Читать книгу eXtRaVaGant * Mond oder Sonne - Leona Efuna - Страница 19
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Nachtausflug
Ich schreibe Mom eine Nachricht, bringe meine leere Kaffeetasse nach unten und lasse Change von Lana Del Rey laufen.
Mein Lieblingslied.
Auch wenn ich es mit Robyn schon viel zu oft gehört habe, bekomme ich davon nicht genug.
Mit geschlossenen Augen sinke ich aufs Bett.
Irgendwann höre ich, wie die Tür aufgeht. Ich schlage meine Augen auf und nehme die Kopfhörer ab. Curtis steht in meinem Zimmer und hüpft hibbelig herum.
»Ich hoffe, du hast keine Amphetamine genommen«, sage ich belustigt und setze mich hin.
»Max hat angerufen, wir haben später ein Interview. Damian ist kacken, deshalb soll ich dir Bescheid sagen.«
»Curtis, zu viele Informationen.« Er lacht, zwinkert mir zu und geht wieder aus meinem Zimmer.
♫
Den Abend vertreibe ich mir mit Nirvana, einem Film und der Lektüre, die wir eigentlich letztes Jahr in der Schule hätten lesen müssen. Irgendwann klopft es an meiner Tür, ich weiß, dass das Marie sein muss. Sie betritt mein Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
»Hallo Paige«, begrüßt sie mich, und ich lege mein Buch beiseite.
Marie setzt sich auf mein Bett und sieht mich aus ihren hellgrünen Augen an. »Warum machst du keine Musik mehr?« Ihr Blick sagt mir, dass sie die DVD angesehen hat.
»Ich denke, ich bin nicht dafür gemacht, allein zu sein. Und ohne Robyn zu singen ist das einsamste Gefühl, das es gibt.«
Ohne Sonne kann ein Mond nicht leuchten.
Marie zieht mir die Decke über die Schultern und streicht über meinen Kopf. Ich schaue ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr schließt.
♫
»Wer ist da?« Du erschrickst, jemand hämmert gegen die Tür deiner verriegelten Toilettenkabine. Du packst eilig deine Brotdose und den dicken Schmöker, welchen du auf Wunsch von deinem Dad geschenkt bekommen hast, in deine Schultasche. Die Tasche geht nicht ganz zu. Erneut wird gegen deine Tür gehämmert:
»Wird’s bald?«
Panik steigt in dir auf, als du deine Tasche immer noch nicht zubekommst.
»Hast du deine Zunge verschluckt, oder was?«, fragt dich die Stimme vor der Kabinentür.
Du schüttelst hastig deinen Kopf, bis dir klar wird, dass du ja nicht gesehen wirst.
»Jane, du Flasche, tritt doch einfach die Tür ein!«, ertönt nun eine zweite Stimme. Du fängst an zu zittern, als du endlich deine Tasche schließen kannst und beide Riemen über deine Schulter ziehst. Deine Hand mit dem Freundschaftsarmband greift nach dem Türknauf.
Du schiebst ihn auf grün und bereust es im nächsten Moment.
Du wirst gegen die Tür geboxt, welche unter deinem schweren Gewicht zurückklappt, dein Körper landet unsanft auf den kalten Fliesen.
Vor dir stehen die drei Schlägermädchen.
»Wen haben wir denn da? Piggypaige. Kriegst du deine Skinnyjeans nicht zu?« Du rutschst reflexartig ein paar Zentimeter nach hinten. So weit, bis du die kalte Toilettenschüssel an deinem schweißnassen Rücken spürst.
Deine Schultasche ist dir von den Schultern gerutscht, du suchst tastend den Boden ab. Dein Blick wandert nach oben. Jane hält sie in ihren manikürten Fingern, hinter ihr steht Everly, das stärkste Mädchen aus deiner Stufe. Jane versenkt deine Tasche geräuschvoll im Mülleimer neben dem Waschbecken. Auf ihrer Wange kannst du die Reste eines Blutergusses erkennen und ihre Haare wirken, als hätte sich ein kleines Kind mit der Bastelschere ausgetobt. Du wimmerst, beißt aber dann deine Zähne zusammen.
Du weißt, dass es besser ist, keinen Ton von dir zu geben.
»Los, steh auf!«, meint die Brünette, deren Namen du nicht kennst.
Wäre Robyn hier, würden sie es bei fiesen Bemerkungen belassen, um nicht von der ganzen Stufe gehasst zu werden, weil Robyn das beliebteste Mädchen ist und jeder weiß, dass du ihre beste Freundin bist.
Als du dich nicht regst, packt Everly dich am Kragen und presst dich an die Toilettenwand. Du riechst ihren Mundgeruch und öffnest deinen Mund, um zu schreien.
Dich hört sowieso niemand.
Der erste Schlag trifft dich direkt aufs Auge.
Lös dich doch in Luft auf, iss nichts mehr, dann wirst du immer weniger, bis du schließlich nichts mehr bist.
Und
nie
wieder
etwas
fühlen
musst.
Alles verschwimmt.
Du öffnest deinen Mund.
Diesmal schreie ich wirklich.
Schnell atmend öffne ich meine Augen, bin viel zu geschockt, um zu weinen.
Angsteinflößende Dunkelheit umhüllt mich und ich versuche, mich zu beruhigen.
Suchend huscht mein Blick über die Wände.
Ich bin hier.
In meinem Zimmer.
Nicht dort.
Die Tür geht auf, ich schreie noch einmal. Draußen donnert und blitzt es, mein Atem geht schneller. Voller Panik rollt mir eine Träne über die Wange.
»Ich hab dich schreien gehört«, flüstert Curtis, und eine Sekunde später ist meine Nachttischlampe an.
Ich wimmere und streiche mir die klebrigen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Es ist nicht das Gewitter, oder?«, fragt er im Flüsterton und setzt sich auf die Matratze.
Ich schaue zu Boden und versuche, den Tränenfluss zu stoppen. »Manchmal hilft es, zu weinen, Paige Courtney.«
»Du hast Alyaska vergessen.« Er sieht mich fragend an.
»Mein Zweitname. Das heißt Alaska, wird aber russisch ausgesprochen.« Curtis grinst.
»Das passt nicht zum Rest«, sagen wir gleichzeitig und lachen, er kehlig und ich schniefend.
»Hast du einen Alptraum gehabt?«
Ich nicke zögernd. Es ist mir unangenehm, darüber zu sprechen.
»Hast du eigentlich kein eigenes Zuhause, oder warum bist du andauernd hier?«, frage ich ihn neckend, als ich checke, dass er eigentlich gar nicht hier sein müsste. »Unser Vermieter lässt in meinem Zimmer gerade irgend so ein beschissenes Rohr verlegen und da ist was schiefgelaufen.«
Ich schaue ihn an und denke darüber nach, wie es sein muss, immer nach Zimt zu riechen, mit siebzehn keine Eltern zu haben und in einer Musiker-WG zu leben.
Curtis führt ein komplett anderes Leben als ich.
»Bleibst du noch hier?«, frage ich nach einer Weile, in der jeder von uns seinen Gedanken nachgehangen hat.
»Wenn du willst.«
Im Licht meiner Nachttischlampe erkenne ich, dass Curtis wieder grinst, und ich tue es ihm gleich. Ich lege mich wieder hin und bin mir nicht sicher, wie die Situation weitergehen wird. Curtis hebt meine zu Boden gefallene Decke auf und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand.
Mein Blick ist an die Decke gerichtet.
»Wie spät ist es eigentlich?«, flüstere ich.
»Kurz nach zwei«, antwortet Curtis leise und schaut mich an.
Ich drehe mich zu ihm, denke nicht darüber nach, wie unwirklich diese Situation eigentlich ist.
»Bist du müde?«, fragt er mich, und ich bin über meine Antwort überrascht: »Nein, du?«
»Nicht wirklich.« Ich grinse und setze mich auf.
Im schummrigen Licht kann ich außer Curtis fast nichts erkennen.
»Gehen wir spazieren?« Er stößt sich von der Wand ab.
»Jetzt?«
»Ja, warum nicht?« Curtis sieht aus, als wäre er gerade dabei, einen witzigen Plan auszuhecken, und ich klettere aus dem Bett, während ich versuche, mein Lächeln zu unterdrücken.
»Wir müssen leise sein, Marie und dein Dad finden es sicher nicht so witzig, wenn sie merken, dass wir weg sind«, flüstert Curtis und ich laufe zu meinem Kleiderschrank, um mir Jeans und Hoodie anzuziehen, weil es draußen eiskalt sein muss.
»Könntest du dich … umdrehen?«, frage ich stotternd und höre im nächsten Moment Curtis’ tiefe Lache. »Ich sehe dich doch da drüben in der Dunkelheit sowieso nicht.«
»Trotzdem!«, flüstere ich und er dreht sich lachend um.
Wir schleichen uns wie Ninjas die Treppe runter und grinsen uns verschwörerisch zu, als wir durch den Hinterausgang in der Küche nach draußen verschwinden.
Es fühlt sich an wie der Anfang eines Abenteuers.
Draußen weht ein eisiger Wind und ich ziehe meine Jacke etwas enger um mich, als wir die Straße entlanglaufen. Hinter den gespenstisch wirkenden Bäumen höre ich entfernt das Rauschen vom Gerritsen Beach.
»Warum heißt eure Band eigentlich eXtRaVaGant?«, frage ich und lasse es so klingen, als wäre mir die Frage gerade spontan eingefallen, dabei denke ich seit gestern Nacht darüber nach, wie ich ihn das am besten fragen könnte.
Auf Curtis’ Gesicht schleicht sich ein belustigtes Grinsen.
»Haben Mädchen wie du nicht einen teuren Laptop, mit dem sie Begriffe und ihre Definitionen googeln können?«
Ich sehe ihn an. »Curtis, du vergisst, dass ich in Brooklyn und nicht in der Upper East Side lebe. Und mal ganz davon abgesehen will ich nicht irgendeine allgemeine Begriffsdefinition des Wortes ›extravagant‹.«
»Was dann, du Brooklyn-Mädchen?«
»Ich möchte wissen, was extravagant für dich bedeutet«, meine ich und bereue es direkt, so neugierig zu sein.
Jetzt schmunzelt Curtis.
»Das klingt jetzt vielleicht total unbesonders, aber wenn ich ›extravagant‹ höre, denke ich immer an alles, was nicht nullachtfünfzehn, nicht Mainstream, sondern sehr speziell und einzigartig ist. Ich möchte, dass die Musik, die wir machen, kreative Köpfe dazu bringt, nachzudenken und über sich hinauszuwachsen. Bei uns ist jeder willkommen, der bereit ist, allen Menschen mit Respekt zu begegnen. Dabei sind die Hintergründe wie Herkunft, Aussehen und so was völlig egal. Deshalb ist es mir megawichtig, dass sich unter den Menschen, die unsere Platten kaufen, niemand befindet, der Hass verbreitet, du weißt schon, kein Rassismus, keine Homophobie und ähnlicher Scheiß. Unsere Musik soll stärker sein als das.«
Curtis hält inne und bleibt vor einer Bar im Eighties-Look stehen.
Auf der Vorderseite prangt ein großes TheWayStation in Leuchtbuchstaben. Um uns herum Dunkelheit.
»Das ist mein Lieblingsort«, sagt Curtis leise.
Als wäre mein Leben ein Film, ziehen urplötzlich Szenen von Robyn und mir auf einer Bühne an mir vorbei. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
»Schneewittchen, du siehst aus, als wäre ein Verrückter hinter dir her.« Curtis wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum.
Drinnen erhellen Neonlichter den Raum. Unschwer erkenne ich eine Bar, verschiedene Stühle, Sessel und Nischen. An den Wänden und der Decke sind viele Scheinwerfer angebracht. Ich versuche auszumachen, wohin wir gehen, aber zu viele Menschen nehmen mir die Sicht.
Und dann sehe ich unzählige Blicke, die auf Curtis ruhen, und höre die Stimmen der Mädchen, die versuchen, leise zu reden, es aber nicht schaffen.
»Da steht Curtis Moore.« Ich drehe mich in Richtung der leisen Stimmen, woraufhin mich ein kleines Mädchen schüchtern anlächelt. Meine Mundwinkel heben sich. Ich drehe mich wieder zu Curtis um und folge seinem starrenden Blick, der auf etwas oder jemanden in der Menge gerichtet ist.
»Scheiße.« Mit leerem Blick wendet sich Curtis zu mir.
»Ich werde Alec sagen, dass er dich hier wegbringen soll«, ist das Letzte, was ich von ihm höre. Ich taumle verwirrt ein paar Schritte nach hinten und halte mich am Tresen fest.
Jemand tippt mir auf die Schulter und ich drehe mich um. Vor mir steht ein junger Mann, in der rechten Hand hält er eine Kabeltrommel, in der linken Hand ein MacBook. Er hat Augen, die ich keiner bestimmten Farbe zuordnen kann, da sie alle enthalten, und mittelbraune, streichholzlange Haare.
»Du bist Paige, oder?«, fragt er und lässt mir nicht genug Zeit zum Antworten.
»Du bist die Einzige, die einen Haarreif trägt und aussieht wie Schneewittchen. Wir müssen hier weg.«
»Moment mal: wir?« Ich sehe ihn verwirrt an.
»Curtis hat gesagt, ich soll dich mitnehmen.« Er nickt in Richtung Ausgang und ich entscheide mich, ihm zu folgen.
»Und wohin gehen wir?«
»Ich erzähle dir alles während der Fahrt.« Der Typ hält mir eine knallgrüne Autotür auf und ich steige ein.
»Ich bin Alec, die helfende Elfe der Band.« Er steckt den Schlüssel ins Zündschloss und fährt aus der Parklücke. Ich schmunzle über seine Ausdrucksweise. »Du bist echt mit ihnen befreundet?«
Alec lacht. »Schätzchen, ich bin ihr bester Freund!«
»Du hat gesagt, du würdest mir erzählen, wo wir hinfahren?« Er nickt und kommt an einer roten Ampel zum Stehen, bevor er mich anschaut. »Ich muss später noch telefonieren, deshalb lasse ich dich gleich wo raus. Wichtig ist, dass du genau das machst, was ich dir jetzt sage.« Er legt eine dramatische Pause ein und sieht mich eindringlich an.
An uns ziehen Brooklyns Häuser vorbei und die Gegend ist mir vollkommen fremd.
»Du kannst nicht durch den Besuchereingang gehen. Wenn du aussteigst, läufst du durch die Einfahrt in den Hinterhof und dann musst du die Feuertreppe hoch bis ins oberste Stockwerk steigen. Dort kommst du in einen Gang und am Ende siehst du eine Tür mit einem Zahlenfeld. Hol mal schnell dein Handy raus und tipp dir den Code für das Zahlenfeld ein.« Ich greife in meine Jackentasche, entsperre mit zitternden Fingern mein Handy und notiere den Code.
»Wir sind da, schönes Mädchen. Später hole ich dich wieder ab.«
Schönes Mädchen? Hat der dich mal angeschaut?
Ich muss schlucken. Als Alec den Motor ausmacht und aussteigt, sammle ich mich kurz, bevor ich meine Autotür ebenfalls öffne. Draußen dämmert es bereits und auf dem Gras kann ich noch den Frost erkennen.
Ich schaue die Straße entlang und sehe eine Reihe historischer, typischer New-York-City-Häuser. Direkt vor mir ragt ein etwas heruntergekommenes Haus empor, dessen verrostete Eingangstür eine feine Verzierung erkennen lässt, die vor vielen Jahren sehr schön ausgesehen haben muss.
Ich drehe mich zu Alec um, der sich mit dem Handy am Ohr immer weiter vom Wagen entfernt, wende mich wieder nach vorn, seufze und laufe durch die Einfahrt.
Im Hinterhof sind einige Wäscheleinen gespannt und die Feuertreppe, die ich hinaufsteigen soll, ist schon etwas rostig, weshalb ich mich am Geländer festhalten muss, um nicht auszurutschen. Man sieht meinen Atem in der Kälte. Oben angekommen, drehe ich mich um und schaue auf die ersten Strahlen der aufgehenden Wintersonne, die den Himmel in ein Meer aus vielen verschiedenen Rot-, Orange- und Rosatönen taucht.
Ich fröstle, als ich mich wieder umdrehe und sehe, dass der Gang durch ein weiß-rotes Band und ein Schild, auf dem in großen Lettern EINSTURZGEFAHR steht, abgesperrt wird.
Als ich über das Absperrband steige, klopft mein Herz auf einmal unglaublich schnell.
Was machst du hier eigentlich, Paige?
Dann hebe ich den Kopf und sehe sie. Die Tür am Ende des Ganges.
Ich bewege mich auf sie zu. Stehe am Ende des Flurs. Es riecht modrig. Zitternd tippe ich die Zahlenfolge ein. Mit einem Summen springt die Tür auf. Mein Blick huscht herum.
Und dann fange ich an zu schreien.
Ganz laut.