Читать книгу Späte Gegend - Lida Winiewicz - Страница 10
ОглавлениеDer Tag hat früh angefangen, auch für uns Kinder. Die Mutter ist noch früher aufgestanden. Wenn sie uns geweckt hat, ist sie schon aus dem Stall gekommen.
Stallarbeit war anders als heute. Anders geworden ist sie durch den elektrischen Strom.
Heute führen Förderbänder den Mist weg, ein Druck mit der Schnauze, und die Kuh trinkt, wann sie will, man setzt die Saugglocken an, schaltet ein, die Maschine melkt und die Milch fließt in Behälter auf Rädern, die sich leicht hin- und herschieben lassen.
Unsere Mutter hat alles mit eigener Kraft tun müssen: Futter schneiden, Wasser tragen, ausmisten, füttern, melken, Milchkannen schleppen und so weiter. Sie hat pro Kuh, wenn sie flink war, und unsere Mutter war flink, eine halbe Stunde gebraucht. Drei Kühe waren’s, also war sie vor halb sieben nicht zurück.
Fürs Kühebesorgen hat sie manchmal ein Stück Butter gekriegt. Wir hätten diese Butter am liebsten aufs Brot getan, stattdessen haben wir sie gegen Brot eingetauscht. Brot war für uns wichtiger.
Das Aufstehen hat flott gehen müssen. Bei sechs Kindern gibt’s viel zu tun. Die Größeren haben sich um die Kleinen angenommen: waschen, anziehen, Morgengebet.
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, zu uns komme dein Reich (darunter hab ich mir nichts vorstellen können), dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden (»Wille« hab ich auch nicht verstanden), gib uns heute unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, führe uns nicht in Versuchung (»Versuchung«, hab ich gedacht, hat was mit Suchen zu tun, man betet drum, nichts zu verlieren, weil alles so teuer ist), sondern erlöse uns von dem Übel (Übel war meinem Bruder geworden beim Heuen, ein Sonnenstich, und da hatte es geheißen: »Rudl, nimm dich zusammen und flenn nicht!«).
Das Waschen war schnell geschehen: Gesicht und Hände. Sonst nichts. Wasser war knapp: Jeder Kübel musste hereingeschleppt werden. Zähneputzen war nicht üblich.
Angezogen waren wir bald. Es war nicht viel anzuziehen: Kittelkleid, Schürze. Schluss. Mehr hab ich die ersten sechs Jahre meines Lebens nicht angehabt.
Die erste Leibwäsche hab ich zum Schulegehen gekriegt. Eine Hemdhose, so ein Modell gibt’s nicht mehr: Arme voran, so ist man hineingestiegen, und jemand anderer hat sie am Rücken zugemacht.
»Hussenant« hat das Ding geheißen.
Die Mutter hat uns gekämmt. Das war nötig. Wir hatten Läuse.
Alle Kinder waren verlaust. Auch viele Erwachsene. Es hat in St. Oswald sogar einen Herrn Doktor gegeben, Hipflinger hat er geheißen, zu dem haben sich die Leute ohne Läuse nicht hingetraut. »Wen die Läuse nicht mögen, der bleibt krank!«, hat der Doktor Hipflinger gesagt.
Die Mutter hat das nicht geglaubt. Sie hat uns jeden Morgen ordentlich durchgekämmt, und wenn wir geweint haben, hat sie noch fester angerissen.
»Flenn nicht!«, hat sie oft gesagt. Wenn sie was nicht gemocht hat, dann Wehleidigkeit. Den Kamm hat sie in Petroleum getaucht, obwohl es uns dann gefehlt hat am Abend in der Lampe.
Sie wollte uns so sauber wie möglich, hat unsere Haare täglich zu schönen Zöpfen geflochten und oft bis spät in die Nacht an unsern Kleidern geflickt, immer wieder, drunter und drüber, so lang, bis manche Stücke nichts als lauter Flicken waren.
Wenn wir gewaschen, angezogen, gekämmt und gelaust waren, hat es in der Stube Frühstück gegeben. Kaffee mit was dazu. Von Kaffee hat das Gebräu den Namen gehabt, sonst nichts. Erfunden hat es die Mutter.
Es sind damals – heute wohl auch, nur kümmert sich niemand drum – wilde Ähren gewachsen (»wilde Ähren« haben wir dazu gesagt), versprengtes Getreide. Roggen, Hafer, Gerste, Hirse. Wir haben die Halme gepflückt, die Körner herausgelöst, auf der Herdplatte geröstet, gemahlen und aufgebrüht. Dazu hat die Mutter manchmal Feigenkaffee getan, nicht immer, den musste man kaufen, und da war die Frage: Was ist heut’ das Wichtigste? Brot? Zucker? Salz? Essig? Öl? Petroleum? Feigenkaffee?
Ich glaub’, die Mutter hat die Dinge abgewechselt, wie man’s mit den Feldern tut – ein Jahr dies, ein Jahr das, ein Jahr brach. Hat es Zucker gegeben, dann kein Brot; war Brot, dann kein Feigenkaffee, und so weiter und so weiter.
Die wilden Ähren waren noch zu etwas anderem gut: einer Art Fladenteig. Da haben wir die Körner gemahlen, mit Wasser vermengt, gesalzen, geknetet, gebacken. Diese Fladen haben wir gegessen, wenn’s kein Brot gegeben hat.
Manchmal haben wir gar nichts gegessen.
Ich erinnere mich an einen Tag, da hat die Nachbarin gesagt: »Heute ist eure Mutter flennert nach Haus gegangen.« (»Flennert« heißt, sie hat geweint.) Sie hat gewusst, zu Haus sitzen fünf hungrige Kinder und sie bringt nichts zu essen mit.
Trotzdem waren wir nicht die ärmsten. Es hat ärmere Kinder gegeben. Wir waren arme Kinder, bestimmt, aber wir haben gewusst, die Eltern mögen uns.
Arm waren die unehelichen! Für die war das Leben die Hölle. Niemand wollte sie. Niemand hat sich richtig um sie gekümmert. Auch der Herr Pfarrer nicht. Die Großen haben diese Kinder geschlagen und herumgestoßen. Wir auch, Gott verzeihe mir’s! Wir haben’s nicht besser verstanden.
Die Saudirn beim Bachecker, die hatte ein lediges Kind, vielleicht drei Jahre alt, das ist von früh bis spät hinterm Herd gehockt, auf einem Fetzen, fast nackt, niemand hat es geputzt, nur manchmal, da hat die Bacheckerin einen Kübel Wasser genommen und über das Kind geschüttet.
Es hat nicht einmal mehr geweint.
Ich hab mir über das Kind keine Gedanken gemacht. Dabei hat »unehelich« für mich nicht einmal was Bestimmtes bedeutet.
Landkinder, heißt es, sind frühreif, sehen, wie der Stier die Kuh, der Hengst die Stute bespringt.
Ich hab mit sechs, sieben Jahren die Ziegen zum Bock geführt – es hat nur einen gegeben, für alle Ziegen in der Gegend, er hat gottserbärmlich gestunken und seinem Besitzer jährlich ein schönes Stück Geld eingebracht – und mir nichts gedacht dabei.
Wenn die Mutter entbunden worden ist – nach mir sind die Brüder gekommen –, hat man uns aus dem Haus geschafft, rechtzeitig mit Wehenbeginn, und wenn man uns wieder geholt hat, war das neue Kleine da.
Wir haben keine Fragen gestellt. Fragenstellen war nicht üblich. Die Großen haben auch nichts gefragt.