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2.4. Bewusstseinsindikatoren
ОглавлениеIndividuelles Bewusstsein und Individuum schließt Unteilbarkeit ein, denn Individuum heißt lateinisch ungeteilt. Tatsächlich steht der missliche Zustand unseres Bewusstseins, das nicht in der Lage ist, die Welt und die in ihr lebende Kreatur als Einheit zu erkennen, hinter all den verzweifelten Versuchen, endlich ganzheitlich wahrnehmen zu können. Einem solchen »noch nicht Individuum« können die Bewusstseinsdiagramme aufzeigen, in welcher Richtung die Individuation gehen müsste. Auf dem Weg sind orientierende Feedbacks sehr nützlich, da sie den Suchenden sowohl Illusionen als auch Selbsttäuschungen aufzeigen, mögliche Krisen vermeiden lassen und sie auf dem eingeschlagenen Pfad unterstützen.
Solche Indikatoren sind bei ausreichender Selbstkritik und Ehrlichkeit unbestechlich. Ein überzeugend erklärtes Horoskop, eine Enneagramm-Struktur oder auch ein Tarotblatt können Suchenden zweifelsohne Hinweise sowohl zu ihrem aktuellen Bewusstsein wie auch zu dessen weiteren Fortentwicklung geben.
Bewusstseinsentwicklung bildet sich – nicht automatisch gleichmäßig – auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene ab und kann individuell untrüglich wahrgenommen werden. Körperlich feststellbar sind beispielsweise Heilungsprozesse, die Stabilisierung der Gesundheit, das Öffnen der Chakras und wie sich die Sichtweise auf die Außenwelt wandelt. Die seelischen Veränderungen führen zu größerer Gelassenheit, im Geist ist das langsame Versiegen des Gedankenflusses und der Träume erkennbar. Da die meisten dieser Veränderungen zwar langsam, aber stetig erfolgen, ist eine hohe Aufmerksamkeit erforderlich, um sie überhaupt zu erkennen. Andererseits ist die erhöhte Aufmerksamkeit ein zusätzlicher Indikator für die sich vollziehende Bewusstseinsentwicklung. Die Häufigkeit, mit der z. B. jemand ungewollt irgendwo anstößt, in Hundekot tritt oder Geschirr fallen lässt, stellt eine wunderbare Indikation der mangelnden Präsenz dar.
»Der Ochse und sein Hirte« ist ein Zen-Geschichtchen aus dem frühen chinesischen Buddhismus und versinnbildlicht – je nach Überlieferung – in 8 oder 10 Bildern und Merksätzen den Fortgang einer Bewusstseinsentwicklung.{14} Mit der Suche nach dem Ochsen, dem Finden der Ochsenspur, dem Finden des Ochsen, über das Zähmen, Reiten, Vergessen des Ochsen bis zur vollkommenen Leere, sind schon alle Meilensteine eines spirituellen Weges im 12. Jahrhundert erfasst worden. Diese alten Bilder geben auch heute dem ehrlich Suchenden das perfekte Feedback zu allen Schritten seines Weges. Wir heutigen Westler haben allerdings wenig Bezug zu Geschichten von Ochsen, Hirten und Schafen. Solche in Insider- Kreisen viel zitierten Bilder gehören zu einem frühen Bewusstseinsstand der Menschen, der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurückliegt und genau wie die christlichen Gleichnisse nicht mehr unmittelbar verständlich sind. Sie bedürfen unbedingt einer zeitgemäßen Interpretation. Kaum ein modern interpretierender Theologe, Satsanglehrer – oder auch Léonard – zählen Hirten und Bauern zu ihren Bekannten. Ihr Wissen stammt von der Universität, weshalb ihre Interpretationen von analogen Sachverhalten auch entsprechend anders klingen.
Modernen Gehirnforschern gelingt es zwar, Wahrnehmungen einer Testperson mit bestimmten Aktivitäten und Frequenzmustern im Gehirn zu korrelieren. Daraus aber Entscheidendes über das Wesen des Bewusstseins abzuleiten, scheint weiterhin unmöglich. Léonard kombiniert seine eigenen Erfahrungen mit Ergebnissen der Neurowissenschaften im Abschnitt Neurophilosophie.
Vom heiligen Franziskus wird erzählt, er hätte mit den Tieren sprechen können, ähnliches wird von Indianern überliefert. Léonards Erinnerungen an »Kommunikation« mit Schmetterlingen werden dabei wach, die damals beim Zelten an einem wilden Bergbach begannen, mit ihm zu »spielen« und sich immer wieder auf ihm niederließen.
Später, in Rajneeshpuram, einem ziemlich magischen Ort, ist er einmal zwei amselartigen Vögeln in einen etwas abseits gelegenen Sumpf gefolgt, die sich durch ihr Gezwitscher und aufgeregtes Umherfliegen bemerkbar gemacht hatten. Da stand er dann im übermannshohen Schilf im knöcheltiefen Wasser und wusste nicht mehr weiter. Die beiden »Lockvögel« neben ihm in fast greifbarer Distanz ruhig wartend, doch wieder loskreischend, sobald sich Léonard in irgendeine Richtung zu bewegen begann. Nach einigem Rätseln kauerte er sich nieder – da waren sie, etwa ein halbes Dutzend frisch geschlüpfte Wollbällchen, die zwischen den Schilfrohren umherflitzten. Tief berührt und unbehelligt durfte Léonard daraufhin den Schilfplatz verlassen. Solche Erlebnisse waren für Léonard deutliche Bestätigungen für die Richtigkeit seines Weges.
C. G. Jung{15} hat den Begriff der Synchronizität geprägt für zeitlich korrelierende Ereignisse, welche zeitnah aufeinander erfolgen, aber nicht kausal miteinander verknüpft sind. Während ein »Normalbewusstsein« solche Begebenheiten als Zufall abhakt, bekommen sie für Suchende eine äußerst wertvolle Bedeutung, denn die Zunahme der Häufigkeit solcher Synchronizitäten bestärken sie in der Korrektheit ihres Tuns.
Aus dem Zen stammt die uralte Übung des Atemzählens, das völlig unabhängig vom jeweiligen Zeitgeist bleibt. Normalerweise bereitet es keine großen Schwierigkeiten, diese Übung in ihren einfachen Formen auszutricksen. Léonard hat das damals in seiner eigenen Meditationspraxis schnell begriffen: Atemzählen und gleichzeitig den Gedanken nachhängen, war nicht wirklich schwierig. Das Zählen passierte völlig automatisch und benötigte kaum Aufmerksamkeit. Das änderte sich erst, als er begann rückwärts zu zählen oder noch wirksamer im hexadezimalen Zahlensystem dem Atem folgte. Dass es Léonard gelang, eine ganze Zazen-Sitzung hexadezimal fehlerfrei durchzuzählen, war der eine Punkt, aber im warmen Bett liegend wach dem Atem ebenso zu folgen, erwies sich als außerordentliche Herausforderung. Welch Wohlgefühl, nachdem auch dies endlich gelang! Nur gibt es leider innerhalb der Bewusstseinsentwicklung kein Ausruhen auf den Lorbeeren, die fehlerfreie Sitzung heute bedeutet keineswegs ein Gelingen morgen, denn auf dem Spiegel setzt sich permanent Staub ab.