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1. Aberglaube
Als Protestanten in einem katholischen Umfeld bekam Léonards Familie in der Mitte des letzten Jahrhunderts immer wieder deutlich zu spüren, dass sie einem Aberglauben nachlebte. Heutzutage sind Evangelische und Reformierte in der Schweiz immerhin als christliche, religiöse Gemeinschaften akzeptiert. Das Christentum ist diesbezüglich exemplarisch: Der verkündete Glaube der eigenen kirchlichen Ausrichtung ist wahr: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, und niemand kommt zum Vater denn durch mich«.{2} Alle Andersgläubigen hängen folglich einem Aberglauben an, dem nur durch Bekehrung (oder Terror?) entgegengewirkt werden kann. Kompliziert wird das Ganze, weil dies nicht nur nichtchristliche Kirchen, sondern die meisten christlichen Kirchen und Sekten voneinander glauben, so gesehen gibt es nur Aberglaube. Und als Folge dessen gibt es – mehr oder minder versteckt, manchmal auch als Toleranz kaschiert – eine Gewalt, welche immer wieder in den interreligiösen Beziehungen sichtbar wird.
Vom Aberglauben ausgenommen ist selbstverständlich der zweifelsfrei wahre Glaube der eigenen Gemeinschaft, nur leider haben die Andersbekennenden diesen einfachsten Sachverhalt bisher nicht erkannt. Mit gesteigerten Bekehrungsanstrengungen, ein bisschen mehr Einsicht der Anderen und der gütigen Unterstützung des angerufenen Gottes, Allahu Akbar z.B. müsste es doch gelingen, die ganze Menschheit zum richtigen Glauben zu bekehren.
2. Agnostik
Die Anhänger dieser philosophischen Schule meinen von sich selbst, gegenüber religiösen Fragen eine reife, humanistische Haltung einzunehmen. Die Frage »Gibt es Gott?« beantwortet ein Agnostiker nicht eindeutig mit »Ja« oder »Nein«, sondern mit »Ich weiß es nicht« oder »Es ist nicht geklärt«. Dass der Agnostiker nicht wagt, eine klare Stellung zu beziehen und die üblichen Gottesbilder als abstruse Vorstellungen zu entlarven, ist allein seiner mutlosen Anpassung und der meist christlich geprägten Toleranz zuzuschreiben.
3. Allegorie
Allegorie bedeutet griechisch »etwas anders ausdrücken«. Eine der schönsten allegorischen Geschichten ist für Léonard die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies, nachdem sie sich von der Schlange verleiten ließen, den Apfel vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen.{3} Wie hätte einem ungebildeten Nomadenvolk dieser doch so eigenartige Sachverhalt blumiger vermittelt werden können? Wie konnte es geschehen, dass die Menschen auf dem Planeten Erde in einen Zustand gerieten, der sie unglücklich macht und sie sich von all den übrigen Lebewesen so deutlich unterscheiden?
4. Alles
Alles umfasst alles, einfach wirklich alles. Alles ist TOE: Theory of Everything, die Theorie von Allem, wie dies wissenschaftlich korrekt bezeichnet wird. Materielles und Immaterielles, Sichtbares und Unsichtbares, Entdecktes und (noch) Unentdecktes, das ganze Universum, einfach ALLES. Als Wissenschaftler möchte Léonard auf das logische Problem aufmerksam machen: Gott steht per Definition für ALLES, er ist ja der Schöpfer von Allem, aber A L L E S umfasst offensichtlich auch den Schöpfer von Allem.
4.1. Allah
Verantwortlicher für ALLES, für muslimische Gläubige.
4.2. Gott
Verantwortlicher für ALLES, für christliche Gläubige.
4.3. Jahwe
Verantwortlicher für ALLES, für jüdische Gläubige.
4.4. Manitu
Verantwortlicher für ALLES, für Native Americans, früher Indianer genannt.
4.5. Shiva
Verantwortlicher für VIELES, für hinduistische Gläubige. Hindus haben sinnigerweise für verschiedene Aspekte verschiedene Götter: Brahma, Vishnu und Shiva. Bemerkenswert, und in vielen indischen Tempeln sichtbar, sind die Kombinationen der Symbole für Shiva und seiner Gattin Shakti, der Davidstern und die Swastika, das Hakenkreuz! Léonard fragt sich, ob es nur ein Zufall ist, dass 5000 Jahre später fast die gleichen Symbole von Nazis und Juden verwendet wurden und wenigstens von letzteren auch heute noch?
5. Anarchie
Anarchie steht am Ende jeder erfüllten spirituellen Reise. Wo denn, wenn nicht in der gänzlichen Unabhängigkeit, in der Abwesenheit von jeglicher Herrschaft sollte die Befreiung von allem sonst enden? Léonard kann es nicht genügend betonen: Jede erfüllte spirituelle Suche muss in der Anarchie enden. Nur hat diese Anarchie mit der politischen, bombenwerfenden gleichnamigen wenig zu tun. Wie erfüllte Suchende mit Anarchie umgehen, kann an vielen Beispielen verfolgt werden: Meistens setzen sie sich in einen bequemen Sessel und erzählen ihren Zuhörern und Zuhörerinnen, was es mit der Befreiung auf sich hat. Manche haben sich in die Einsamkeit der Berge und Wälder zurückgezogen und verzichten weitgehend auf den Kontakt mit ihren Mitmenschen, auch dies eine Form der Anarchie.
6. Angst
Angst ist die Antithese von Liebe. Wo Angst ist, kann keine Liebe sein, wo Liebe ist, muss Angst abwesend sein, genauso, wie es sich zwischen Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht verhält, Zwielicht und Dämmerung sind dabei nur vorübergehende Zwischenzustände, vergleichbar mit einem bewusstseinsmäßigen Dämmerbefinden.
Intuitive Angst bewahrt uns vor akut gefährlichen Situationen und kann für das Überleben entscheidend sein. Dagegen werden die »normalen« irrationalen Ängste durch innere Widerstände gegenüber dem, was ist, erzeugt und haben mit einer existenziellen, lebenssichernden Angst nichts zu tun. Im Spannungsfeld zwischen dieser unnötigen Angst vor verlorener Kontrolle, vor Neuem, vor dem großen Unbekannten, und der sinnvollen Angst vor realen Gefahren bewegen sich spirituell Suchende.
Jeder Schritt zu höherem Bewusstsein ist mit Angst verbunden, die Angst ist geradezu ein Indikator dafür, dass man sich in die richtige Richtung bewegt. Das Ego versucht um jeden Preis die Kontrolle zu behalten, und jeglicher Kontrollverlust erzeugt Angst.
Matthäus schreibt{4}: »Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.« Nach Lukas hat Jesus wieder ins Vertrauen zurückgefunden: »in deine Hände befehle ich meinen Geist!«{5}
Die letzten Zuckungen des Egos sind mit höchster Todesangst verbunden und setzen ungeahnte Energien frei, welche äußerlich und innerlich zu großen Verheerungen führen können. Doch schließlich gelingt der Durchbruch in Angstfreiheit und Liebe, Krishnamurti nennt es »Einbruch in die Freiheit«.{6}
7. Astrologie
Sie ist eine häufig genutzte Pforte in die Welt der Irrationalität. Vertreter dieser Zunft würden sich wahrscheinlich gegen diese Aussage verwahren, denn sie kämpfen seit Jahrzehnten für die wissenschaftliche Anerkennung ihrer Theorien. Auch Spiritualität und Religion sind Systeme, welche versuchen, auf die hinter allem liegende irrationale – oder richtiger – arationale Transzendenz hinzuweisen. Diese Funktion kann die Astrologie häufig viel unbelasteter erfüllen, weshalb auch im Curriculum Vitae Spiritualis das Geburtshoroskop von Léonard alias Swami Annapurna abgebildet ist. Gesunde Skepsis gegenüber der Deutung von Horoskopen ist ebenso wichtig wie ein klarer Kopf auf dem esoterischen Basar mit all seinen kommerziellen Auswüchsen{7} oder im Umgang mit religiösen Dogmen. Léonard weiß leider auch nicht, wo es sich ganz ohne deren Einflüsse leben ließe.
8. Atheismus
Léonard wagt die Provokation im eigenen Lager: Atheist sein bedeutet, dass das Konzept Gott auch nicht richtig verstanden wurde, – »auch«, weil die meisten Religiösen an der gleichen Krankheit leiden. Der Atheist hat sich zwar vernünftigerweise von den weit verbreiteten religiösen Gottesbildern – der Herr mit dem Vollbart aus der Sixtinischen Kapelle – gelöst, aber auch seine Nicht-Gott-Vorstellung ist kaum besser. Ohne den Theismus der Religionen käme kein vernünftiger Mensch auf die Idee eines Atheismus. Der Glaube der Atheisten ist rein reaktiv und verrät eine ähnliche Bewusstseinsstruktur wie jene der religiösen Gottesgläubigen; beide verharren in dualistischem Denken.
9. Auferstehung
Die letzte große Erfahrung auf dem spirituellen Weg ist in der christlichen Lehre völlig missdeutet worden. Sie ist keinesfalls nur Jesus Christus und Maria oder bestimmten Heiligen vorbehalten. Solange in den gängigen exegetischen Vorstellungen verharrt wird, kann der allegorische Aspekt der christlichen Auferstehung nicht erkannt werden.
Nach der Aufgabe aller Widerstände – »in deine Hände befehle ich meinen Geist« – stirbt, verschwindet oder löst sich das menschliche, individuelle Ego auf. Was daraufhin geschieht, ist nicht voraussehbar, sofern das Ego nicht wieder reaktiviert wird, was bedauerlicherweise meist passiert. Die Auferstehung, auch Erlösung genannt, ist die geistige Wiedergeburt, welche in die Mystik führt und mit dem physischen Tod nichts zu tun hat.
Weil die christlichen Kirchen jedoch auf ihrer Sichtweise beharren, versäumen sie bis heute die tiefere Erkenntnis, dass östliche und westliche Vorstellungen durchaus vergleichbar sind: Auferstehung, ewiges Leben, geistige Wiedergeburt im Westen, Samadhi, Nirwana, Moksha im Osten. Diese Bewusstseinszustände sind für alle Menschen erreichbar, darin sind sich alle spirituellen Schulen einig.
10. Ausbeutung
Menschen haben ihre Mitmenschen zu jeder Zeit ausgebeutet, meist materiell, sexuell, häufig auch mental oder emotional. Wir nennen das Sklaverei – ausgebeutet werden immer jene, die sich nicht wehren können, Minderheiten, gesellschaftlich und sozial Benachteiligte, besonders aber Frauen und Kinder.
Spirituelle Gemeinschaften sind geradezu prädestiniert für eine Kultur der Ausbeutung, denn ohne Hingabe und völlige Akzeptanz durch die Adepten gibt es ja kein spirituelles Wachstum. Sie sind die Paradiese für all diejenigen, deren Testosteronspiegel von Zeit zu Zeit überschwappt, deren Zölibat nicht zur Sublimierung des Sexualtriebes führte, oder für jene, die mit ihren hetero-, homo-, pädo- oder sonstigen »philischen« Gefühlen nicht zurande kommen.
Abhilfe zu schaffen, dürfte schwierig sein, eine bessere GRP (Gute religiöse Praxis) ist vielleicht am dringendsten empfohlen.
Sexuelle Ausbeutung wird häufig erst Jahre später öffentlich gemacht, wenn Scham dies überhaupt zulässt. Viele Opfer sexueller und anderer Übergriffe können die institutionelle Dimension ihres Einzelschicksals gar nicht erkennen und bleiben ihrer Kirche weiterhin treu verbunden. Das übersteigt jegliche Vorstellung Léonards und zeigt eindringlich die Co-Abhängigkeit von Opfer und Täter und die ungeheure Macht der Institutionen.