Читать книгу Der Brookman-Plan - Leo M. Friedrich - Страница 7
ОглавлениеOttawa; Kanada März 2019
Zum zwanzigsten Mal an diesem Tag klappte er die Bettdecke zurück und betrachtete sein in einen dicken Verband gehülltes linkes Knie. Und ihm war klar, dass seine Karriere damit vorbei war. Jetzt lag er, Ramon Bohm, siebenundzwanzig Jahre alt und das einstmals größte Torwarttalent des kanadischen Eishockeys der letzten zwei Jahrzehnte, in einem Krankenbett einer Klinik in Ottawa. Er konnte immer noch nicht glauben, was ihm die Ärzte heute früh beizubringen versucht hatten. Dass er nie wieder würde spielen können. Gewiss, in ein paar Tagen bekäme er ein neues, ein künstliches Kniegelenk, das ihm ein normales Leben ermöglichte. Aber eben nur ein normales. Mit dem Hochleistungssport, den er seit über zwanzig Jahren betrieb, war es vorbei. Ramon Bohm hatte den Eishockeysport gelebt. Von Kindheit an legte er einen ungeheuren Fleiß an den Tag, übte, trainierte und spielte sich Schritt für Schritt nach oben. Immer stand er bereits in der nächst höheren Altersklasse im Tor, musste sich gegen harte Jungs durchsetzen, die größer und kräftiger waren als er und die ihn das bei jedem Training und jedem Spiel spüren ließen. Doch er biss sich durch. Mit sechzehn schaffte er bereits den Sprung in die Junioren-Nationalmannschaft. Und wurde noch im selben Jahr Weltmeister. Der Verband verlieh ihm die „Calder Memorial Trophy“ als bestem Rookie der Saison. Mit achtzehn lief er zum ersten Mal für das kanadische Männer-Team auf. Spätestens ab diesem Augenblick erregte er die Aufmerksamkeit der amerikanischen Profi-Teams.
Es hagelte Angebote der Top-Clubs aus den USA. Er entschied sich, zunächst in Kanada zu bleiben, bekam in der Zeit dreimal die „Vezina Trophy“ als bester Torhüter der NHL. Vor vor drei Jahren nahm er schließlich eine Offerte der Washington Capitals an, mit denen er in der vergangenen Saison den Stanley Cup, die nordamerikanische Meisterschaft gewann. Und nun das. Im Spiel gegen die Boston Bruins passierte es. Ramon hechtete nach dem Puck und blieb auf dem Bauch liegen. In dem Getümmel über ihm bekam ein Bostoner Spieler einen Stoß, verlor das Gleichgewicht und trat mit dem Schlittschuh auf die am wenigsten geschützte Stelle des Torhüters, die Kniekehle. Ramon erinnerte sich wieder an den plötzlichen Schmerz und seinen Schrei, den man bis in die obersten Ränge der Halle gehört hatte. Der Schlittschuh hatte wie ein Fallbeil mehrere Sehnen durchschnitten und das Kniegelenk unrettbar beschädigt. Er bekam nicht mehr mit, dass einer seiner Mannschaftskameraden dem Verursacher einen solchen Schlag versetzte, dass dieser drei Vorderzähne verlor und sich das Nasenbein brach. Nur mit Mühe konnten die Schiedsrichter eine Massenschlägerei auf dem Eis verhindern und sicherstellen, dass Ramon vom Mannschaftsarzt und den Physiotherapeuten versorgt und auf einer Trage aus der Halle gebracht werden konnte. Zwei Tage später stand Dave Bower an seinem Bett in der Klinik. Der Nachbar und gute Freund der Familie war Chefarzt einer der angesehensten Privatkliniken Kanadas. Auf dessen Intervention hin schob man Ramon Bohm kurze Zeit später auf einer Trage in einen Privatjet für den Flug nach Ottawa. Doch auch die Spezialisten in Kanada konnten nur bestätigen, was ihre US-amerikanischen Kollegen bereits angedeutet hatten. Mit dem Eishockey war es vorbei.
Ramon deckte sein lädiertes Bein wieder zu und kämpfte einen Moment lang mit den Tränen. Okay, finanziell musste er sich keine Sorgen machen. Er hatte in den vergangenen Jahren mehr Geld verdient, als er ausgeben konnte. Dazu dürfte ein üppiges Abfindungsangebot der Krankenversicherung kommen, die damit versuchen würde, sich um die dauerhafte Rente zu drücken, die sie ihm laut Vertrag in so einem Fall zahlen müsste. Ramon hatte, im Vergleich zu vielen seiner Kollegen sparsam, beinahe asketisch, gelebt und den Großteil des Geldes, das ihm die Vereine und Sponsoren geradezu nachwarfen, beiseitegelegt. Er hatte nie Interesse daran gefunden, in teuren Clubs herumzuhängen oder sich eine Sammlung von Luxusautos zuzulegen. Die letzte Beziehung zu einer Frau hatte er vor einigen Monaten beendet, als er merkte, dass Vanessa lediglich bemüht war, auf der Basis seines Bekanntheitsgrades eine Modelkarriere zu begründen. Sie versuchte über Wochen, ihn immer wieder zur Teilnahme an irgendwelchen Galas, Partys und sonstigen Jetset-Events zu überreden, auf die er gar keine Lust hatte. Ihm war es von jeher lieber, dem Rampenlicht fernzubleiben und sich seinem Sport zu widmen.
Den einzigen wirklichen Luxus, den sich Ramon Bohm in den letzten Jahren gegönnt hatte, war eine sündhaft teure Kameraausrüstung nebst einer High-Tec-Drohne, die gestochen scharfe Bilder lieferte. Bei einer der ganz wenigen Promi-Veranstaltungen, die er vor etlicher Zeit einmal besucht hatte, lernte er Gerry Myers kennen, den Guru der kanadischen Naturfilm-Szene. Der überredete ihn, im Sommer an einer Expedition an den Polarkreis teilzunehmen, um Eisbären zu filmen. Von da an hatte es Ramon gepackt und wann immer es die Zeit erlaubte, ging er mit dem graubärtigen Filmemacher und dessen Team auf Reisen rund um den Erdball. Dabei entdeckte er seine zweite Leidenschaft nach dem Eishockey, die der Filmerei. Und da er es sich leisten konnte, beschaffte er sich nach und nach die beste Kameratechnik, die es auf dem Markt gab. Seinen Mannschaftskollegen gab das immer mal wieder Anlass für ein paar kleine Lästereien. Wenn sie nach Saisonende in den Karibikurlaub flogen, packte Ramon seine Sachen, um für ein paar Wochen im Regenwald zu campieren oder auf einer abgelegenen russischen Insel Walrosse zu filmen.Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken. Statt einer der rührend um ihn besorgten Krankenschwestern schob eine ihm unbekannte Frau den Kopf durch den Türspalt.
„Ramon Bohm, der Eishockeytorwart, richtig?“
Sie schlüpfte blitzschnell ins Zimmer und schloss die Tür. Bohm schaute überrascht auf.
„Ob ich noch Torwart bin, weiß ich nicht, aber wenn Sie Ramon Bohm suchen, sind Sie richtig. Und wer sind Sie noch gleich?“
Die junge Frau, Ramon schätzte sie auf Anfang dreißig, schob eine Strähne ihrer dunkelblonden Haare hinter das rechte Ohr und lächelte. Während sie sich einen Stuhl heranzog, betrachtete er sie genauer. Ihr Gesicht wies auf eine osteuropäische Herkunft hin. Er hatte auch einen schwachen Akzent in ihrer Stimme bemerkt, den er allerdings nicht deuten konnte. Die unerwartete Besucherin ließ sich auf dem Stuhl neben seinem Bett nieder und lächelte ihn an.
„Entschuldigen Sie vielmals, dass ich hier so hereinplatze. Mein Name ist Jolana Kubina. Ich arbeite für Tydenik Gol. Das ist ein tschechisches Sportjournal.“
Bohms Kopf sank auf das Kissen.
„Sie sind Reporterin? Wie haben Sie mich hier gefunden? Man hat mir versichert, dass niemand außerhalb dieser Klinik weiß, dass ich hier bin.“
Sie lächelte erneut.
„Ramon, ich darf Sie doch Ramon nennen? Ich bin nicht einfach nur Reporterin, ich bin eine verdammt gute Journalistin. Deshalb habe ich auch ohne große Probleme herausgefunden, wo Sie behandelt werden. Ich hätte mich gern mit Ihnen unterhalten. Nur ein paar kurze Fragen, dann bin ich wieder verschwunden. Versprochen!“
Sie zückte ihr Smartphone und tippte auf dem Display herum. Er beobachtete sie dabei und erwog für einen kurzen Moment, nach der Schwester zu klingeln. Wenn er in seiner jetzigen Situation etwas überhaupt nicht wollte, dann Interviews geben. Das hatte er schon immer gehasst. Aber irgendetwas war es heute anders. Er verwarf den Gedanken und atmete tief durch.
„Na gut, wenn Sie schon mal hier sind… Wo sagten sie kommen Sie her? Tyden…?“
„Tydenik Gol. Aus Prag. Das ist die Hauptstadt von Tschechien.“
„Sie werden sich wundern, aber das weiß ich. Ich war sogar mal dort. Eine wunderschöne Stadt!“
„Danke! Unser Blatt ist spezialisiert auf Fußball und Eishockey. Ich berichte aus Nordamerika.“
Jetzt musste Bohm lächeln.
„Interessant! Eine Frau, die über Eishockey schreibt.“
Sie legte ihr Smartphone auf seine Bettdecke.
„Ich komme aus einer hockeyverrückten Familie. Mein Bruder Jakub spielt in Russland und mein Vater Vaclav…“
„Ist Trainer bei den Detroit Red Wings. Ich habe ihn sogar einmal persönlich kennengelernt. Netter Kerl. Aber als Coach soll er knallhart sein. Sehen Sie, Jolana, so klein ist die Welt.“
Eine geschlagene Stunde plauderten sie über Eishockey, gemeinsame Bekannte und schließlich fragte sie nach seinen Zukunftsplänen. Ramon Bohm hob die Schultern.
„Das weiß ich noch nicht. Okay, finanziell muss ich mir keine Sorgen machen. Sagt zumindest mein Manager. Aber ich brauche noch eine Idee für ein sinnvolles Leben nach dem Eishockey.“
Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, stand mit einem Male ein großgewachsener graubärtiger Mann im Zimmer. Mit seinem Hut und dem roten Tuch um den Hals wirkte er wie ein Cowboy. Jolana schaute überrascht zu ihm auf.
„Sie sind doch Gerry Myers, der Filmproduzent, richtig?“
Der Besucher lachte dröhnend und zeigte mit dem Finger auf Ramon Bohm.
„Ramon, alter Freund. Wer ist denn das? Deine neue Freundin? Du hast mir noch gar nichts von ihr erzählt!“
Ramon setzte sich aufrecht ins Bett und schob sich das Kissen hinter den Rücken.
„Das ist Miss Kubina. Sie hat es doch tatsächlich geschafft, mich hier ausfindig zu machen. So wie du offensichtlich auch. Haben die draußen ein Bild von mir aufgehängt oder wieso weiß die ganze Welt, dass ich hier liege?“
Wieder dröhnte Myers Lachen durch den Raum.
„Ich habe einfach deinen alten Herrn angerufen und gefragt. Schließlich mache ich mir doch Gedanken um meinen Expeditionspartner.“
Jolana fuchtelte mit den Händen.
„Einen Moment. Wollen Sie damit andeuten, dass Ramon schon mal mit Ihnen unterwegs war?“
„Nicht nur einmal, Schätzchen. Er ist ein geborener Kameramann und hat zudem eine Filmausrüstung, um die ihn jedes Fernsehteam beneidet. Sie sollten mal sehen, wie unser Held hier mit einer Drohne umgeht. Der steuert sie direkt in den Hintern eines Grizzlybären und ebenso unbeschadet wieder hinaus.“
Bohm winkte ab.
„Er übertreibt wie immer. Aber ich war wirklich schon ab und zu mal mit ihm unterwegs. Und glauben Sie mir, es ist nie langweilig.“
Myers schaute sich die junge Frau nun etwas genauer an.
„Entschuldigen Sie meine Neugier, Lady. Woher stammen Sie? Aus Russland?“
Sie schüttelte heftig den Kopf.
„Aus Tschechien.“
Er schaute ungläubig.
„Ehrlich jetzt? In die Gegend plane ich meine nächste Expedition. Ich will im Oktober in die Hohe Tatra. Dort soll es noch Wölfe und Bären geben. Die will ich gern sehen.“
„Das ist aber in der Slowakei. Meine Mutter stammt von dort. Ich bin als Kind viel mit meinem Großvater in den Bergen gewesen. Die Region kenne ich ziemlich gut.“
„Vielleicht sollte ich Sie engagieren. Wenn unser Held hier bis dahin wieder fit wird, kann er uns ebenfalls gern begleiten. Wie sieht es aus, Champion?“
Ramon Bohm hob die Schultern und wies auf sein Bein.
„Ich gebe mir Mühe.“
Gerry Myers erhob sich und streckte der Journalistin die Hand hin.
„Das will ich hoffen. Bis dahin werde ich erst einmal mit meiner neuen Bergführerin hier essen gehen und ihr Honorar drücken.“