ und stellte ihn in eine Namenslinie mit dem Erfinder der Quantenmechanik.

Auch er war nicht als Kimi Hoorn auf die Welt gekommen, sondern als Kjell-Åke Sjöström. Er sei ein show-stopper, ein richtiger Knüller, wie ihn sein Agent und Entdecker nannte. Er hatte ihn damals auf Las Palmas am Strand angesprochen, wo er als Student seinen Urlaub verbracht hatte. Kjell-Åke würde keiner aussprechen können, redete ihm sein Agent ein. Kimi hingegen würde androgyn und modern klingen, Hoorn sogar irgendwie adlig, ohne dabei dem echten Adel zu nahe zu treten. Keiner aber hatte sich darüber Gedanken gemacht, wie oft seine Modelkollegen ihn »Kimi’s horny« nennen würden.

Kimi legte den Hörer auf. Während er dem weidenden Rentier zusah, dachte er einen Augenblick lang daran, alle Planks ohne ›c‹ anzurufen. Doch er ließ die Idee sofort wieder fallen. Die Liste wäre zu lang.

Planck und er waren sich nur ein einziges Mal begegnet. Der Forscher aus Uppsala hatte sich anlässlich eines Seminars über Klimaveränderungen in Göteborg aufgehalten, um dort einer Reihe von Vertretern aus Gemeinden und Landtagen Hintergrundwissen zur Umsetzung neuer Richtlinien zu vermitteln. Kimi hatte Planck als einen zurückhaltenden, fast scheuen Menschen wahrgenommen. Seine Kleidung war so dezent gewesen, dass Kimi sich überhaupt nicht mehr daran erinnern konnte. Eine Seltenheit für sein ehemals auf Oberflächlichkeit trainiertes Gedächtnis. Aber an das dünne Haar, das nicht den gesamten Kopf bedeckte, daran konnte er sich sehr gut erinnern, ebenso an die weit auseinander stehenden Augen, die hellblau strahlten, wenn er ein seltenes Mal den Blick hob. Auch Plancks geschmeidigen Gang hatte er noch vor Augen, der ihn sofort an einen Judomeister oder Mönch denken ließ.

Kimis Doktorvater, Professor Händler-Bös, hatte sich kurz vor dem Vortrag für höchstens eine Viertelstunde mit Planck hinter verschlossenen Türen unterhalten, als Kimi hereingerufen und gefragt wurde, ob er sich eine Mitarbeit bei dem Experiment auf Spitzbergen vorstellen könnte. Die Professoren hatten Kimis Antwort gar nicht abgewartet, so als sei seine Zustimmung vorausgesetzt worden. Planck hatte noch etwas über Details gemurmelt, die es folglich zu besprechen gäbe, und dann seine Unterlagen zusammengesammelt.

Nach dem dritten Dia der Planckschen Vorlesung begriff Kimi, dass es zwei Seiten an dem Professor gab. Der einen war er soeben begegnet, wortkarg und rätselhaft, sie warf viele Fragen und Spekulationen auf und verunsicherte das Gegenüber mit seltsamen Bemerkungen. Die andere erlebte er in der Vorlesung. Planck hatte sich zu einem rhetorischen Genie entfaltet, kaum dass er seinen Auftritt haben und seine wohldurchdachte Nummer aufführen durfte. Der Mann war auf der Bühne eindeutig besser aufgehoben, dort war er in seinem Element.

Auch bei der Beantragung von Fördermitteln war Planck brillant. Kimi kannte seine Anträge zur Finanzierung des kostspieligen Ballonexperiments in- und auswendig. Er kannte den Auftakt mit den großen Koordinaten, die dem Leser eine zerstörte Welt vor Augen führten, ohne dass ein einziges Wort darüber im Text stand. Vermehrtes Wissen über Fluormethan würde jedoch zu einem äußerst wichtigen Rädchen in der großen Maschinerie zur Bestandsaufnahme der Erde werden. Und Kimi wusste auch, dass noch nicht einmal im Anhang das tatsächliche Ziel des Experiments erläutert wurde.

Zögerlich erhob er sich, um, wie schon so viele Tage zuvor, zum Atmosphärenlabor auf dem Zeppelinberg zu fahren und in den Unterlagen und Dateien von Planck nach brauchbaren Informationen zu suchen. Er war unaufhörlich auf der Jagd nach dem eigentlichen Ziel des Experiments, nach einem Hinweis, was er als einziger verbleibender Fluormethan-Forscher zu tun, welche notwendigen Vorbereitungen er zu treffen hatte und welche Maßnahmen er unbedingt ergreifen musste, damit nicht alles umsonst gewesen war.

Die kleine Gondel der Seilbahn schaukelte auf ihrem Weg zum Labor der Zeppelinstation zaghaft hin und her. Die Sicht auf Ny-Ålesund, die Landebahn, den Fjord und die Berggipfel auf der anderen Fjordseite war durch einen Schneeschauer versperrt, der vom Meer im Westen über den Sund zog. Der Wind war böig. An den Fensterscheiben der Gondel lief Schmelzwasser herunter. Kimi ertappte sich dabei, wie er sein Spiegelbild betrachtete und keinen einzigen negativen Gedanken über die ihm bevorstehende Arbeit empfand. Im Gegenteil, er war so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr.

Anstatt sich auf Plancks Vorhaben zu konzentrieren, wollte er vielmehr die bereits vorliegenden Messdaten studieren und zu begreifen versuchen. Besonders ein Ergebnis, das Kimi bis dahin als Messfehler abgetan hatte. Planck hatte sich jedes Jahr drei, manchmal vier Wochen in Ny-Ålesund aufgehalten und diese Zeit damit verbracht, die Fluormethankonzentration der direkten Umgebung zu messen. Dafür hatte er die Luftproben verwendet, die durch das Rohr auf dem Dach der Zeppelinstation eingesogen wurden. Die Messergebnisse befanden sich in Form von unzähligen Dateien auf der großen externen Festplatte neben Plancks Computer. Die Dateien waren jedoch mit einem Code geschützt, den Kimi bislang nicht hatte knacken können.

Der Computer war so, wie er ihn zurückgelassen hatte. Er blätterte am Bildschirm durch die einzelnen Ordner und öffnete ein paar ungeschützte Dateien mit einer neuen Software, mit der Planck in letzter Zeit offensichtlich häufiger gearbeitet hatte, die Kimi aber vollkommen unbekannt war. Auf dem Monitor erschienen erneut nur die alten Messkurven, die er schon so oft betrachtet hatte, da war nichts Neues zu entdecken. Na gut, murmelte er vor sich hin, da hatte er wenigstens eine stabile Ausgangssituation. Dann öffnete er die Datei mit dem Namen »606-34-FTR«, die offensichtlich beschädigt war, denn es erschien statt einer Kurve nur eine schwarze Linie.

Er mühte sich ab, um die richtigen Eingabefelder zu finden und die Zahlen zu überprüfen, wollte die Koordinatenachsen mit korrigierten Parametern normalisieren. Aber auch viele Tasten- und Mausklicks später war die Linie noch immer nicht aus dem Diagramm verschwunden. Neue Zahlen an einer anderen Stelle, doch der Strich blieb unverändert. Dann fragte ihn das Programm plötzlich, ob er die alte Skalierung wiederherstellen wolle. Kimi bejahte per Mausklick, und der Rechner begann eine Zeichnung aufzubauen. Auf dem Bildschirm erschien eine Messkurve.

»Shit!«, schnaubte er. Die nächste Enttäuschung. Die Zahlen auf der y-Achse, an der man die Fluormethankonzentration ablesen konnte, waren bedeutungslos niedrig. Er folgte dem Kurvenverlauf, stutzte, las den Wert ab. Die höchste Konzentration lag bei sechshundert Billionstel, das war sechsmal höher als ein realistischer Wert. Ja, klar. Er begann andere Kurven umzurechnen, die Messungen anderer Tage zu überprüfen.

Der Gehalt an Fluormethan war in der Regel ziemlich stabil. Hundert Jahre Aluminiumproduktion hatten ihn auf ein relativ unveränderliches Mittel von etwa achtzig Billionstel angehoben. Dieser Wert war Kimi so häufig in den Daten begegnet, dass ihn das nicht weiter erstaunte. Eine Kurve sah aus wie die andere, fand er, als er mit den endlosen Zahlenreihen ebenso vertraut war wie mit den Messinstrumenten, mit denen er sich in der ersten Woche beschäftigt hatte. Die Messung für »606-34-FTR« vom 12. Februar war die einzige Abweichung, die er entdecken konnte. Und die schien vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen zu sein.

Und wenn jetzt aber ...? Kimi öffnete die Ursprungsdatei erneut, er klickte, drückte und murmelte vor sich hin, dann hatte er alle Daten der Kurve aufgerufen. Eine Wand aus Einsen und Nullen. Er beugte sich vor und versuchte den Zahlenreihen zu folgen. Zur Rechten stiegen die Zahlen tatsächlich an, er rechnete sie ins Dezimalsystem um. Zuerst zogen sie an der Vierundsechzig vorbei, dann weiter an der Zweihundertsechsundfünfzig bis hinauf in die Gegend um die Sechshundert, dort verweilte die Kurve einen Augenblick und sank dann wieder auf den Normalwert ab. Kimi kopierte die Zahlenwerte in ein anderes Grafikprogramm, druckte die Kurve aus und betrachtete das Ergebnis. Hier konnte es sich nicht nur um einen einfachen Messfehler handeln.

Ein so markanter Anstieg des Fluormethangehalts war äußerst ungewöhnlich. Von einem natürlichen Wert um die Achtzig auf einen Wert von über Sechshundert. Zwar ging es hier um Billionstel, aber dennoch.

»Das ist ja unglaublich!«, rief er laut, aber es hörte ihm keiner zu.

Kimi hörte nur, wie die anderen Stationsangehörigen ihre Arbeitsräume und Versuchsanordnungen verließen, um in der Kantine zu Abend zu essen. Er ging meistens sehr spät, hatte keine Lust, die Fragen nach dem »schwedischen Kollegen« oder allgemein nach seinem Wohlbefinden zu beantworten. Heute Abend lief er sogar Gefahr, das Essen ganz zu verpassen.

Etwas später betrachtete er den dreiseitigen Text, den er soeben verfasst hatte, schüttelte den Kopf, drückte auf ›Löschen‹ und loggte sich aus.

Das Telefon stand in der Ecke. Sie müsste heute Abend eigentlich zu Hause sein.

Kimi starrte lange auf den elfenbeinfarbenen Apparat, dann wählte er ihre Nummer.

»Ulrika Malmsten.«

Ihre tiefe Stimme erregte ihn, wie immer, wenn er sie ein paar Tage nicht gehört hatte. Wie bei ihrer ersten Begegnung im Junggrens Café in Göteborg. Er hatte sich einen Cappuccino bestellt und im Herald Tribune gelesen, sie hatte sich mit einer Freundin an den Nachbartisch gesetzt. Ulrika meinte Kimi beim Lesen eines Artikels über den abstrakten Künstler Olle Bærtling beobachtet zu haben. Als sie das Café verließ, hatte sie ihm ihre Visitenkarte gegeben und ihn mit dieser tiefen Stimme auf die aktuelle Ausstellung in ihrer Galerie hingewiesen.

Kimi konnte sich gut daran erinnern, wie er mühsam ein paar Plattheiten hervorgestammelt hatte. Er wollte nicht zugeben, dass er eigentlich den Nachbarartikel über die Entlarvung von gefälschter Kunst mithilfe von Lumineszenz und ultraviolettem Licht gelesen hatte. Tags darauf besuchte er sie in der Galerie, und während sie ihn durch die Ausstellung führte, punktete er mit seinem Wissen aus Unizeiten. Er hatte die chemischen Bestandteile der Temperafarben noch parat und konnte Ulrikas Interesse mit einer kurzen Zusammenfassung der neuesten Erkenntnisse über Olle Bærtling gewinnen. Man hatte herausbekommen, dass die Seitenlinien der berühmten Bærtling’schen Dreiecke leicht gekrümmt waren, damit Dreiecke aus dunkleren Farben nicht die optische Täuschung einer gebogenen Linie verursachten. Kimi hatte sich sicher gefühlt, sich aus der Deckung gewagt, entspannte sich. Eine Frau, die sich die Galerie mit Dreiecken vollhängte, konnte unmöglich nur an Äußerlichkeiten interessiert sein. Diese Ulrika schien ihn richtig ernst zu nehmen. Als er ihr ein paar Tage später gestand, dass er Fotomodell sei, hatte sie lediglich »Ich weiß« erwidert.

»Hallo? Bist du es, mein Liebling?« Ihre Stimme wurde eine Spur heller, auch das klang schön, fand Kimi.

»Natürlich geht es mir gut. Nein, nicht nur so lala? Ich meine, so richtig gut, gut! Ja, auch morgens und mittags und auch abends.«

Ihre Verfassung war stabil, er machte sich aber trotzdem Sorgen um sie. Es war schließlich ihr erstes Mal, viele Frauen mussten sich anfangs häufig übergeben.

»Ob ich schon eine Bewegung spüre? Nicht wirklich. So schnell geht das bei den Primaten nicht, du Naturwissenschaftler!«

Und dann plätscherte ihr Gespräch fröhlich weiter. Über alle möglichen Themen unterhielten sie sich, als wollten beide den jeweils anderen in die eigene Welt einladen, zu all ihren großen und kleinen Begebenheiten, zu Wichtigem und Unwichtigem, Schönem und Traurigem. Die Verhandlungen mit dem Museum of Modern Art über eine Leihgabe gingen nur schleppend voran. Versicherungsquatsch. Hallins Wiederwahl zum Vorsitzenden der Wohnungsbaugenossenschaft. Wie zu erwarten. Es regnete. Typisch Göteborg. Und so weiter, von beiden Seiten. Ausführlich und fröhlich. Er begriff nicht, warum er überhaupt gezögert hatte, sie anzurufen.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Kantine schloss in diesem Moment. Sie unterhielten sich über Lakritze.

»Ich sage nur, Pica-Syndrom!«, kicherte Kimi.

»Ich habe schon immer gerne den ganzen Tag Lakritz in mich reingeschaufelt. Hab mich nur nicht getraut, es zuzugeben.«

»Hmm ...«

»Und apropos, diese Sache da mit dem hohen Messwert, dieses Gas, das kam und ging. Weißt du? Das ist über zwei Jahre her.«

»Was ist zwei Jahre her?«

»Dass du mir von deinen Forschungen erzählt hast. Also, mehr als dein bloßes Reiseziel.«

»So lange kann das doch gar nicht her sein.«

»Stimmt, es ist noch länger her.«

»Ich glaube einfach nicht, dass du mehr über meine Arbeit hören willst.«

»Natürlich will ich das!«

»Das sagst du nur, weil du so wenig davon weißt, wie es läuft und sich anfühlt und so!«

Sie ließ diesen Ball, den er ihr zuspielte, vorbeirollen, erwiderte nichts darauf, murmelte nur leise etwas über seine »Callboy-Noia«, so als sei es ein Stau, eine Zecke oder eine Gastritis. Nicht gut, nicht beliebt, aber nur vorübergehend. Man konnte damit leben, aber genauso gut auch ohne sein. Sie zumindest.

Schmetterlinge im Eis

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