Читать книгу eXtRaVaGant * Mond oder Sonne - Leona Efuna - Страница 13

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[01]

Krankenhausrosen

Das letzte Mal habe ich Robyn vor eineinhalb Wochen gesehen. Eine viel zu lange Zeit.

Kaum etwas mehr als zweihundertundsechzehn Stunden.

Das sind zwölftausendneunhundertundsechzig Minuten.

Und zum ersten Mal gebe ich die Stunden nicht in meinen Taschen­rechner ein, sondern mache Striche. Bei jedem einzelnen seufze ich und starre auf ihn, als wäre er mein eigenes Todesurteil.

Vielleicht ist das auch so.

Ich schlucke meine Tränen runter, schlürfe an meinem Kaffee und starre hinaus in die Dunkelheit.

Wenn du einmal anfängst zu heulen, kannst du nicht mehr damit aufhören.

In diesen Tagen läuft My Chemical Romance bei mir auf und ab, in nicht enden wollender Dauer­schleife. Es gibt mir den Rest, wenn ich Geralds Stimme durch die Kopfhörer in mich aufnehme.

For every failing sun,

there’s a morning after,

though I’m empty when you go.

Ich vermisse sie so unendlich.

Erster Januar.

Heute ist der Tag, an dem ich Robyn im Krankenhaus besuchen werde.

Ich warte, bis Mom mich ruft. Da ich weiß, dass sie es in den nächsten Minuten tun wird, weil sie will, dass ich zum Essen rüberkomme. Die Uhr an meiner Wand tickt laut im Takt zu meinem stoßenden Atem und dem schnellen Herzschlag.

»Paige? Es gibt Frühstück!«

Schwerfällig erhebe ich mich aus meinem Bett, taumle ein paar Schritte, weil mir schwarz vor Augen wird, und halte mich an der Wand fest.

»Paige, alles okay?«, ruft Mom besorgt.

Nichts ist okay.

»Ja …, ja. Ich komme!« Ich versuche, überzeugend zu klingen, mein Herz klopft schnell, als ich langsam einen Fuß vor den anderen setze und vorsichtig die Wand loslasse.

Du lügst sie an, ohne mit der Wimper zu zucken, Paige.

Ich kneife meine Augen zusammen, als die Stimme in meinem Kopf immer wieder laut meinen Namen sagt.

»Ich hab Obstsalat gemacht. Das liegt nicht so schwer im Magen und hat auch nicht so viele Kalor-«, fängt sie an, aber ich unterbreche sie.

»Mom. Hör auf. Ich mache das nicht mit Absicht.«

Ich schiebe meinen Haarreif wieder an Ort und Stelle, massiere mir die Schläfen und lasse mich geräuschvoll auf einen der Stühle plumpsen.

»Du vermisst sie sehr, oder?«

Du versuchst zwar schon seit Tagen, mich in die hintersten Ecken deines Gehirns zu verbannen, aber ich bin immer noch hier und werde dich nicht wie alle Menschen um dich herum mit Lügen einlullen.

Alle Gefühle befreien sich und wirbeln in mir herum. In meinem Kopf herrscht kreischendes Chaos.

Ich verschlucke mich an meinem Löffel. Wie aus dem Nichts laufen mir Tränen über die Wangen und ich komme mir vor wie ein unfähiges Kleinkind, als ich mich schließlich hustend zum Mülleimer be­gebe und alles hinauskotze.

Du würdest lügen, würdest du behaupten, es ginge dir danach nicht besser.

»Hör auf, so zu übertreiben, Paige!« Mom steht auf und stemmt die Arme in die Seiten.

Ich sehe sie entgeistert an.

»Du sagst, ich soll nicht übertreiben? Robyn liegt im Koma! Sie wird wahrscheinlich nie wieder aufwachen, hör auf mit deinen Fragen. Was willst du denn hören? Denkst du, ich vermisse sie nicht, denkst du, es geht mir am Arsch vorbei, dass sie nicht hier ist? Denkst du, dass ich jetzt so tun werde, als ginge es mir gut, nur weil du meinst, ich übertreibe?«

Mittlerweile stehe ich tränenüberströmt an der Küchentür und schreie, vor Wut, vor Trauer. Mom starrt mich nur mit weit aufgerisse­nem Mund an und dann rollt ihr eine Träne über die gepuderte Wange.

Was Emotionen betrifft, ist sie noch nie sonderlich einfühlsam gewesen.

Wenn Mom merkt, dass ich traurig bin, macht sie mir für gewöhnlich umgehend klar, dass ich sie zu sehr mit meinen Launen belaste und sie meine Teenageremotionen nicht ertragen kann.

Ich bewundere Mom.

Anders als all die anderen Leute aus meiner Klasse und deren Eltern haben wir immer eher etwas wie Zickenkrieg oder Schwestern-Hass­liebe.

Zwischen uns gab es nie dieses typische, liebevolle Mutter-Tochter-Gefühl.

Für Mom ist es zu unlogisch, mich zu behandeln, als wäre ich ein weniger vollständiger Mensch, weil ich jünger bin. Ich wusste schon immer, wie es um uns steht. Es geht in unseren Gesprächen um das Geld auf dem Konto oder um Moms nächste Tournee, um meine Noten oder meine Klamotten.

Rationales eben.

»Hingehen?« Ich weiß, dass sie damit das Krankenhaus und uns beide meint.

Eigentlich wäre es mir lieber, das alleine zu machen, aber ich weiß, dass Mom recht hat.

In diesem Moment brauche ich sie, auch wenn ich mir das nicht eingestehen will. Ich gehe hoch in mein Zimmer und versuche, etwas mit meinen Haaren anzustellen. Dabei sehe ich fast so verbissen aus wie Robyn, wenn ihre Haare nicht so wollen wie sie.

Du denkst zu oft an sie.

Wir sitzen im Auto, die Motorgeräusche beruhigen mich, auf eine komische Art und Weise.

Ich schlürfe an meinem Coffee-to-go und setze meine Sonnen­brille auf, als wir aussteigen.

Wir betreten das Krankenhausgebäude und laufen über einen sonnengelben Linoleumboden, der wahrscheinlich eine aufmunternde Wirkung besitzen soll, meine Stimmung aber nicht gerade verbessert. An der Rezeption sitzt eine rothaarige Frau mit spitzer Nase und eckiger Brille.

›Mrs. Smith‹, lese ich vom Schild ab.

»Wir wollen zu Raven Obyn«, fällt Mom sofort mit der Tür ins Haus. Die Rothaarige nickt eilig und klickt sich dann durch das System.

»Ihr Name?« Sie redet näselnd und blickt mit zusammengekniffenen Augenbrauen auf den Bildschirm.

»Anastasia Stanislavovna Smirnova, Ravens Patentante, und Paige Alyaska Courtney«, meint Mom und Mrs. Smith nickt, bevor sie uns Robyns Zimmernummer gibt und schwach lächelt.

Wir laufen durch die Gänge und meine Gedanken driften ab. Robyn versteht sich mit meiner Mom super, aber aus ihrer Mutter werde ich nicht richtig schlau. Ihr Name ist Audrey und sie ist Tänzerin, genau wie Mom spezialisiert auf Ballett. Sie lernten sich damals kennen, weil Mom und sie beide in die Kompanie des Lincoln Square Ballets aufgenommen wurden.

Von außen betrachtet ist sie hübsch und sie tanzt wirklich perfekt, aber ihr Herz muss ein merkwürdiger Ort voll von unergründlichen Gefühlen sein.

Eigentlich sollte man solche Menschen nicht schön finden.

Ihr schrilles »Raven Alice« hat sich wie ein Brandzeichen in meinen Kopf geprägt. Sie ist der einzige Mensch, der Robyn bei beiden Vornamen ruft.

Ich zittere, als ich vor Robyns Tür stehe, die Klinke runterdrücke und einen letzten Blick auf Mom werfe, die barfuß, mit den pink lackierten Zehen wackelnd, auf einem Stuhl neben dem Zimmer sitzt und Candy Crush spielt, daneben fein säuberlich ihre silbernen High Heels. Die zieht sie grundsätzlich aus, sobald sie sich hinsetzt. Ich schließe meine Augen für einen winzigen Moment und atme tief durch.

Mom haucht ein: »Yeah!« und grinst wie eine Irre den leuchtenden Bildschirm an.

Als ich den ersten Schritt in Robyns Krankenhauszimmer setzen möchte, stolpere ich fast über ein Mädchen, das gerade dabei ist, mit ihrem Rollstuhl den Raum zu verlassen.

Zuerst fallen mir die kupferroten Haare auf, die ihr in Wellen über die Schultern fallen bis zur Taille. Dann sehe ich die Sommersprossen, die über ihr ganzes Gesicht verteilt sind, sie hat eine kleine Stupsnase, große Augen und ihre langen dunklen Wimpern werfen lange Schat­ten auf ihre Wangen.

Auch wenn sie gerade aussieht, als wäre sie tief in Gedanken versunken, weiß ich, dass sich beim Lächeln Grübchen in ihren Wangen bilden werden. Sie sieht mich für einen kurzen Moment an und dann schaue ich ihr nach, wie sie mit ihrem Rollstuhl durch den Gang davonrollt, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.

Ich husche ins Zimmer und schließe die Tür hinter mir.

Der Raum ist weiß, ganz das Krankenhauszimmer eben. Ich lasse mich geräuschlos neben Robyn aufs Bett sinken und nehme ihre Hand in meine, betrachte unsere nebeneinanderliegenden Freund­schaftsarmbändchen. Robyns blau, meins lila.

Die blauen Haare sind wie ein Fächer um ihren Kopf verteilt, ihre Haut ist nur ein wenig blasser als sonst und die Lippen leuchten rosa.

Es fühlt sich falsch an, hier zu sitzen und nichts tun zu können. Ihre Zehennägel blitzen unter der Bettdecke hervor, sie sind weiß lackiert.

Auf dem Nachtkästchen steht ein Strauß mit roten, penetrant riechen­den Rosen. Ich niese.

Fast höre ich Robyn »Gesundheit!« sagen.

Erwartungsvoll sehe ich sie an, ihre sperrige Atemmaske ist beschlagen. Auf ihrer Wange, mit den fein gezeichneten Wangenknochen, bilden sich lilafarbene Flecken und Blutergüsse ab. Übelkeit steigt in mir auf, ich niese wieder.

Höchst wahrscheinlich bin ich gegen die Blumen allergisch.

Mir kommt es vor, als würde sie schlafen, nicht als läge sie im Koma. Ich drücke Robyns Hand, hoffe, sie öffnet ihre Augen und lacht mich aus, dass ich ihr das alles abgekauft habe.

Sie bleiben zu.

Egal wie sehr ich ihre Hand drücke, das blaue Freundschafts­arm­band anschaue und wie oft ich ihr mit dem Kamm durch die Haare fahre und wie laut die Autos draußen hupen, als ich das Fenster öffne und die Scheißrosen hinauswerfe.

Ihre Augen bleiben, verdammt noch mal, trotzdem zu.

Es vergeht eine Stunde, bis Mom an die Tür klopft und mir sagt, ihr Akku sei leer. Ich seufze und verabschiede mich von Robyn, fast bin ich erleichtert, als ich das unrhythmische Piepen des Monitors neben ihrem Bett nicht mehr ertragen muss. Es fühlte sich ganz und gar nicht so an wie die normalen Treffen mit Robyn, irgendwie, als hätte ich dieses Mal einen anderen Part eingenommen.

Beim Hinauslaufen rollen mir unaufhörlich Tränen über das Gesicht.

Die ganze Rückfahrt schweigen Mom und ich uns an.

Zu Hause angekommen, kocht sie mir eine heiße Milch mit Honig und bedeutet mir, mich an den Küchentisch zu setzen.

Irgendetwas stimmt an dieser Situation nicht.

Und damit meine ich nicht nur ihre gefälschten Swarovski-Ohrringe.

»Paige, Devushka. Ich muss mit dir reden.«

Wusste ich es doch. Ich spiele nervös mit meinen Händen herum. Es liegt etwas in der Luft und ich kann nicht deuten, was es ist.

»Ich halte dein Herumhängen und Desozialisieren langsam nicht mehr aus.«

Darauf antworte ich nichts, sehe Mom einfach nur stumm an.

»Wenn du nichts dazu sagen willst, auch gut. Also, es gibt zwei Optionen: entweder, du kommst in eine psychiatrische Klinik oder zu deinem Vater nach Brooklyn, so lange, bis Robyn wieder aufwacht oder es dir besser geht.«

Sie weiß selbst, dass Robyn mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nicht auf­wachen wird.

Gegen meinen Willen bringe ich keinen Satz heraus. Bleibe einfach nur stumm und versuche, den Kloß in meinem Hals loszuwerden.

»Dad«, krächze ich schließlich in die Stille.

»Okay, pack deine Sachen, wir werden früh losfahren. Die Highschool in Brooklyn, auf die du bei deinem Vater gehen wirst, fängt zum Glück erst am achten Januar wieder an.«

Es heißt wohl Abschied nehmen, obwohl ich in diesem Moment gerne laut schreien würde, so laut, dass die Gläser im Schrank zerspringen, so laut, dass unser Haus explodiert, in tausend splitternde Einzelteile.

Ich tue es nicht. Warum auch, es würde seinen Zweck vollkommen verfehlen.

Und plötzlich ist mir alles egal. Mein Leben wird sich auch bei Dad nicht ändern, so viel ist sicher.

Ich stürme in mein Zimmer, knalle die Tür hinter mir zu, die laut ins Schloss kracht, und setze mich schnell atmend an meine Schreib­maschine.


Boston, Massachusetts

01. Januar

Robyn,

im Karton mit deinen Sachen, die du vor einem Jahr in meinem Zimmer unter der kleinen Luke verstaut hast, weil deine Mom unseren Musikkram noch nie befürwortet hat, sind immer noch alle Songtexte und Ideen, die wir jemals zu Papier gebracht haben. Sie sind Erinnerungen an längst vergangene Zeiten und Orte. Wir haben überall geschrieben.

Unzählige Backstageräume.

Unzählige Kinderzimmer.

Unzählige Ballettsaalecken.

Unzählige Gedanken.

Ich will sie nicht ansehen.

In dem Karton ist alles, was mir jemals etwas bedeutet hat. Unsere sechs Jahre alten Briefe aus der Zeit, in der ich bei Dad wohnte und du den Nannyhorror hattest. Unsere DVDs und die vielen Fotos, die sich mit der Zeit angesammelt haben, alle Zeichnungen aus dem Kunstunterricht in Alabama, Kalifornien oder Arizona. So viele Erinnerungen an dich.

Du wogst immer fünf Kilo weniger als ich, obwohl wir genau gleich groß sind. Ich wiege jetzt genau so viel wie du, auch wenn ich weiß, dass du nie gewollt hättest, dass es mir schlecht geht.

Ohne dich ist die Erde ein beschissener Ort.

Erinnerst du dich an deine Blumenkind-Songs? Es waren keine richtigen Songs, du machtest nur Reime aus Wörtern, die dir in den Sinn kamen, und ich liebte es, Robyn.

"Always be happy, you’re a frickin’ flower child. Never be sad, shine bright, heal the world with your light."

Ich war zwar nie ein Blumenkind, meine Definition für Hippie, aber ich liebte deinen Singsang genau so sehr wie unsere Gesangseinlagen mitten im Unterricht, bis selbst die Lehrer schmunzelten.

Ich weiß nicht, ob es dir bewusst war, aber du brachtest Leute oft zum Schmunzeln. Alleine hätte ich mich Dinge, wie im Unterricht zu singen, niemals getraut.

Ich bewege genau in diesem Moment meine Lippen und forme die Wörter in meinem Kopf.

Wie kann man einen Menschen so sehr vermissen wie ich dich? Weißt du noch, wie du immer sagtest: "Baby, als deine dich liebende beste Freundin sage ich dir jetzt, dass ich eine wunderbare Überraschung für dich habe"?

Ich hasste deine wunderbaren Überraschungen, weil ich in diesen Überraschungen immer mehr im Mittelpunkt sein musste, als mir lieb war, und weil sie meistens darauf hinausliefen, dass ich mit dir auf der Bühne stand und irgendetwas "klimpern" sollte, wie du es nanntest.

In solchen Momenten nanntest du mich "Baby", ich lachte darüber und wir flochten uns witzige Frisuren zu

dröhnend

lauter

Musik.

Goodbye

Paige

eXtRaVaGant * Mond oder Sonne

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