Читать книгу eXtRaVaGant * Mond oder Sonne - Leona Efuna - Страница 10

Оглавление

[00]

Lieblingsmensch

Alles auf Anfang.

Ich habe keine Lust auf die tausend Raketen am Himmel, wenn das Silvesterfeuerwerk heute Abend über Boston stattfindet. Diese Lichter bringen mich dazu, an sie und den Horror der letzten Tage zu denken.

Mein Leben kann man sich vorstellen wie ein Dominospiel. Eine Reihe düsterer Ereignisse, die unmittelbar hintereinanderstehen. Kommt eines davon in Schwung, bricht alles in sich zusammen. Dominoreaktion.

Alles hat mit diesem Typen angefangen.

Nein, nicht mit meinem Typen. Es war ihr Typ. Sie ist intelligent, ­humorvoll, das schönste Mädchen, das ich kenne, meine beste Freundin und mein Lieblingsmensch. Robyn ist ihr selbst gewählter Vorname.

Robyn.

Die, die nicht den Mund hält, wenn jemand etwas sagt, das ihr nicht passt.

Die, die sich im Matheunterricht die Nägel feilt und aus dem Fenster den Zwölftklässlern auf den Kopf spuckt, wenn sie über die Mädchen lästern, mit denen sie gestern noch hinter der Schule rumgeknutscht haben.

Die, die sich jeden Morgen auf dem Mädchenklo sieben Zigaretten dreht, während wir zusammen russische Rapper imitieren und ganze Memecompilations nachspielen.

Die, die sich im Französischunterricht selber Ohrlöcher sticht, weil ihr gerade danach ist.

Die, die während Klassenarbeiten die ganze Formelsammlung unter ihrem Minirock auf den Oberschenkeln stehen hat.

Die, wegen der jedem Typen die Kinnlade runterklappt, wenn sie ­lächelt.

Die, die souverän und für alle anderen verwirrend ihren Style ändern kann, ohne je in eine Schublade zu passen.

Weil sie Robyn ist.

Die, die auf Partys zwar nie mit den coolen Kids chillt, aber trotzdem immer wieder von ihnen eingeladen wird, damit Jungs aus den höheren Stufen auch kommen.

Mädchen, Jungs – Robyn hätte alle haben können.

Und dann erzählte sie mir blind vor Liebe von ihm. Das war sonst eigentlich gar nicht ihre Art. Das Blind-vor-Liebe-Sein, meine ich. Sonst war sie immer durchschauend, hat die Typen nach ein paar Wochen gekonnt abserviert. Sie servierte jeden ab. Wäre ich ein ehrlicher und kein gefühlsbedachter Mensch, würde ich sagen, Robyn war eine Herzensbrecherin, die zu ihren Gunsten mit den Gefühlen anderer spielte. Aber sie stellte es verdammt gut an. Normalerweise.

Steven. Das war der Name, den sie seit einiger Zeit öfter in den Mund nahm als die Planung unserer nächsten Auftritte. Sie zeigte mir Fotos von ihm und ihr, erzählte, wie sie ihn in der Bahn ansprach und er dann total süß nach ihrer Nummer fragte. Das war am ersten Novem­ber, am zehnten waren sie ein Paar. Sie stellte ihn mir vor, er war wirklich süß, sie passten perfekt zusammen. Robyn ist eher ein extravaganter, flippiger Typ. Ihre von Natur aus hell­blonden Haare haben bestimmt schon alle Farben dieser Welt gesehen.

Im November waren sie zu einem kinnlangen Bob geschnitten und kaugummirosa. Den ganzen Monat lief sie mit einer riesigen glitzernden silbernen Haarspange darin herum.

Im Gegensatz zu Robyn trägt Steven einen Nullachtfünfzehn-Haar­schnitt und Main­stream­klamotten. Wie Robyn hat er blonde Haare und blaue Augen, nur vom Typ etwas dunkler. Er wirkte insgesamt weniger naiv als Robyn.

Nicht, dass sie das war, das sagte nur ihr äußeres Er­schei­nungs­bild über sie aus.

Ich denke heute sogar, das war ihre Masche, um von anderen unterschätzt zu werden.

Er und Robyn waren sofort das Traumpärchen an unserer Highschool. So ziemlich jeder himmelte die beiden an.

Steven war eine Klasse unter uns und im Basketballteam. Ab diesem ersten November schleppte Robyn mich jeden Samstag und Sonntag zu den Spielen und danach zu den Partys mit.

Da meine und Robyns Mutter in der gleichen Ballettkompanie, dem Lincoln Square Ballet in New York City tanzten, bis wir in die neunte Klasse kamen, kennen wir uns schon, seit wir denken können. Wir mussten oft zusammen die Wohnorte wechseln und wenn unsere Mütter auf Tournee waren, habe ich bei meinem Dad gelebt und sie wurde zu Hause von Nannys betreut, weil ihr Vater ein viel beschäftigter Harvard-Professor ist.

Es war schon immer so, dass man Robyn nur lieben oder hassen konnte, etwas dazwischen gab es nicht, da sie unglaublich polarisierte. Man konnte sie schon fast als kleinen Star bezeichnen, wie sie da bei den Highschoolevents auf der Bühne stand, mit ihren bunten Haaren, den strahlend blauen Augen und der zierlichen Figur. Insgeheim habe ich sie immer beneidet, sie war der Inbegriff von Coolness. Deshalb stand ich in ihrem Schatten. Immer. Nichts konnte einen rebellischen Menschen wie Robyn überstahlen.

Robyn und ich liebten es mehr als alles andere, Straßenmusik zu machen, egal wo, egal wann. Von dem Geld, das wir von den Passanten bekamen, kauften wir Futter für das Tierheim in der Nachbarschaft und Bücher, die wir den Leuten im Altersheim vorlasen, weil es Robyns tiefster Wunsch war, Leute und Tiere glücklich zu machen, obwohl sie es mit Menschen unseres Alters meistens nur über kurze Zeit aushielt.

Es ging uns mit unserer Musik nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, es zu genießen. Zu lachen, tanzen, singen, ausgelassen sein. Sich befreien, sich retten. Und genau das mit anderen zu teilen.

Das war schon immer das, was Robyn und ich erreichen wollten. Damals in unserem Kindergarten unterhielt Robyn mit ihrem unvergleichlichen Humor die ganze Gruppe und wir träumten vom Popstarleben. Sie nahm Gesangsunterricht, nur vereinzelt, wenn sie gerade gut drauf war. Ich lernte von Dad Klavierspielen und probierte mich eine Zeit lang auch an anderen Instrumenten, von denen meine Mutter mir dringend abriet, da sie zu ihren Yogaübungen nur Klaviertöne und nicht das schrille Quietschen meiner Block­flöte ertragen konnte.

Wenn ich dann mal aus mir raus kam, hörte Robyn mir aufmerksam zu, ihre dünnen Beine mit den kunterbunt geringelten Kniestrümpfen übereinander geschlagen und die Nägel passend zum Lippenstift in Flieder, Apricot oder Ocker, je nachdem, wie sie aufgelegt war.

Überhaupt lief alles in ihrem Leben nach ihrer Laune. Wenn sie traurig war, schloss sie sich oft tagelang einfach nur ein und ließ niemanden an sich ran.

Aber wenn sie glücklich war, dann war die Welt ein bisschen besser, die Sonne schien.

Robyn meinte immer, ich hätte mehr Talent als sie und würde es nicht nutzen. Insgeheim fühlte ich mich gut, wenn sie so etwas sagte, und doch glaubte ich ihr kein Stück. Sie, die immer perfekt gestylt – ob absichtlich oder nicht – im Mittelpunkt stand, konnte doch nicht ernsthaft meinen, ich hätte mehr Talent. Das waren unbeschwerte Zeiten. Das war unser Lifestyle. Damals.

Robyn und Steven unternahmen auch viel zu zweit. Danach kam sie immer zu mir und erzählte mir, was Steven gesagt hatte. Wir kicherten wie Dreizehnjährige.

Sie demonstrierte mir, wie er ihre Hand hielt und welche Witze er mit welchem Gesichtsausdruck zum Besten gab. Ein paar Tage später bekam Robyn ihren heiß ersehnten Führerschein und nahm mich auf die erste Spritztour mit. Wir aßen Eis und lasen zusammen die neuste Ausgabe unserer Lieblingszeitschrift. Die Tage vergingen wie im Flug, oft waren wir zu dritt. Auf der Straße aber wie gewohnt zu zweit, es war eine unausgesprochene Regel, dass die Musik unser Ding war.

Dann waren sie einen Monat lang zusammen. Es war der zehnte Dezember, es schneite an diesem Tag zum ersten Mal. Durch das Fenster konnte ich Robyn sehen, sie drehte sich im Schneetreiben vor unserer Haustür, während ich drinnen die Handschuhe holte. Ich lese gerne meinen Tagebucheintrag von diesem Tag. Am Abend hatten Robyn und Steven ein Date. Er hat ihr danach seine Jacke geliehen, weil ihr kalt war, so richtig romantisch. Mit glühenden Wangen erzählte Robyn es mir am nächsten Morgen in unserem Lieblingscafé. Den Geschmack der heißen Schokolade und die Schneelandschaft, die wir durch das Fenster sehen konnten, werde ich nie wieder ver­gessen.

Am zwölften Dezember gingen Robyn und Steven auf den Weihnachtsmarkt in der Innenstadt. Sie aßen rosa Zuckerwatte und machten Selfies. Selfies, die einen Tag später ausgedruckt an der Innenseite ihrer Spindtür in der Highschool klebten. Auf Instagram hatte Robyn die zehntausend Follower geknackt. Sie war so ein richtiger Social-Media-Mensch, überall war ihr Handy dabei und ihre Fans waren geradezu süchtig nach ihren Beiträgen. Manchmal war ich auch auf den Bildern, fühlte mich aber meist fehl am Platz. Musik brachte ihr die meisten Abonnenten, egal ob die geposteten Songs gecovert oder unsere eigenen waren, Robyn musste nur den Mund aufmachen. Die Videos wurden legendär, selbst die Lehrer in der Schule sprachen uns darauf an und beglückwünschten Robyn. Mich nicht, es wusste ja niemand, dass wir alles zusammen erarbeitet hatten. Und das war auch gut so.

Am siebzehnten Dezember machten Robyn und ich einen Mädchen­abend. So richtig mit Gesichtsmaske und Johnny-Depp-Filmen. Wir stellten unter Kichern die Szenen nach und fraßen Schokolade bis zum Umfallen. Mom war nicht zu Hause, weshalb Robyn in unserem Wohnzimmer rauchte. Mir war es egal, solange meine Mutter nichts davon erfuhr. Sie traf sich nämlich mit ihrem neuen stinkreichen Lover. Richard oder Reinhold oder so. Sie traf sich eigentlich immer nur mit reichen Männern, das hat sie sich wohl nach meinem Dad angewöhnt. Robyn und ich sprangen im Wohnzimmer herum und sangen in voller Lautstärke zu P!nk, Nirvana, Queen und Avril Lavigne.

Dann färbte sie sich die Haare blau, das war am zwanzigsten De­zem­ber. Am Zweiundzwanzigsten gingen wir zusammen Weihnachts­geschenke kaufen. Sie hatte eine Überraschung für Steven geplant, was es genau war, wollte sie mir nicht verraten. Ich bohrte auch nicht weiter nach.

Am Dreiundzwanzigsten hatte Steven Geburtstag, seinen fünfzehnten. Er war ein Jahr jünger als wir, das sah man ihm aber nicht an.

Alle anderen hatten ziemlich viel intus und irgendwann waren Robyn und Steven nicht mehr auf der Party, das bekam ich nur neben­bei mit. Zur Sicherheit hatte ich mir wie immer ein Buch mitgenommen und glücklicherweise nichts getrunken, sodass ich mich, wie so oft auf Partys, mit dem Buch und einer Tasse Kaffee in die Toilette einschloss und begann, den penetranten Bass ausblendend, zu lesen. Bis es dann um fast drei Uhr an der Tür klingelte. Erst ignorierte ich es, war zu sehr von meiner Geschichte gefesselt. Irgendjemand öffnete die Haustür. Die schweren Schritte auf der Treppe nach oben verfolgen mich noch heute. Sekunden später klopfte jemand an die Klotür und ich riss sie auf.

Vor mir standen zwei Gestalten in schwarzer Polizeiuniform. Sie fragten, ob ich Raven Alice Obyn kenne.

Das ist Robyns richtiger Name.

Dann fragten sie nach Steven Bittner. An den Blick der Polizistin kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern gewesen. Ich sehe mich selbst vor mir, in dem weit ausgeschnittenen hellblauen Fummel von Robyn, den ich in dieser Nacht trug. Ihr war das Kleid zu groß, mir nicht. Blutroter Lippenstift und schmerzende Füße. Der funkelnde Haarreif auf meinem Kopf, das Buch in der Hand.

»Miss Obyn hat unerlaubt einen Fünfzehnjährigen Auto fahren lassen, sie hatten einen Unfall.«

Mein verwirrtes Ich fragte, wo sie jetzt sei.

»Im Krankenhaus. Raven Obyn liegt im Koma. Sie hatte einige Blätter in ihrer Handtasche, auf denen Ihr Name steht. Ihr Name ist doch Paige Courtney, nicht?«

Ich nickte unmerklich. Die Polizistin blätterte in ihren Unter­lagen und reichte mir dann einen Stapel Blätter, auf denen ich unsere Songtexte, Zeichnungen, Gitarrenakkorde und Klaviernoten erkennen konnte.

»Wissen Sie, was diese Blätter zu bedeuten haben? War der Ausflug der beiden geplant?«

Dieser Satz war wie ein Faustschlag, direkt in die Magengrube. Ich übergab mich auf meine High Heels.

Paige, Robyn liegt im Koma. Sie wird wahrscheinlich nie wieder aufwachen.

Etwas Ähnliches stand am nächsten Tag in der Zeitung. Da stand aber noch etwas, nämlich, dass der Fahrer davongekommen war, mit nichts weiter als ein paar Prellungen. Auf dem Titelbild war ein riesiges Foto von Robyn, ihm und mir. Robyn hatte genau dieses Bild immer wie einen Talisman bei sich getragen, zu der Zeit waren ihre Haare gerade frisch gefärbt und sahen demnach wirklich Bombe aus. Wir trugen denselben Concealer, weil Robyn an diesem Tag, wie so oft, spontan bei mir übernachtet hatte. Der Concealer passte nicht zu ihrem gebräunten Hauttyp, er war viel zu hell, was man in der Front­kamera des Handys aber nicht gut erkennen konnte. Ich sehe glücklich aus auf dem Bild. Robyn und ich schauen in die Kamera, Stevens Blick liegt auf Robyn. Ich seufze, als ich daran denke. Die Überschrift war missbilligend, stellte alles in einem falschen Licht dar, typisch Zeitung eben. Und da wundert man sich, warum die älteren Leute gegenüber uns Teenagern immer so viele Vorurteile haben. Zugegeben, das, was in dieser Nacht passiert war, konnte man nicht schönreden, auch wenn ich das in diesem Moment wohl mehr gebraucht hätte als die angsteinflößenden, schwarzen Lettern.

Partynacht endet für betrunkene

Sechzehnjährige im Krankenhaus

Der Tränenschleier, der sich in meinen Augen gebildet hatte, ließ mich nicht klar blicken.

Eines stand aber fest: Ihr Leben war mir genommen worden. Das Leben, welches mir als einziges wichtiger war als mein eigenes.

Koma setzte ich in diesem Moment mit Tod gleich.

Ich habe in meinem Leben bis jetzt nur schlechte Erfahrungen mit Komapatienten gemacht.

Mom hatte mir verboten, Robyn im Krankenhaus zu besuchen, bis ich mich etwas beruhigt hätte. Ich konnte also nichts tun, außer herumzusitzen, zu warten, hoffen, weinen. Heute weiß ich, was Freund­schaft bedeutet, und das nicht nur, weil die Bilder aus Robyns Spind nun eingerahmt auf meinem Nachttisch stehen.

Mom sagte es mir zwar nicht ins Gesicht, aber ich weiß ganz genau, dass sie nicht wollte, dass die depressive Verstimmung der Tochter der »ach so bekannten Künstlerin« an die Öffentlichkeit gelangte. Genau­so sehr aber wusste ich, dass Dad es Mom mehr als übel nehmen würde, falls er mitbekommen sollte, wie schlecht es mir gerade geht. Es ist ein stummes Versprechen, denn ich will das noch weniger als Mom.

Ich schreibe Robyn Briefe, erzähle ihr alles, was ich ihr sonst auch sagen würde.

Denn sie hat es nicht verdient, vergessen zu werden.

Sie ist meine beste Freundin, wenn auch meine einzige. Und vielleicht ist sie das auch, weil sie nicht eines dieser Klischee­mädchen aus ihren Büchern ist. Vielleicht, weil sie mir jeden Tag aufs Neue beweist, dass man auch ohne die traditionellen roségoldenen iPhones, die jedes Mädchen zum zwölften Geburtstag von Daddy spendiert bekommt, oder ohne Extensions und aufgeklebte Wimpern, mit denen heutzutage schon Zehnjährige durch die Straßen unserer Stadt spazieren, existieren kann.

Sie ist keines dieser Mainstreammädchen.

Robyn ist unter diesen knapp acht Milliarden Erdbewohnern mein Lieblingsmensch.

Denn das Geschehene ist nur ein Dominostein, der so viel in mir zum Kippen gebracht hat.

Ich versuche, die Zeit totzuschlagen und mir einzureden, dass sie eine Chance hat zu überleben, wenn auch nur eine unrealistische.

Aber was ist schon realistisch?

Robyn IST stark, DAS ist realistisch.

Niemals würde sie sich kampflos umhauen lassen.

Meine Hand mit dem alten Notenblatt fühlt sich taub an, als ich die Lines darauf in meiner krakeligen Viertklässlerinnenschrift zu entziffern beginne. Erinnerungen aus einem Kinderzimmer ­flackern auf.

eXtRaVaGant * Mond oder Sonne

Подняться наверх